Ein Besuch bei den Berggorillas am Mount Karisimbi
Der steile Aufstieg belohnt mit einer Lektion in sozialem Anschauen und einer großartigen Erfahrung
Auf die Hänge des Mount Karisimbi
Will man die Berggorillas des Volcanoes National Park im Dreiländereck mit Kongo und Uganda sehen, muss man früh aufstehen. Die vom ruandischen Nationalpark angestellten Gorilla-Tracker sind da schon längst wach und sind dabei, die einzelnen Gruppen der insgesamt 600 Berggorillas zu lokalisieren. Die waren vor 30 Jahren fast ausgestorben, nur die konsequent nachhaltige Einrichtung des Vulkan-Nationalparks von Ruanda (gegründet bereits 1925, als erster Nationalpark Afrikas) und von Mgahinga in Uganda (1991) hat das verhindert. Nachhaltigkeit ist hier eine Erfolgsgeschichte, für beide Homininae-Tribus, Menschen und Gorillas.
Im Jahre 2016 erwirtschaftete der Naturschutzpark einen Umsatz von etwa 15 Mio. Euro, und ist damit die wichtigste Einnahmequelle des ganzen Distrikts von Musanze. Jeden Morgen um kurz nach halb sieben spielt sich hier das gleiche Schauspiel ab: riesige auf Safari gestylte Geländewagen, zum Teil Achtsitzer, parken auf dem Parkplatz des Verwaltungsareals, aus den Autos steigen wohlhabend erscheinende Amerikaner und Briten, die in Tropenkhaki gekleidet sind, das so aussieht, als sei es in einer Boutique in L.A. für ein paar Hundert Dollar gekauft worden, nur für den Zweck, hier einmal getragen zu werden. Ein leckerer Kaffee von Question Coffee kommt complimentary. Dennoch, der Park bleibt der wichtigste Faktor für Beschäftigung und Aufbauprogramme in der Region.
Im Geländewagen-Konvoi fährt man zu dem Ort, an dem die Berggorillas von den Trackern aufgespürt wurden; nicht einfach, bedenkt man, dass die nicht-territorrialen Berggorillas täglich ein Gebiet von etwa 10qkm durchstreifen. Die Straßen werden immer schlechter, die Kinder am Rande der Straße freuen sich immer mehr, uns zu sehen: untrügliches Zeichen zunehmender Abgeschiedenheit (und vielleicht Langeweile), sie winken uns strahlend zu und rufen “Muzungu!”
Am Ende wird das Befahren der Straße zu einer echten “African Massage”, die einen bis auf die Knochen durchschüttelt und dabei konstant in den Rücken tritt. Irgendwann kommt auch das Auto nicht weiter, doch ist man dann noch nicht in der Wildnis. Ruanda wird intensiv landwirtschaftlich genutzt, auch ohne von Autos befahrbare Straßen. In manchen Dörfern sind Autos immer noch eine Seltenheit und Sensation, Lastentransport wird durch Fahrräder erledigt (was ich mir für meinen Berliner Bezirk auch wünschen würde).
Langsam schrauben wir uns auf Pfaden zwischen Kartoffelfeldern hoch.
Schließlich erreichen wir die Mauer, die die Grenze von Wildnis und Kulturland markiert. Manchmal kommen hier die Berggorillas über die Mauer und ernten Kartoffeln, meistens bleiben sie aber bei Bambussprossen, Labkraut und anderen Wildkräutern hinter der Mauer.
Hinter der Mauer wird es sehr schnell undurchdringlich. Die Tracker und Guides hatten mit Macheten einen Weg durch das Dickicht geschlagen, doch manchmal muss man sich in Bambustunneln fast auf allen vieren fortbewegen, und den brennenden Nesseln am Rande des Pfads ist kaum auszuweichen.
Hier ist etwas
Von Nesseln zerstochen und vollkommen verschwitzt kommen wir auf eine Lichtung, nicht nur Bambus sondern auch höhere Bäume stehen an ihrem Rand, mit einer leichten Steigung erstreckt sie sich weiter nach oben.
Zwischen den etwa hüfthohen Wildkräutern raschelt es hier und da. Am Lichtungsrand sehe ich eine schwarze Gestalt sich bewegen. Vor mir raschelt es, ich sehe einen schwarzen Schopf direkt vor mir, etwa 3 Meter entfernt.
Es ist ein junger Berggorilla, der sich von mir nicht stören lässt, mich nicht anschaut und weiter Kräuter rupft und isst.
Wenn ich auf den Straßen von Berlin einen Fuchs zwischen den parkenden Autos herumhuschen sehe, freue ich mich. Ich versuche, mit ihm zu kommunizieren, und es misslingt natürlich. Es gibt freundliche, domestizierte Füchse, aber die Berliner Füchse gehören nicht dazu. Wenn sich in den Wäldern Brandenburgs eine Hirschkuh von mir auf dem Fahrrad überraschen lässt, und durch die Büsche von mir weg bricht, freue ich mich. Vor mir Kräuter essend, habe ich nun das Gefühl, sitzt jemand. Hier ist nicht etwas, hier isst jemand. Jemand aus der gleichen biologischen Unterfamilie wie ich, der gleichzeitig wild ist und der sich mit seinen Fingern Kräuter in den Mund steckt, wie ich das mache, wenn ich bei uns im Garten meine Kräuter probiere oder Kirschen vom Baum pflücke. Meine Projektions-Instinkte laufen heiß, weil ich diesen Haarschopf und Hände und Mund und Augen sehe, und nichts passt und ich bin glücklich.
Der Silberrücken setzt einen Abstand
Ein Guide bedeutet mir, ich solle ein paar Schritte zurück gehen. Wir sind alle PCR-getestet und haben Mund-Nasen-Schutz auf wie in der Berliner U-Bahn, dennoch bin ich dem jungen Berggorilla zu nah. Aus dem Gebüsch kommt der Silberrücken der Gruppe und bedeutet mir ohne Worte, aber mit umso mehr Nachdruck, allein durch seine Wegeswahl, dass ich mehr Abstand halten soll. Er geht so an mir vorbei, dass ich ihn mir sehr genau anschauen kann.
Der Umfang seiner Arme, die Leichtigkeit, mit der er seine 200kg durch die Büsche bewegt — ich bin beeindruckt. Er dagegen würdigt mich keines Blickes. Sein Kind schaut mich nicht direkt an, weil es ihm vielleicht unheimlich wäre, mich anzuschauen. Der Silberrücken dagegen schaut mich nicht an, um mir meinen Platz zuzuweisen. Er ist das stärkste Lebewesen hier auf der Lichtung, würde er mich anschauen, würde er mich als Bedrohung akzeptieren, was er nicht tut.
Der Silberrücken setzt sich stets so, dass er allen menschlichen Besuchern den Rücken zu dreht.
Er lässt es zu, dass wir uns innerhalb seiner Familie bewegen. Er ist cooler als wir, und er ist großzügig. Er lässt uns seine Familie anschauen und tausende von Fotos machen, wenn wir das unbedingt wollen.
Berggorillas sind keine territorialen Tiere, sie wandern jeden Tag von Nahrungsquelle zu Nahrungsquelle. Ihr soziales Gefüge, ihre Wehrhaftigkeit und ihre Verbindung zu ihren Nahrungsquellen sind gleichzeitig so stabil und so durchlässig, dass sie mit Menschen zumindest eine Lichtung teilen können. In dieser Zeit sind Menschen Teil des Warnsystems der Berggorillas und würden von ihm profitieren, gäbe ein Gorilla eine Warnung ab.
Eine Berggorillagruppe hat also das Vermögen für so etwas wie Gastfreundschaft. Unsere Verdauung funktioniert ähnlich genug wie die von Gorillas, dass wir das gleiche essen könnten. Als wir auf der Lichtung waren, waren wir ein sozialer Teil der Gruppe, unsere menschlichen Instinkte für Hierarchie hatten eine gewisse Passung zu jener Hierarchie, die von den Gorillas gelebt wird. Gerade, dass wir gern darüber Witze machen, zeigt das. Die Gorillakinder achteten darauf, uns nicht anzuschauen, der Silberrücken kommunizierte, dass wir in der Hierarchie zu niedrig stehen, als dass er uns anschauen würde. Dennoch liess er uns unser Ding machen und wir waren Teil des Warnsystems und hätten essen können, hätten wir nicht sowieso unsere Früchte und Cheese-Sandwiches dabei gehabt (wir haben sie weiter unten zurückgelassen, damit kein Gorilla auf die Idee kommt, dass er da etwas Interessantes riecht und in unseren Rucksäcken nachschauen möchte).
Einander angeschaut
Gorillakinder schauen uns noch nicht an, Silberrücken nicht mehr. Mit einem Gorilla aus der Gruppe, der nicht mehr Kind war, aber auch noch nicht erwachsen, hatte ich dennoch einen längeren Blickkontakt. Obwohl davon abgeraten wird. Vielleicht hatte ich den gleichen sozialen Status in der Gruppe. Auf jeden Fall lief meine Projektionsmaschine auf Hochtouren. Ich kann nicht sagen, welches Geschlecht der junge Gorilla hat, ich glaube, weiblich. Die junge Gorilladame sitzt auf dem Hintern und weicht meinem Blick nicht aus, ich auch nicht dem ihren (meinen Fotoapparat hielt ich etwas gesenkt und ohne auf den Sucher zu achten betätigte ich immer nur den Auslöser).
Gut gelaunt und anscheinend relativ satt blickt sie mir in die Augen. Nun muss man sagen, dass sie mich nicht nur anschaute. Wenn man sich vergegenwärtigt, wo mein Gegenüber ihre Hand hat, kann man zumindest sagen, in der Gegend der Hüfte. Was man auf dem Foto nicht sieht, ist die reibende Bewegung, die der Berggorilla in der Hüftgegend vollzieht und mich dabei nach einer Weile leicht von schräg unten anschaut.
Vielleicht ist das meine Projektionsmaschine, denn ich kann auf jeden Fall nachvollziehen, dass Grenzüberschreitungen einen eigenen Reiz haben können. Mir erschien es so, als ob es eine gewisse Zufriedenheit im Gesicht meines Gegenübers gibt, die auch in der Grenzüberschreitung des gehaltenen Blickes besteht. Was wir über den Menschen und seine Gene wissen, impliziert auf jeden Fall eine Weitergabe von Genen über alle Unterarten der Gattung Homo hinweg: Neandertaler hatten teils Gene des Homo sapiens, so wie wir teils Gene des Neandertalers haben, genauso wie teils des Denisova-Menschen, der auch kein Homo sapiens ist.
Als mir der Berggorilla dann jedoch zuzwinkerte, habe ich lieber weggeschaut.
Was mitzunehmen ist
Natürlich waren uns Neandertaler und Denisova-Menschen genetisch näher als Berggorillas. Berggorillas aber in die Kategorie des Anderen zu stecken und mit ihnen nach Willkür und Gewinnmaximierung oder auch nur Hungerminimierung zu verfahren, das ist falsch und nicht recht.
Gleichzeitig ist die Frage von Doppelmoral und Heuchelei des globalen Nordens nicht so einfach abzuschütteln. Auf lokale Wilderer mit dem Finger zu zeigen und dabei zu vergessen, dass die lokalen Wilderer Teil des vom globalen Norden dominierten und somit geformten globalen Wirtschaftssystems sind, das gehört wahrscheinlich zu dieser Doppelmoral dazu. Im Klimawandel können dann sogar Kartoffelbauern zu einem Problem werden. Wenn Kartoffelbauern durch den Klimawandel geringere Ernten einfahren, versuchen sie vielleicht, über die Mauern der Nationalparks zu gehen, um dort mehr Anbaufläche zu gewinnen. Hier haben wir genauso eine gemeinsame globale Verantwortung. Und natürlich können auch Touristen heikel werden.
Insbesondere von der Gastfreundschaft der Berggorillas können wir uns inspirieren lassen, von der Stabilität und dem Überfluss-Verhalten ihrer Umwelt-Relation, dem Gegenteil einer Nullsummenspiel-Angst: Großzügigkeit.
Und man kann auch noch einmal daran erinnern, dass die Entdeckung des Gorilla beringei für die Wissenschaft 1902 durch einen preußischen Kolonisator, Robert von Beringe, geschah, indem er einen Gorilla erschoss, dessen Skelett immer noch in einem Kasten in einem Schrank des Berliner Naturkundemuseums liegt. Dabei ist jeder einzelne dieser Berggorillas so wertvoll ähnlich wie eine Person und zeigt darin gleichzeitig die Armut und den Anthropozentrismus jener Bezeichnung “Person” auf, umso mehr angesichts der Gewalttätigkeit seiner wissenschaftlichen Bezeichnung.
Die Begegnung mit einem Gorilla zu mehr oder weniger seinen Bedingungen, nicht als Teil eines Zoobaukastens neben Schimpansen und Orangutans — und dadurch als Jemand — macht mir zudem meine Projektionsmaschine bewusst, meine Neigung, Menschliches in den Gorilla zu lesen, den Anthropomorphismus meines kognitiven Apparats. Eine wissenschaftlich orientierte Erkenntnispraxis und -theorie, ein Verifikationsstil, der zuerst auf Anthropozentrismus und Anthropomorphismus achtet, um die beiden dann zu überwinden, dies anzugehen, dieses Momentum würde ich gern von jener Lichtung am Hang des Karisimbi mitnehmen.
Und: Berggorillas sind cool!