Die Form unserer Zeit

Jörg Ossenkopp
4 min readMay 24, 2022

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Wenn man sagt, Philosophie „ist ihre Zeit in Gedanken erfasst“, kann das von wenigstens drei Präzisierungen profitieren:

  1. Worin besteht die Rolle des Possessivartikels „ihre“, mit anderen Worten, was ist die Zeit der Philosophie?
  2. Wie muss Philosophie verfasst sein, damit sie von Zeitlichkeit verändert werden kann? In nuce: sie muss ein Ensemble philosophischer Akte sein, das historisch unterschiedlich konfiguriert und konfigurierbar ist.
  3. Die Zeit selbst fokussierend: wie sieht das Zeitumfeld des Philosophierens aus, das philosophisch in Gedanken erfasst wird? Was ist die Form unserer Zeit?

In der Ideengeschichte finden sich durchaus unterschiedliche Formgebungen der Zeit, der Deutlichkeit halber kann man ein paar von diesen kurz skizzieren. Dann wird man sogleich feststellen, dass sich unter diesen Formvarianten zudem unterschiedliche Skalierungsgrößen finden. Der größte Maßstab wäre hier die Form der Zeit überhaupt. Die alten Griechen gingen davon aus, dass die Zeit insgesamt zirkulär ist, die Form eines Kreises hat, Nietzsche griff das wieder auf mit seiner Ewigen Wiederkehr, in der alles exakt so, wie es geschieht, wiederkehrt. Das Christentum dagegen geht von einer Zeitform aus, die einen Anfangspunkt hat, die Schöpfungsgeschichte, einen Mittelteil der vom Anfangspunkt eine Linie zieht, auf der wir uns bewegen, hin zu einem Endpunkt, der Apokalypse. Die Historiographie thematisiert schon nicht mehr die Zeit überhaupt, sie teilt die Zeit in einem kleineren Maßstab ein in Vorgeschichte und Geschichte und letztere wiederum in Altertum, Mittelalter und die Neuzeit, die bis heute und seitdem sich diese Einteilung durchgesetzt hatte auch mindestens bis jeweils morgen andauerte. Zwar wurde ein Ende auch der Geschichte in den späten 1990ern diskutiert, doch inzwischen wirkt das unplausibel. Rousseaus Einteilung der Zeitalter unterscheidet den anfänglichen Zustand der Gleichheit unter Jägern und Sammlern und einsetzend mit dem Ackerbau die Stratifizierung der Gesellschaft und das Entstehen der urbanen Kultur. Auch die Idee des Fortschritts ist eine Formgebung für die Zeit, wie auch das Gegenteil, die Dekadenz, oder, als eine heftigere Variante von Dekadenz, der Untergang, z.B. des römischen Reiches. Der Zeit der Physik kommt dann wieder der größere Maßstab zu und sie besteht in der durch den Zeitvektor geordneten Abfolge von Urknall, Ausdehnung des Weltalls und entropischem Wärmetod des Alls. Zum Teil widersprechen sich diese Formgebungen der Zeit, zum Teil können sie nebeneinander in unterschiedlichen Domänen existieren, zum Teil lösen sie einander auch in einem historischen Prozess ab.

Die Zeit, in der wir leben, unsere Zeit, besitzt eine kleinere Skalierungsgröße, ein paar Jahre, maximal zwei, drei Jahrzehnte. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ist wort-statistisch gesehen nur die Spitze des Eisbergs, wenn er ausspricht, welche Form unsere Zeit dieser Tage hat, nämlich die einer „Zeitenwende“. Die Worthäufigkeit des Wortes „Zeitenwende“ war schon vor dem 24.Februar 2022 über Jahre hinweg steil angestiegen, Tendenz weiter steigend.

Quelle: https://www.dwds.de/wb/Zeitenwende

Das Faktum, dass in unseren Veröffentlichungen das Wort „Zeitenwende“ immer öfter benutzt wird, kann als ein Indiz dafür zählen, dass sich der Öffentlichkeit immer mehr die Beschreibung unserer Zeit als Zeitenwende aufdrängt, sodass sich langsam durchsetzt, dass unserer Zeit die Form einer Zeitenwende zukomme.

Wie sieht die Form der Zeitenwende genauer aus? Wenn man der Zeit eine Form zuspricht, schwingt schon immer mit, dass Zeit etwas Wahrnehmbares ist. Zeit wird wahrgenommen durch Unterschiede, die interpretiert werden als durch die Zeit verursacht. Trifft man nach längerer Zeit einen alten Bekannten oder Freund wieder, kann man in seinem Gesicht, in seinen Haaren, vielleicht auch in seiner Haltung oder Körperform Veränderungen ausmachen. Diese Veränderungen werden als durch die Zeit verursacht gelesen. Für die Wahrnehmung von Zeit etwas weniger offensichtlich, doch nicht weniger wichtig sind die Protentionen, die Vorgriffe, die Erwartung von zukünftigen Änderungen. Darin besteht die zeitliche Wahrnehmung: frühere Änderungen werden identifiziert durch den Vergleich von Erinnerungen oder alten Fotos oder Filmen mit der Jetzt-Zeit, aus der Jetzt-Zeit werden diese Veränderungen in die Zukunft hinein projiziert als Erwartung künftiger kontinuierlicher Änderungen. Dieser Kontinuitätsaspekt ist zentral. Eine Zeitenwende ist ein Aufbrechen dieser Kontinuität. Würde die Zeitenwende nicht passieren, würde alles so weiter gehen wie bisher. Eine Zeitenwende tritt ein, wenn genügend Kontinuität in Frage steht. Die Erwartungen an die Zukunft, dass sie sich wie bisher aus der Vergangenheit mehr oder weniger ableiten lässt, gilt dann nicht mehr. Kontinuität hört mit der Zeitenwende auf. Wenn die Zeitenwende vorbei ist, die frühere Zeit ganz hinter sich gelassen, die neue Zeit in Gänze eingesetzt, dann mag es in jener Zukunft wieder Kontinuität geben. Die Zeitenwende sind somit zwei Kontinuitäten, die ein gewisses Maß an Unterschiedlichkeit aufweisen müssen, damit zurecht von einer Zeitenwende gesprochen werden kann, die durch einen Umbruch gleichzeitig verbunden und getrennt sind. Und der Umbruch selbst ist von einem Mangel an zuverlässig erscheinender Erwartung gekennzeichnet.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership