Was ist ein philosophischer Akt?

Jörg Ossenkopp
4 min readMay 18, 2022

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Das Lehnwort aus dem Lateinischen, Akt, ist ein anderes Wort für Handlung. Die archetypische philosophische Handlung ist das Denken. Der Hegelsche Halbsatz, etwas „in Gedanken erfassen“ impliziert dabei eine sehr weitgehende Konkretion dieses „Etwas“, sodass es in Gedanken überhaupt „erfassbar“ wird. Dafür dass überhaupt etwas erfasst werden kann, ist ein gewisses Maß an Konkretheit vonnöten, die der Welt der Gedanken zumeist abgeht. Gedanken sind etwas zwischen Sprachlichem und Bildlichem und ihre Konkretion ist etwas, bei dem körperliche Vorgänge zusammenspielen mit einer potentiellen Beschreibbarkeit, die Bewusstsein ausmacht. Der philosophische Gegenbegriff zum Akt ist die Potenz, zur Handlung die unrealisierte aber realisierbare Möglichkeit.

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Das Denken selbst balanciert immer auf der Grenze von Handlung und Möglichkeit, ist immer dabei, sich selbst und die eigenen Spuren zu verwischen. Reines Denken ist dem Träumen am verwandtesten. Wenn Denken immer an die eigene Körperlichkeit gebunden ist, so wäre der maximale Effekt eines philosophischen Denkakts, Strukturen des eigenen Denkens zu verwischen, Grenzziehungen aufzulösen und hinter sich zu lassen. Der Wirksamkeitszenith des nur denkenden philosophischen Denkakts wäre endlich, die Verbindung zur Körperlichkeit aufzulösen. Descartes’ Cogito-Meditation geht in diese Richtung, wobei er noch dem Glauben anhing, dass das Denken eine eigene Kohäsion hätte und unabhängig von der Körperlichkeit sei.

Aufgrund dieses verschwindenden oder gar verschwindend-machenden Charakters des Denkens wird das philosophische Denken als Akt eigentlich immer durch Sprechakte oder Schreibakte begleitet oder in sie transformiert. Oft wird auch ein Ensemble von Denk- und Schreibakten pars pro toto als Denken bezeichnet. Ein nur denkender philosophischer Akt wird es jedoch stets schwer haben, sich zu einer Intersubjektivität zu erweitern oder eine soziale Wirksamkeit zu entfalten und sich mehr als ein Traum zu manifestieren.

Wenn es also um einen philosophischen Sprech- oder Schreibakt geht, ist man immer schon in Sprach- und Schreibsystemen verfangen.

Wenn dagegen ein Denk-Akt von einem Schreib-Akt begleitet wird, so ergibt sich zuerst die Schwierigkeit des adäquaten Ausdrucks. Die Polymorphie des Denkens führt immer zu einer Beschneidung im Aufgeschrieben-Sein des Gedankens. Und die Volatilität des Denkens führt zu einer Auflösung der Relation qua Aufgeschrieben-Sein zwischen Gedanken und Sätzen. Der Gedanke verschwindet und was zurückbleibt, sind die Sätze. Wenn man sein eigenes Geschriebenes aufmerksam periodisch wieder liest, fällt einem dieser allmähliche Prozess auf. Natürlich gibt es einen persönlichen Gedanken-Stil, wie es auch einen Schreib-Stil gibt (im Übrigen gibt es auch einen persönlichen Träum-Stil), und es gibt bestimmte Fragen, die einen nicht loslassen. Dennoch, bei der Relektüre fällt irgendwann auf, dass man die anfängliche Relation des Aufgeschrieben-Seins aus der Relektüre inzwischen nicht mehr rekonstruieren kann. Das Aufgeschriebene verdeckt dann den anfänglichen Gedanken und beginnt, seine eigene Polysemie in den Lektüren auszutreiben.

Zusammengefasst kann man sagen, das sind die vier großen Kategorien der philosophischen Akte: Denken, Reden, Schreiben, Lesen. Diese Kategorien sind in historisch unterschiedlichen Ausformungen und Bewertungen auszumachen. Platon sah das Denken und Sprechen als wertvoller an als das Schreiben und Lesen. Das Denken war als Wiedererinnerung an ein kosmisches Wissen gefasst. Der Dialog war die herausragende Form des philosophischen Sprechakts.

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Im Übergang von Aufklärung zum Idealismus war das System die prämierte Form des Aufschreibens und das Aufschreiben war nur die Vorform des gedruckten, oft mehrbändigen Werks. Der Vortrag wurde zur wichtigsten Spielart des philosophischen Sprechakts.

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Heutzutage ist nicht das System, sondern das Systematische oder das Anschlußfähige, das philosophische Akte oft als Paradigma ausführen.

Schließlich, was einen philosophischen Akt von einem nicht-philosophischen unterscheidet, das würde ich vorschlagen so weit wie möglich zu fassen. Jeder Akt, der sich mit Philosophie beschäftigt, der Philosophisches wiederholt, sogar einer, der explizit verneint, philosophisch zu sein, ist philosophisch. Philosophische Akte sind als philosophische unabhängig vom Status des oder der Philosophierenden oder von dem Ort oder der Situation, an dem er vollzogen wird. Zwar detailliert der Philosoph Bernard Stiegler (Zum Akt, Merve 2007), dass der Übergang von philosophischer Potenz zu philosophischem Akt seine Konstitution zu einem Philosophen ausgemacht hat, und sagt, dass jede*r von uns ein philosophisches Potential hat, doch überhöht er den Übergang zum Akt durch seine autobiographische Aufladung, denn jede*r von uns ist auch zu einem philosophischen Akt fähig.

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In einem philosophischen Seminar wimmelt es von philosophischen Akten, aber auch auf einem Foto-Shooting von Influencern werden vielleicht philosophische Akte vollzogen (wenn jemand sich dort zum Beispiel die Frage stellt „Was ist der Sinn von all dem hier?“). Es ist für den Status eines philosophischen Aktes als philosophischem unerheblich, ob er von Heidegger, Bernard Stiegler oder von einer Influencerin vollzogen wurde — für die Interpretation eines philosophischen Aktes dann jedoch nicht, und vielleicht auch nicht für eine Qualitätsbewertung.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership