Atmen vs. Essen

Immer deutlicher zeigt sich ein Konflikt zwischen Essen und Atmen

Jörg Ossenkopp
4 min readMar 5, 2023
Three philosophers breathing, by Giorgione, oil painting, by Stable Diffusion [CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication]

Wir müssen atmen und wir müssen essen, um zu überleben. Atmen und Essen sind zwei der menschlichen Grundbedürfnisse, notwendig für unser Überleben als Individuen und als Spezies. Da macht es keinen Unterschied, wenn diese Notwendigkeit eine überraschende Spannbreite aufweist. Der menschliche Organismus kommt bei Hochleistungssporttauchern bis zu 24 Minuten ohne Sauerstoffzufuhr aus, nach unserem Wissen hielt es im letzten Jahrhundert ein Mann ein ganzes Jahr ohne zu essen aus. Normalerweise tritt Hungertod und Ersticken für uns deutlich früher ein, nach ein paar Wochen des Hungerns und nach wenigen Minuten ohne Sauerstoffzufuhr. Die selbstverständliche Tatsache, dass beides, Atmen und Essen, für uns die Voraussetzung unseres Überlebens darstellt, verdeckt die recht neue Situation, dass wir mit unserer Nahrungsherstellung unsere Zufuhr von Atemluft gefährden, und dass beide damit in ein antagonistisches Verhältnis geraten. Es ist ein Konflikt entstanden zwischen dem Atmen und der Art und Weise, wie wir unser Essen organisieren, der erst langsam in unser Blickfeld gerät.

Atmen und Essen sind zwei lebenswichtige Praktiken, deren Ausgestaltung überhaupt Kultur von den Anfängen an ausmacht. Atmen funktioniert sowohl bewusst gesteuert, somatisch, als auch vegetativ, ohne bewusste Steuerung. Essen ist der Antrieb für unsere somatische Bewegung, und in der Beschaffung wie in der Herstellung eine soziale und kulturelle Praktik, der Großteil der eigentlichen Nahrungsaufnahme nach dem Kauen ist jedoch ganz vegetativ. Der steuerbare und damit formbare Anteil von Atmen und Essen ist der, der in unseren unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Formen annimmt. Andererseits sind die vegetativen Anteile der beiden eben genau nicht jene, die uns in den Konflikt von Essen und Atmen geführt haben.

Während in der chinesischen Tradition ein ausdifferenziertes System von Atemtechniken existiert, Qigong (und natürlich auch in der indischen), weist die frühgriechische Kultur nur Spuren von der Wichtigkeit des Atmens auf, nicht zuletzt in der Herkunft des Wortes für Seele, Psyche, das vom Atmen herstammt. Es mag noch Atemtechniken im frühgriechischen Schamanismus geben, deren Spuren verwischen sich jedoch nach dem Pythagoreismus. Ab den ersten griechischen Philosophen spielt die Atmung keine zentrale Rolle mehr in der griechischen Kultur. Schon bei den Pythagoreern ist mit dem Vegetarismus die Ausgestaltung des Essens wichtiger als irgendeine Ausgestaltung des Atmens.

Die drei Philosophen (Giorgione) Quelle

In der Bibeltradition finden sich mehrere Wörter, die mit Seele übersetzt werden können: Ruach ist der Wind, der den Atemhauch des Seelischen nahelegt, Nefesch ist das Vitale, der Schlund, durch den auch der Atem geht, vor allem jedoch das Essen. In der jüdischen Tradition werden keine Atemtechniken überliefert, nur im Kulturkontakt mit dem Osten tauchen sie vereinzelt auf. Und in der christlichen Tradition kann man höchstens die Gesangs- oder Gebetskultur — und das auch nur indirekt — als Atemkultur zählen.

Diese Atemvergessenheit erklärt vielleicht die begeisterte Aufnahme von Yoga in Europa und den USA. Diese Atemvergessenheit erklärt vielleicht zudem, wie es insbesondere im atlantischen Kulturraum zu einer Überformung der Kulturformen des Essens kam. Der globale Kapitalismus ist nicht nur in den Manufakturen Norditaliens entstanden, sondern auch und vielleicht mehr noch in den portugiesischen Zuckerplantagen auf Madeira im Atlantik, die ein ganz neues System von Landwirtschaft errichteten, das sich in der Folge im atlantischen Raum durchsetzte. Madeira soll im Zuge der Brandrodung ab 1420 sieben Jahre gebrannt haben, eine riesige rauchende Fackel im Atlantik, die vielleicht als erste den kommenden Konflikt des Essens und Atmens anzeigte.

Madeira brennt auch 2011 [CC BY-SA 3.0] Quelle

Unser Atmen geschieht im Planetarischen, wir können nur atmen aufgrund erdgeschichtlicher biologischer Entwicklungen, die vor 3,5 Milliarden Jahren begannen, die den Planeten Erde als Ganzes umfassen und die ihn von den anderen Planeten, Venus und Mars zum Beispiel, differenzieren. Veränderungen, die das Atmen betreffen, wie zum Beispiel der Anstieg des CO2-Gehalts der Atmosphäre betreffen uns Sauerstoffatmer alle in ähnlicher Weise, über das Menschliche hinaus gehend, “mehr als menschlich”. Unser Essen dagegen entsteht im Globalen, frühe kolonialistische Theoretiker der Globalisierung wie John Locke verbanden das Recht auf exklusive Landeigentumnahme mit der Arbeit des Nahrungsanbaus. Das Globale entstand Dipesh Chakrabarty zufolge aus der menschlichen Perspektive dieser allumfassenden kapitalistischen und kolonialistischen Vereinnahmung. Wenn wir unsere kulturellen Praktiken des Essens die gleiche Richtung nehmen lassen wie in den letzten 600 Jahren, insbesondere mit der Brandrodung, dem Artensterben und der immer großflächigeren verdinglichenden industriellen Tierhaltung, riskieren wir ein Überschreiten von Tipping Points und damit einen Zusammenbruch der planetarischen Systeme der Sauerstofferzeugung, der Grundlage unseres Atmens. Das alles gilt es auch in unserer kulturellen Praxis der Philosophie zu reflektieren, die Ausarbeitung entsprechender Prinzipien sind da ein probates Mittel.

CO2-Partikel pro Millionen Partikel gemessen auf dem Mauna Loa. Quelle

Das eigene Zusammenleben, darin die Ausformung der Befriedigung unserer Grundbedürfnisse so zu gestalten, dass sich existenzbedrohende Widersprüche ergeben, ist nicht klug. Wenn wir auf unserem billigen Fleisch beharren und deshalb keine Luft mehr bekommen, so war das vorher absehbar und verhinderbar. Wenn wir dagegen mehr auf das Atmen im Planetarischen achten, verlängern und verschönern wir unser Leben. Die Wahl erscheint einfach. Aber wenn es tatsächlich einen Konflikt zwischen Atmen und Essen gibt, müssen wir eine Wahl treffen.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership