Starke Prinzipien, schwache Prinzipien

Starke oder schwache Prinzipientreue sollte man nicht verwechseln mit starken oder schwachen Prinzipien.

Jörg Ossenkopp
6 min readJun 13, 2022
Stable Diffusion [CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication]

Bei Prinzipien, nicht nur in Mathematik oder Physik sondern genauso in der Philosophie, wird dann und wann die Unterscheidung von stark und schwach angelegt. Das hat nichts mit Prinzipientreue zu tun. Am Beispiel des Kausalitätsprinzips lässt sich dies verdeutlichen — insbesondere, weil es von diesem Prinzip eine starke und eine schwache Version gibt.

Das Kausalitätsprinzip ohne weitere Qualifizierung besagt, aus gleichen Ursachen entstehen gleiche Wirkungen. Das schwache Kausalitätsprinzip setzt eine exakte Gleichheit voraus: nur wenn die Ursachen wirklich exakt gleich sind, bewirkt Kausalität auch die gleichen Ursachen. Das starke Kausalitätsprinzip im Unterschied dazu versteht Kausalität breiter, derart, dass nicht nur exakt gleiche sondern auch ähnliche Ursachen ungefähr gleiche Wirkungen entstehen lassen. Der Unterschied von schwach und stark bei diesem Prinzip liegt in der Bündelungskraft der Kausalität: das starke Kausalitätsprinzip behauptet ein gewisses Kohäsionsfeld der Ursachenvarianten, so dass auch bei leicht unterschiedlichen Ursachen aus diesem Kohäsionsfeld dennoch gleiche Wirkungen entstehen. Das schwache Kausalitätsprinzip dagegen geht von einer sofort einsetzenden Auffächerungstendenz der Ursachen aus. Leichte Unterschiede führen demzufolge zu einer derartigen Auffächerung und Varianz der Wirkungen, dass diese nicht mehr als gleich gelten können.

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Das starke Kausalitätsprinzip ist somit eine weitergehende und damit schwergewichtigere Aussage, folglich schwerer zu verifizieren. Und wenn ein Prinzip als „zu stark“ eingeschätzt werden muss, dann verliert es seine Verifizierbarkeit. Ein schwaches Prinzip andererseits hat einen engeren Gültigkeitsbereich und ist somit weniger schwer zu verifizieren. Wenn es dagegen „zu schwach“ wird, verschwindet seine Spezifizität und Aussagekraft und es wird in der Folge trivial.

Prinzip und Prinzipiiertes setzen einander, sagt Meister Eckhart. Gott in seinem Verhältnis zur Schöpfung kann als ein Paradebeispiel eines starken Prinzips gelten. Und gleichzeitig ist diese Spielart der Ausprägung von starkem Prinzip und Prinzipiiertem natürlich viel eher ein theologischer oder religiöser als ein philosophischer Akt.

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Was heißt das jedoch, wenn das setzende Prinzip in solch einer Konstellation sich als ein schwaches Prinzip darstellt? Ein starkes Prinzip steht in einer sehr engen Verbindung mit dem Prinzipiierten, mit einer derartig wirkmächtigen und homogenen Kohäsion, dass man sagen kann, ersteres bedinge letzteres. Bei einem schwachen Prinzip dagegen wird die enge Kohäsion abgeschwächt zu einer vielfältigeren Relation. Das Prinzipiierte verliert dabei die eineindeutige Bedingtheit durch das Prinzip. An die Stelle des einen Prinzips können somit sogar mehrere Prinzipien treten, was wiederum das Prinzipiierte vielfältiger ausfächern lässt.

Wenn man die Frage von stark und schwach in Bezug auf das Prinzip der Meinungsfreiheit stellt, ergibt sich, dass es eher ein schwaches Prinzip ist. Es hat vielfältige Relationen zu seinem Prinzipiierten, das zudem selbst heterogen ist: es gibt keine staatliche Zensur, es gibt ein breiteres Feld von Meinungen im öffentlichen Diskurs, sogar in privaten Diskussionen wird anders diskutiert und man fühlt sich anders, hat weiter gehende Möglichkeiten des Ausdrucks. Das Prinzip der Meinungsfreiheit bedingt die Diskursform nicht als einziger Faktor, und nicht zuletzt deshalb ist es kein starkes Prinzip. Es ist in unterschiedlichen politischen oder historischen Situationen stets unterschiedlichen Einschränkungen unterworfen. Andererseits ist es auch nicht beliebig, nicht trivial in seiner Formungskraft für einen Diskurs.

Heraklits Feuer dagegen ist ein starkes Prinzip, aus ihm geht der Weltenbau hervor, alle Dinge sind ihm zufolge aus Feuer zusammengesetzt und lassen sich am Ende durch Feuer erklären. Zum Feuer-Prinzip passt dann auch Heraklits Idee des Kriegs als Vater aller Dinge. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass man Heraklits Prinzip des Feuers als zu stark einschätzen muss; wie es genau zu verstehen und zu verifizieren ist, das verlor sich in den Jahrhunderten seiner Überlieferung.

Meister Eckharts theologischer Akt, das Begriffspaar von Prinzip und Prinzipiatum als gegenseitig gesetzt aufzufassen, ist einer der ersten Akte, die dieses Begriffspaar überhaupt als solches explizit ausführen. Bei Heraklit findet sich dieses Begriffspaar nicht, in der Einführung der Meinungsfreiheit in Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 wird Meinungsfreiheit noch nicht einmal als Prinzip gefasst, sondern eben als ein Menschenrecht.

Wenn man versucht, Meister Eckharts theologischen Akt als einen philosophischen Akt zu rekonstruieren, verlangt das einige Modifikationen. Denn das Gottesprinzip als Prämisse gilt in der Theologie, in der Philosophie gilt es nicht. Die dadurch entstandene Leerstelle kann durch eines oder mehrere Prinzipien gefüllt werden, die dann wiederum zunächst als eher als schwache gefasst werden sollten.

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Die erste Modifikation besteht darin, dass der theologische Akt nun in der philosophischen Betrachtung auseinander fällt in einen Akt des geschichteten Geschichtenerzählens und der davon unabhängigen Verifikation. In philosophischer Perspektive ist Bibelexegese ein Geschichtenerzählen, eine Narration, die sich auf eine weitere Narration (oder ein Ensemble von Narrationen, im Falle der Bibel) bezieht, die über der Schicht der ersten Narration weitere Schichten bildet. Der Verifikationsstil, der für den Umgang mit der Bibel hier einschlägig ist, muss extern aus der Philosophie als ein religiöser oder theologischer rekonstruiert werden, der auf den Glauben referiert, eine Offenbarung oder auf weitere Bibelstellen. Nicht Gott und auch nicht die Bibel, sondern dieses Geschichtenerzählen selbst ist als ein philosophisches Prinzip zu fassen, eben als das Prinzip der Fiktion und dem nachgeordnet eine philosophische Analyse der Verifikationsstile. Dieses Prinzip Fiktion wiederum lässt sich philosophiegeschichtlich zurückverfolgen bis an den Anfang der Philosophie in Griechenland und bis an den Umschlag des griechischen Wortgebrauchs von arché, wo es nicht mehr nur Anfang oder Herrschaft meinte, sondern eben auch im philosophischen Sinn „Prinzip“.

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Eine weitere Modifikation, die sich durch jene Auffächerung von Prinzipien und Prinzipiiertem ergibt, ist die Enttheologisierung der Schöpfung, die dann als wissenschaftlich erfassbarer Planet Erde, der als Prinzipiiertes verstanden wird und seinerseits wiederum ein philosophisches Prinzip Erde setzt, das dann zunächst als ein schwaches gelten muss. Der Verifikationsstil bleibt hier wissenschaftlich: geometrisch, astrophysikalisch, meteorologisch, geologisch, geographisch.

Und die letzte in diesem Zug zu berücksichtigende Modifikation, folgend aus der Auffächerung von Prinzipien und Prinzipiiertem, ist der Tatsache geschuldet, dass die Erde nicht alleinstehend im All schwebt. Wenn das Prinzipiierte der Erde das Prinzip Erde setzt, und für ein Verständnis der Erde und für die astrophysikalische Form der Erde die Sonne notwendig ist, so setzt das Prinzipiierte der Sonne das Prinzip Sonne, das das notwendige Gegenüber zum Prinzip Erde ist. Das philosophische Prinzip Sonne thematisiert, wie die ganz aus sich selbst schöpfende Sonne gleichzeitig gibt und zerstört, bis sie am Ende die Erde ingesamt zerstört.

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Diese drei Modifikationen ergeben eine Auffächerung in drei philosophische Prinzipien. Diese Dreizahl ist kontingent. Es gibt vielleicht weitere nicht uninteressante Kandidaten für Prinzipien: das Nichts oder den Abgrund zum Beispiel, dies verlässt jedoch den Kreis der vorliegenden Ausführungen.

Offen bleibt für jetzt: Warum können die Prinzipien Fiktion, Erde, Sonne als erste Prinzipien gelten?

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership