Ma’at als kosmopolitisches Prinzip

4000 Jahre Zuhören, Parrhesie und Philosophie der Gerechtigkeit unter der Sonne

Jörg Ossenkopp
18 min readJun 30, 2023
Quelle

Einleitung

Die Ma’at ist das erste umfassende philosophische Konzept der Geschichte. Als kosmologische prozessuale Ordnung umfasst es Wahrheit, Gerechtigkeit, Rechtssprechung und soziale Interaktion, sowie religiöse Aspekte. In der spezifischen Engführung von Kosmologischem und Politischem liegt der kosmopolitische Aspekt der Ma’at.

Diese spezifische Engführung deckt einmal mehr bestimmte Lücken auf in unseren politischen und philosophischen Konzepten. Unseren politischen und philosophischen Konzepten fehlt es oft an

  1. Inklusivität dahingehend, dass zu vermissen ist, die Armen, die Verletzlichen, die Flüchtlinge und die Besiegten explizit mit einzubeziehen,
  2. Vielstimmigkeit oder umfassender Multiperspektivität, sodass unterlassen wird, unterschiedliche Perspektiven, diverse Stimmen in ihrem Eigenrecht darzustellen und mitzuführen,
  3. Konkretheit, sodass lieber metaphysische, transzendente und abstrakte Fragen diskutiert als konkrete Unfreiheit oder immanente Praktiken wie z.B. das Zuhören, das Atmen oder die Parrhesie thematisiert werden.

Das Planetarische dagegen ist ein Konzept, dass diese drei Aspekte umfasst. Interessanterweise ist es eben auch die Ma’at. Im Folgenden geht es darum, die Ma’at in ihren Aspekten als inklusiv (weder demokratisch noch gewaltfrei, jedoch basierend auf der Erfahrung der Armen), als multiperspektivisch (die Perspektive der Armen, des Beamten oder Funktionärs und des Herrschers umfassend) und als konkret darzustellen (als Zuhören und Parrhesie).

Was ist Ma’at?

Die Ma’at kann man beschreiben als einen Zustand der Welt, in dem alles die richtige Richtung nimmt, als einen Prozess. Und das weniger linear, nicht als Fortschritt gedacht, sondern als Kreislauf, als der Kreis von nautischer Hin- und Rückreise, als steter Fluss, als Luftbewegung vom Boden hin nach oben zur Sonne und von dort wieder zurück, als richtige Bewegung des Sonnenkreislaufs. Und eben als das soziale Verhältnis von Stimme, klagend, rühmend, benennend, auffordernd einerseits und andererseits von tätigem Zuhören, einem Zuhören, aus dem Handlungen entstehen, insbesondere von einer unteren sozialen Schicht mit weniger Privilegien an eine obere soziale Schicht mit mehr Macht gerichtet.

Das Gegenteil von Ma’at ist Chaos, die unterbrochenen Flüsse, die zerbrochene Gesellschaft, die Herrschaft des Stärkeren und der Triebe, der Habgier des Stärkeren, die Dominanz der Lüge und der Faulheit. Personifiziert ist das Chaos in Isfet.

Der Prozess der Ma’at ist ein immanenter, sowohl göttlicher als auch Naturprozess, und zudem juristisch verortet im altägyptischen Gesellschaftssystem.

Ma’at ist laut Jan Assmann (1990) „ein — wenn nicht geradezu der — Zentralbegriff der altägyptischen Kultur“ (S.15), mit dem sich das „Eigenverständnis“ und die „Innenansicht“ der ägyptischen Kultur erschließt (S.9). Er erklärt den Ma’at-Begriff folgendermaßen in einem einzigen Satz:

“Mit dem Konzept Ma’at hat eine vergleichsweise sehr frühe Kultur auf höchster Abstraktionsstufe einen Begriff geprägt, der menschliches Handeln und kosmische Ordnung miteinander verknüpft und damit Recht, Moral, Staat, Kult und religiöses Weltbild auf eine gemeinsame Grundlage stellt.” (Assmann 1990, S.17)

Spätestens damit wird klar, dass eine Übersetzung immer nur schräg und unvollständig sein kann, hier Assmanns Versuch: Wahrheit, Gerechtigkeit, Recht, Ordnung, Weisheit, Echtheit, Aufrichtigkeit. (S.9)

Darüber hinaus konstatierte Jan Assmann: “Wenn es einen Text gibt, der den Titel „Abhandlung über die Ma’at“ tragen könnte, dann ist es ein Werk des Mittleren Reichs, das unter dem Namen „Die Klagen des Bauern“ bekannt ist und zur Gattung der „Klagen“ gehört.” (S.58)

Die altägyptische Abhandlung über die Ma’at ist also jene Schrift, die keinen selbstgewählten Titel besitzt, die oft mit “Klagen des Bauern“ bezeichnet wird und die von Dietrich Kurth in der besten vorhandenen deutschen Übersetzung als „Der Oasenmann“ betitelt wurde.

In diesem Text, dieser „Abhandlung“ findet sich die wohl konziseste Formulierung der Ma’at:

„Ich rede (ḏd, 𓆓𓂧), du hörst (sḏm, 𓄔𓅓). So schaffe (jr, 𓁹) Gerechtigkeit (ma’at, 𓌴𓐙𓂝𓏏𓏛)“ (Kurth, S.72)

— und dies in einer konkreten dialogischen Situation gesprochen vom beraubten und daher besitzlosen Oasenmann Chunanup und gerichtet an Rensi, den Oberdomänenvorsteher, der eine direkte Kommunikationslinie zum König oder Pharao hat. Das Reden, das Verlauten der Stimme gehört somit unauflöslich zur Ma’at dazu. Dadurch wird die Situation initiiert, in der Ma’at sich abspielt. Das Reden im Ma’at-Kontext ist ein Rühmen, ein Klagen oder ein Einfordern von Ma‘at, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Ma’at gleichzeitig gilt und nicht gilt, eben noch nicht getan oder erschaffen ist. Am abträglichsten wäre es der Ma’at, wenn die Stimme keinen Raum erhielte, das Reden unterdrückte würde, keine Atmosphäre mit ihrer konkreten Gasmischung vorhanden wäre, so dass kein Ton erzeugt werden kann und er nicht zum zuhörenden Ohr getragen wird. Als etablierte Redewendung bezeichnet der Oasenmann diesen dementsprechend auf die Luft oder Atmosphäre Bezug nehmenden Satz:

„Ma’at-Tun ist Luft für die Nase.“ (übers.v. Assmann, S.81)

Während das Reden also die Voraussetzung für Ma’at ist, so wird im Zuhören, das übergeht ins Tun die Ma’at erst konkretisiert und erzeugt. Und in der Erzeugung der Ma’at wird der Raum der Stimme wiederum erhalten und geschützt. Das hat wiederum die Form eines Kreislaufs, der unterbrochen werden kann. Das Ma’at einfordernde Reden eröffnet eine Ma’at-Szene, das Zuhören akzeptiert die Ma’at-Rede als solche, akzeptiert ihre Autoritätsbehauptung im Umsetzen des Gehörten, im Ma’at-Tun wird Ma’at geschaffen und dies wiederum erzeugt oder erhält den Raum, in dem spätere Ma’at-Forderungen geäußert werden können.

Dies ist ein Teil der Multiperspektivität der Ma’at: Was auch immer mein sozialer Status ist (Fellachen oder Oasenmänner waren in der stark stratifizierten altägyptischen Gesellschaft nicht sehr hoch angesiedelt), wenn ich rede mit dem Anspruch der Ma’at gemäß zu reden, so hast du als Funktionär in einer Governance zuzuhören, wenn du der Ma’at gemäß leben möchtest. Und wenn ich der Ma’at gemäß rede und du der Ma’at gemäß zuhörst, so erschaffst Du — als Teil der Governance — Ma’at. Natürlich auch in einer umgekehrten Perspektive: ich als jemand mit mehr Machtfülle als Du habe Dir zuzuhören, um der Ma’at gemäß zu leben. Wenn die Ma’at nicht gelebt wird, wenn nicht ihr gemäß gelebt wird, verschwindet die Governance und damit jedes Funktionärsdasein.

Die Stimme des Oasenmanns

Jene Schrift, von uns betitelt als „Der Oasenmann“, oder der „beredte Bauer“ oder die „Klagen des Bauern“, ist eines der allerersten Zeugnisse einer menschlichen Stimme überhaupt. Die Entstehung des Oasenmanns wird auf etwa 1800 v.Chr. datiert. Es gibt also einen Zeitraum von etwa 4000 Jahren, für den wir Zeugnisse menschlicher Stimmen haben.

Mit Stimme ist gemeint, dass die Anzahl von zusammenhängenden Wörtern die Schwelle zum Fragment einer Narration überschreiten, dass man eine Perspektive ausführen kann, aus der diese Wörter gesprochen oder geschrieben worden sind, mit sozial und politisch differenzierten Aspekten, dass ein Stil zu identifizieren ist, der die Art und Weise des Sprechens und der Diktion von anderen Arten und Weisen unterscheidet und dass man eine spezifische Verletzlichkeit erkennen kann, eine spezifische Wirkungshoffnung und eine spezifische Autoritätsbehauptung.

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Die steinzeitlichen Wandmalereien in Lascaux zum Beispiel sind viel älter als der Oasenmann. Die Handabdrucke in Gargas und andernorts identifizieren auch die Menschen, denen diese Hände gehörten, jedoch ist hier kein differenzierter Stil zu erkennen, zwar Verletzlichkeit, jedoch keine spezifische Verletzlichkeit, keine Perspektive, die von anderen Perspektiven unterschieden ist, erst recht kein Verständnis von Multiperspektivität.

Dass wir im Oasenmann eine Stimme erkennen können, hängt mit der Quantität der überlieferten Wörter zusammen und hängt mit der Qualität zusammen, damit, dass ein Stil auszumachen ist, eine Ausdrucksform zu interpretieren ist. Dass wir im Oasenmann eine Stimme erkennen können, dafür schulden wir jedoch genauso der Rekonstruktionsarbeit von Archäologen und Philologen Dank. „Der Oasenmann“ ist nur fragmentarisch überliefert, es sind vor allem drei in Berlin befindliche unterschiedliche hieratische Fragmente, die von Philologen zusammengesetzt wurden, um den Gesamttext zu rekonstruieren.

Hieratischer Papyrus, Beredter Bauer, P 3025/D, Credit: Staatliche Museen zu Berlin, Ägyptisches Museum und Papyrussammlung / Sandra Steiß CC BY-SA 4.0

Dem Haupt- und Mittelteil fehlt Anfang und Ende; der Anfang wurde 1896 in Theben unter dem Grabtempel Ramses des II. in einer Truhe mit Papyri gefunden, die bei Berührung zu Staub zerfielen. Die Herkunft von Mittelteil und Ende sind unbekannt, sie wurden bereits 1843 als Teil einer Sammlung eingekauft. Die Interpretation des Textes war unter den ersten wissenschaftlichen Ägyptologen schwer umstritten. Anfangs gingen sie davon aus, dass der Oasenmann eine parodistische Schrift ist, oder dass in ihr die Vorliebe der Ägypter für blumige Redewendungen über die Stränge schlug, oder dass sie prophetischen Charakter habe.

Rekonstruktion des Grabtempels von Ramses II., aus: Carl Richard Lepsius, Denkmäler aus Aegypten und Aethiopien (Bildquelle)

Erst mit Émile Suys 1935 gab es den ersten Interpreten, der die Schrift als einen ernsthaften Versuch in Moralphilosophie verstand. Mit Jan Assmann (1990) ist dann die seitdem vorherrschende, sehr hochachtende Interpretation erschienen.

Um die Stimme jenes Oasenmanns namens Chunanup, „beschützt von Anubis“, zu vernehmen brauchte es also einiges an Interpretationsarbeit. Motiviert dazu wurde die Gelehrtenwelt durch die Bewertung des Textes als “philosophisch”, so scheint es. Jedenfalls kann man diese Interpretationsarbeit als ein Zuhören bezeichnen. Nicht immer ist es von vornherein klar, in welcher Form eine Stimme auf ein Zuhören trifft, manchmal ist das Zuhören eine Rekonstruktion der Stimme, der man zuhört. Nach der Rekonstruktion können wir sagen: Die Stimme des Oasenmanns ist eine Stimme, die die Ma’at spricht (ḏd, 𓆓𓂧), die somit verlangt, dass ihr zugehört wird, dass man weder ihr noch der Ma’at gegenüber „taub“ ist.

Ma’at und das Atmen der Armen

Das Besondere an der Ma’at ist, dass sie nicht nur eine menschliche Interaktion des Verlauten der Stimme und dem Zuhören ist, nicht nur die konkrete altägyptische Rechtsordnung und Governance umfasst, sondern auch mit dem Atem, mit dem Wind, mit der Zeitordnung und der Ewigkeit zusammenhängt. Die Göttin Ma’at ist eine Tochter des Sonnengottes Re und sorgt dafür, dass die Sonnenbarke auf ihrem Weg über den Himmel und unter der Erde nicht vom Kurs abkommt. Ma’at hat also einen kosmologischen Aspekt, und in der Ausrichtung auf Rechtsprechung und Governance auch einen politischen. Mit anderen Worten, Ma’at ist ein kosmopolitisches Prinzip.

Im Altägyptischen kann das Wort ma´at in vielen verschiedenen Schreibweisen gebildet werden, mal mehr ideogrammatisch oder ein anderes Mal mehr phonogrammatisch. Die ideogrammatischste Schreibweise von Ma’at ist 𓁧, eine sitzende Göttin mit einer Feder auf dem Kopf. Im Oasenmann wird Ma’at aus diesen Hieroglyphen zusammen gesetzt eher phonogrammatisch geschrieben 𓌴𓐙𓂝𓏏𓏛, Sichel, Sockel, Arm, Brot, Altar; und natürlich nicht in der voll ausgebildeten Form der Hieroglyphen, sondern in der abgekürzten, von Hieroglyphen abgeleiteten hieratischen Schrift. Jan Assmann dagegen stellt eine ursprüngliche Schreibweise aus zwei ideogrammatisch verstandenen Hieroglyphen heraus 𓐙𓆄, den Sockel und die Feder. Der Sockel ist unten, die Verbindung mit der Erde, die Feder sorgt für das Fliegen in der Luft. Die Spannbreite der Ma’at umfasst Erde und Luft, die Göttin Ma’at wird identifiziert durch die Feder, die mit der Luft verbunden ist. Luft ist für uns alle verbunden mit dem Atmen.

Dieser inklusive Aspekt der Luft und des Atmens wird im Oasenmann dargestellt. In der fünften Klage sagt der Oasenmann zum Oberdomänenvorsteher:

“Beraube doch nicht einen Armen seiner Habseligkeiten, einen Schwachen, den du kennst. Die Atemluft sind für den kleinen Mann (ma`r) seine Habseligkeiten, man erstickt ihn, wenn man sie ihm fortnimmt.” (Kurth, S.88)

Die Armen, der kleine Mann, gerade die sollten von der Ma’at geschützt werden. Nirgends zeigt sich die Ma’at so deutlich wie darin, wie mit den Armen und Schutzlosen umgegangen wird, dem verletzlichsten Teil der Gesellschaft. Die Habseligkeiten eines Besitzlosen sind fast unsichtbar, fallen kaum ins Gewicht, sind für ihn daher dennoch so wichtig wie die Atemluft. Ohne Habseligkeiten genauso wie ohne Atemluft ist zwar kaum ein Unterschied zu sehen, dennoch ist das Leben einer Armen ohne die beiden existenziell bedroht.

So kann Assmann wie bereits erwähnt auch das vom Oasenmann in der dritten Klage in Anschlag gebrachte Sprichwort übersetzen mit:

„Ma`at-Tun ist Luft für die Nase.“ (Assmann, S.81)

Es liegt an allen Einzelnen, die Ma’at zu tun, es müssen aber insbesondere die Armen und Vulnerablen einbezogen werden, weil gerade diese gar nicht viel mehr haben als eben das, Teil der Ma’at-Gemeinschaft zu sein. Doch in dieser Wichtigkeit der Ma’at für die Armen und Vulnerablen liegt auch deren Vorbildfunktion. Wird die Ma’at zerstört, verlieren alle die Lebensluft zum Atmen, bei den Armen und Vulnerablen wird es nur zuerst manifest.

Die Ma’at zu tun und dadurch zu erschaffen ist anstrengend und dabei ein Geben. Ohne Ma’at entsteht Not:

„Wer durch gerechtes Handeln die Lebensluft reichlich gab, liegt mit enger Kehle am Boden, und statt seiner sorgt jetzt ein Müßiggänger dafür, daß man lediglich atmet.“ (Kurth, S.74)

Dieses Geben baut auf einer Gegenseitigkeit auf, die dem Sprechen und Zuhören entspricht. Wenn diese Gegenseitigkeit durch Untätigkeit oder durch das Vermeiden einer Anstrengung durch die zuhörende Seite aufgelöst wird, beginnen alle nach Luft schnappend zu Boden zu sinken, die Armen und Schutzlosen zuerst. Die Verbindung von irdischem Sockel und luftiger Feder ist unterbrochen, das luftlose Irdische zieht nach unten und erdrückt.

Ma’at als Parrhesia: Dissent und Affirmation

Die Autoritätsbehauptung, die dem Sprechen des Oasenmanns zugrunde liegt, hat einen Aspekt von Dissent sowie einen Aspekt von Affirmation.

Gegenüber dem Beamten Nemtinacht, der die Esel des Oasenmanns mit all seinen Handelsgütern aus Habgier einzog, betont der Oasenmann drei Mal wiederholend: „Stets gut ist der Weg, den ich nehme“. Damit liegt die Autoritätsbehauptung auf dem Oasenmann selbst und dem Weg, den er nimmt, metaphorisch und konkret, der eben stets gut ist und der somit seine Autorität zu sprechen und auch zu widersprechen begründet. Und da das im Fortgang der Geschichte wirkungslos bleibt, entgegen der Ma’at, geht er dann ins Klagen über. Als besonders der Ma‘at widersprechend kennzeichnet der Oasenmann, dass Nemtinacht ihn zum Schweigen zwingt.

Gegenüber dem Oberdomänenvorsteher Rensi darf der Oasenmann der Ma’at entsprechend reden, und er nutzt eine andere rednerische Strategie. Jede einzelne der 9 Klagen wird mit einer Anerkennung der Herrschaft des Oberdomänenvorstehers begonnen, die meisten werden mit einem darauffolgenden Rühmen eingeleitet. In der ersten Klage nimmt dieses Rühmen sogar den größten Raum ein. Von 13 Sätzen widmen sich 9 dem Rühmen des Funktionärs Rensi.

Der andere Aspekt, der des Dissents, nimmt seine Autorität aus einer Vorstellung der sozialen Ordnung, und dies stets in engster Verbindung mit der und unter Rückbezug auf die Ma’at.

So sagt der Oasenmann in der siebten Klage zum Oberdomänenvorsteher:

“Wenn aber wie hier das Gesetz gebrochen wurde, dann ist auch die richtige Ordnung verletzt worden, und ein kleiner Mann (ma’r) kann nicht überleben, wenn er ausgeraubt wurde, ohne daß sich ihm danach die Gerechtigkeit (ma’at) zuwendet.
Und wahrlich, mein Leib ist voll, mein Herz ist beladen, und deshalb kommt es aus meinem Leib heraus. Es ist das Brechen eines Dammes, mit reißender Flut, wenn mein Mund sich öffnet, um zu reden. Und dann habe ich in der Tat meine Schleusen aufgerissen, ich habe mein Wasser ausgeleert, ich habe meinen Leib erleichtert, ich habe meine schmutzige Wäsche gewaschen. — Meine Rede ist getan, meine Not liegt ausgebreitet vor dir.” (Kurth, S. 91)

Der Oasenmann hat alles gesagt, hat nichts zurück gehalten. Das ist ein Aspekt von Parrhesia, alles zu sagen und nichts zurück zu halten. Gleichzeitig wird hier die eine doppelte Verletzlichkeit des Parrhesiasten aufgezeigt. Zum einen schwebt ein Armer in Lebensgefahr, wenn er ausgeraubt und für ihn kein Recht gesprochen wird, zum anderen schwebt ein hierarchisch Untergeordneter in Gefahr von Strafe oder sogar Tod, wenn er einem übergeordneten Funktionär nicht zustimmt, wenn er ihn nicht nur lobt und rühmt, sondern auch kritisiert. Der Oasenmann wurde vom räuberischen Beamten Nemtinacht für seinen Dissens mit einem Tamariskenstock geprügelt. Die dritte Klage ist gekennzeichnet durch grenzüberschreitenden Dissens, der Oasenmann bezeichnet Rensi unter anderem als „Koch, dem das Schlachten der Tiere Freude bereitet, wobei ihm das damit verbundene Zerstückeln nichts ausmacht“, daraufhin wird er von den Dienern des Rensi ausgepeitscht. Dies bringt ihn dennoch nicht zum Schweigen, direkt nach dem Auspeitschen führt er die dritte Klage fort.

Zum Schluss der Geschichte, am Ende der neunten Klage, bereitet sich der Oasenmann dann darauf vor zu sterben, sei es durch die strukturelle Untätigkeit des Oberdomänenvorstehers, sei es durch die Gewalt von dessen Wachleuten. Diese Vorbereitung auf das Sterben ist auch eine wichtige Ambivalenz, mit der die Rahmenerzählung als möglicherweise unzuverlässig charakterisiert wird, in der Rensi vom König angewiesen wurde, den Oasenmann mit Brot zu versorgen. Diese Verletzlichkeit ist das subversivste Element der gesamten Geschichte. In diesem Akzeptieren des eigenen herannahenden Todes, der Hinwendung an den Totengott Anubis, die schon im Namen des Oasenmanns, Chunanup, angelegt ist, darin liegt die stärkste Kritik, und eine ergreifende zudem.

„Ein Durstiger gelangt zum Wasser, ein Säugling füllt seinen Mund mit Milch, so ist der Tod, den man herbeisehnt. Wenn der nicht kommt, dann kommt derjenige, den der Tod nicht holen will, zu ihm.” (Kurth, S.95)

In der Todesnähe der Armen, der Verletzlichkeit der Armen, die allzu einfach zum Tod führen kann, liegt jedoch eine weitere Autoritätsbehauptung. Wenn die Stimme eines Armen so einfach in ein ewiges Schweigen übergehen kann, so ist dieser Arme nah am Tod. Der Schutz des Anubis schützt nicht das Leben eines Armen, er bietet nur einen Rückhalt in seiner Allumfassendheit und in seinem Frieden. Diese makabre und tabubesetzte Nähe des Armen zum Tod kann die Grundlage für eine Autoritätsbehauptung sein. Wenn solcherart Autoritätszuschreibung, der Hinweis auf die eigene maximal verletzliche Sterblichkeit, auf die Auflösung der Grenze zwischen dem eigenen Leben und dem eigenen Tod, durch einen verletzlichen, schwachen Armen selbst geschieht, für den dieses Tabu des Todes nicht gilt, und der dieses Tabu und die verdrängte Verletzlichkeit seinem Zuhörer dennoch eindringlich fühlbar werden lassen kann, so findet sich in diesen Aussagen eine (leicht paradoxale) Autoritätsbehauptung durch Verletzlichkeit.

Eine jener Autoritätsbehauptung durch Verletzlichkeit fast entgegengesetzte Art der Autoritätsbehauptung ist dann eine klassische, einige Jahrhunderte später auch von Homer, Hesiod und Parmenides genutzt. Der Redner behauptet dann, ein Gott spreche durch ihn. So sagt der Oasenmann in der achten Klage:

„Du gibst mir keine Erwiderung auf diese vollkommene Rede, die aus dem Munde des Gottes Re höchstselbst hervorkommt. Sprich Gerechtigkeit aus (ḏd ma’at), übe Gerechtigkeit (jr ma’at), denn sie ist mächtig, sie ist groß und sie bleibt bestehen.“ (Kurth, S.94)

Ma’at ist die Tochter des Re, des ägyptischen Sonnengotts, an einer anderen Stelle bezeichnet der Oasenmann den Oberdomänenvorsteher und seine Beamten selbst als Re, Herr des Himmels. Wenn der Oasenmann hier in seiner Autoritätsbehauptung konstatiert, der Sonnengott Re spreche durch ihn, wird hier durch den hierarchisch Untergeordneten eine gleichgestellte Position eingefordert. Das geht nur, weil Regierende wie Regierte Teil des Ma’at-Systems sind. Und dieses Ma’at-System baut nicht nur auf einem passiven Zuhören auf, sondern auf einer Gegenseitigkeit, die auch ein Ma’at-Tun verlangt. Dieses Ma’at-System ist dann nicht nur ein rein transaktionales, ereignishaftes, sondern bleibt potentiell bestehen. Für die Interagierenden in diesem System gilt als Zeitlichkeit dieses Bestehen-Bleibens die Ewigkeit. Das ist der Kontext, der durch den Bezug auf den Sonnengott Re gebildet wird. Hier eröffnet sich für das Zuhören der Kontext des Planetarischen, nicht nur durch das Atmen, sondern genauso durch die Relation zur Sonne, die Zeitlichkeit des Alltags sprengend. Aus altägyptischer Perspektive wird damit der politische Kontext des mittleren Reiches verlassen und alle unbekannten Späteren werden abstrakt umfasst, uns Heutige unter der Sonne potentiell mit eingeschlossen.

Das, wogegen sich die Parrhesia des Oasenmanns richtet, ist Gier, Korruption und Untätigkeit. Die gehobene Stellung eines Funktionärs bringt Besitz mit sich. Diesen Besitz noch mehren und vergrößern zu wollen, das ist gegen die Ma’at. Die Machtfülle des Funktionärs auszunutzen, um der eigenen Gier und Habsucht zu genügen, das ist Korruption. Der Funktionär ist mit der Funktion der Waage gleichgesetzt; wenn er diese Funktion des Messens und des Maßes nicht erfüllt, so ist jegliche Art der gelingenden Interaktion gefährdet. Der Funktionär erfüllt seine Funktion nicht, wenn er seiner Gier nachgeht, sein eigenes habgieriges Herz über die Ma’at stellt, oder aber wenn er untätig ist, wenn er nicht zuhört, faul ist, ein Müßiggänger.

Das Schreiben der Ma’at

Die Göttin Ma’at allein ist zunächst noch nicht direkt verbunden mit dem Schreiben. Doch der ihr im altägyptischen Pantheon als Gemahl zugeordnete Gott Thot ist bereits der Gott des Schreibens. Es gibt keine direkte Verbindung von Ma’at und Schrift, es gibt jedoch eine Nähe, die sowohl mit der unnachgiebigen und unparteiischen Gerichtsbarkeit als auch mit der Ewigkeit assoziiert ist.

“Übe (jr) Gerechtigkeit (ma’at) aus für den Herrn der Gerechtigkeit (ma’at), nach dessen Gerechtigkeit (ma’at) die Gerechtigkeit (ma’at) geformt ist! Schreibbinse, Papyrusrolle und Schreibpalette des Gottes Thot, halte dich fern davon, Unrechtes zu tun! Vollkommen ist das Vollkommene, es ist wahrlich vollkommen und vollendet.
Die Gerechtigkeit (ma’at) aber währt bis in Ewigkeit.” (Kurth, S.93)

Die Redegewandtheit des Oasenmanns, sein Ma’at-Sprechen dagegen ist zunächst nicht assoziiert mit dem Schreiben. Nichts spricht dafür, dass Chunanup die hieratische Schrift beherrscht. Die Bilddichte und Rhythmik seiner Rede – wie zum Beispiel die zwei 4er-Konstellationen im vorigen Zitat, die zuerst die Ma’at viermal wiederholen und dann die Vollkommenheit –, die spricht eher für eine Stimme, die aus einer Kultur der Mündlichkeit stammt.

Der niedere Beamte Nemtinacht war wahrscheinlich in der Lage zu schreiben; im Mittleren Reich waren die Bezeichnungen Beamter und Schreiber geradezu synonym. Die Lebenszeit des Pharaoh Nebkaura wird auf die Erste Zwischenzeit, zwischen dem Alten und dem Mittleren Reich angesetzt, was somit der zeitliche Kontext der Erzählung ist.

Der Oberdomänenvorsteher Rensi konnte mit Sicherheit lesen und schreiben, er schickt eine Nachricht an den Bürgermeister der Salzoase, aus der der Oasenmann stammt.

König oder Pharao Nebkaura dagegen ist der Grund für die Existenz der Erzählung. Nachdem Nemtinacht den Oasenmann bestohlen hatte, kam der Oasenmann zu Rensi, und bekam den Platz zugesprochen, seine erste Klage vor dem Oberdomänenvorsteher vorzutragen. Die Qualität dieser ersten Klage schätzt Rensi dann so hoch ein, dass er zum Pharao geht und ihm davon erzählt. Der Pharao antwortet, dass wenn Rensi die Gesundheit des Pharaos am Herzen liege, er dem Oasenmann nicht sofort antworte, sondern ihn klagen lasse, die Klagen aufschreibe und diese Niederschrift wiederum ihm, dem Pharao, vorlege. Und das genau ist die Rahmenhandlung der neun Klagen. Am Ende, nach der neunten Klage werden die neun Klagen dem Oasenmann vorgelesen, was impliziert, dass die Klagen wortgenau aufgeschrieben und durch das Ihm-Vorgelesen-Werden durch den Oasenmann implizit autorisiert wurden.

Doch gerade in den zeitlichen Verschiebungen, die die Schrift ermöglicht, ist wiederum ein Zirkulieren der Ma’at verborgen. Initiiert wird der Ma’at-Kreislauf der Schrift durch die Redekunst des Oasenmanns. Die Redekunst führt dazu, dass die Ankündigung einer Ma’at-Rede die sozialen Stufen hochklettert bis hin zum Pharao, dem Sohn des Re, der Sonne. Der Pharao wiederum weist als zeitlichen Vorgriff auf den Zugang zur Ma’at-Rede den Oberdomanenvorsteher an, eine Botschaft an den Bürgermeister der Salzoase mit Anweisungen zu schicken, die in der Salzoase zurück gebliebene Familie des Oasenmanns mit Brot und Bier zu versorgen. Teil der Ma‘at ist der Schutz von Witwen und geschiedenen Frauen, zudem von Waisen. Der Oasenmann hatte sich mit seiner Reise in Lebensgefahr begeben, insbesondere nachdem er beraubt war, aber auch durch seine Parrhesie. Er hatte somit seine Frau der Gefahr ausgesetzt, in der Zukunft als Witwe ihr Leben zu fristen und seine Kinder als Waisen. Zudem bekam Rensi die Anweisung, auch dem Oasenmann mit Brot und Bier auszuhelfen. So erhält der Oasenmann sowohl durch den institutionellen Raum seine klagende Stimme zu erheben als auch durch die Subsistenz die Möglichkeit dazu, beides Elemente des Ma’at-Kreislaufs, beides ein zeitlicher Vorgriff darauf, dass die Ma‘at-Rede den Pharao erreichen wird. Die Ma’at-Klagen erreichen daraufhin zunächst Rensis Ohr, gleichzeitig lässt er alle Klagen aufschreiben. Und nachdem die Klagen dem Oasenmann vorgelesen werden, erreichen sie den Pharao, erst nach all diesen durch den Pharao autorisierten, der Ma‘at entsprechenden Vorkehrungen hat auch der Pharao schließlich Zugang zur Ma‘at-Rede.

“Dann ließ der Oberdomänenvorsteher Rensi, der Sohn des Meru, die Schriftrolle überreichen der Majestät des Königs von Ober- und Unterägypten (Neb-kau-ra)|, selig. Und der fand sie schöner und vollkommener in seinem Herzen als alles, was es in diesem ganzen Lande gab.” (Kurth, S.96)

Wenn am Ende der neunten Klage dem Oasenmann seine eigenen Klagen vorgelesen werden, so ist der Punkt der größten Annäherung zwischen König und Oasenmann erreicht, sie hören die gleiche aufgeschriebene Erzählung. Sie hören den gleichen Text, den Text, der von den Ägyptologen des vorletzten Jahrhunderts entdeckt und im letzten Jahrhundert rekonstruiert und für den in der Folge gewisse Grundinterpretationsgrenzen festgelegt wurden. Und auf diesen Grundinterpretationsgrenzen basiert schließlich 4000 Jahre später unsere Lektüre, unser Zuhören auf die Stimme des Oasenmanns.

Carl Richard Lepsius, Denkmäler aus Aegypten und Aethiopien (Bildquelle)

Was ist mitzunehmen?

  1. Der Oasenmann ist eine Erzählung. Wenn Jan Assmann sagt, der Oasenmann sei eine “Abhandlung über die Ma’at”, so hat diese Abhandlung immer noch den Charakter einer Abfolge von Dialogen, zwischen Chunanup und Nemtinacht, zwischen Rensi und Chunanup, zwischen Rensi und dem Pharao Nebkaura. Es gibt einen Grenzstein, der Nebkaura erwähnt, daher kann man davon ausgehen, dass es Nebkaura tatsächlich gab, die anderen drei, Chunanup, Nemtinacht und Rensi sind nicht historisch verbürgt. Die Erzählung thematisiert dies, wenn der Oasenmann Chunanup durch seine nachdrückliche Bezeugung der eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit die Rahmenhandlung, die behauptet, für ihn werde gesorgt, in Frage stellt. Die dadurch erzeugte existenzielle und subversive Ambiguität zeigt: Eines der ersten philosophischen Schriftstücke ist mehr als alles andere eine Erzählung, eine Geschichte, Fiktion – ohne dadurch weniger philosophisch zu sein.
  2. Das Konzept der Ma‘at, die Ethik der Ma‘at hat mit dem Aktivisten und Ägyptologen Maulana Karenga heute wieder Protagonisten, wird aktiv als eine afrikanische Philosophie der Lebensform verfolgt. Das wird weiter zu vertiefen sein. Deutlich sollte jetzt schon sein: das Konzept der Ma‘at ist gleichzeitig sehr umfassend und sehr konkret. Es umfasst die Armen und Besitzlosen, wird initiiert von ihnen, genauso wie die Rechtssprechung, die Zirkulation der Luft wie den Sonnenlauf. Das Planetarische als ein zeitgenössisches Konzept umfasst zwar die Armen und Besitzlosen, geht aber kein dynamisches oder noch nicht einmal spezifisches Verhältnis zu ihnen ein. Die Gerechtigkeit, selbst in seiner zeitgenössischen Form als Klimagerechtigkeit, umfasst als philosophische Konzeption die Natur nicht derart, wie die Ma‘at Sonne und Luft umfasst. Andererseits ist das Theologische, Göttliche nicht wirklich heraus zu kürzen aus der Ma‘at, immerhin ist das altägyptische Verständnis des Göttlichen ein innerweltliches, wie Jan Assmann heraus stellt (S.18). Hier ergibt sich ein Vorbild der Ma‘at für das weiter zu entfaltende Prinzip Erde, in Abgrenzung vom Planetarischen.
  3. Das Zuhören und die Parrhesie sind konkrete, immanente Praktiken, die auf einander verwiesen den Kern der Ma‘at ausbilden. In der heutigen politischen Realität kommt das Zuhören zu kurz, daraus ergibt sich der steile Aufstieg des politischen Populismus. Auch wenn z.B. Gadamer pflegte das Zuhören als den Kern seiner Hermeneutik zu bezeichnen, könnte das Auftauchen der Figur des Zuhörens in der Philosophie immer noch zu sehr nur dem Versuch geschuldet sein, durch Bildlichkeit ein breiteres Publikum erreichen zu wollen, akzidentiell zu sein und nicht grundlegend, wie das in der Zirkulation der Ma‘at der Fall ist. Die Parrhesie ihrerseits ist allzu oft korrumpiert zu und verdeckt von der hohlen Geste des „das wird man doch wohl sagen dürfen“, in der sich mehr eine Befindlichkeit ausdrückt und weniger die Wahrheit gesagt wird. Die Zirkulation der Ma‘at umfasst auf eine praktische Art und Weise die Sonne, vielleicht liegt darin prinzipiell ein weiterer Keim einer Idee.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership