Wir sind ein Versuch der Erde, sich selbst zu verstehen

Dieser Versuch kann gelingen und er kann genauso scheitern, das ist noch nicht entschieden, offensichtlich.

Jörg Ossenkopp
3 min readJun 19, 2022
„We are Nature defending itself”, Quelle: Peter Kalmus

Eine grobe Skizze des Gelingens wäre: die Grundbausteine der Erde (vielleicht Quarks, Leptonen und Bosonen oder vielleicht Strings) und damit des Universums sind bekannt, die Gesetze ihrer Bewegung und Mischung bis hin zu Atomen sind formuliert. Die Kombinationsmöglichkeiten von Atomen zu Elementen, von Elementen zu anorganischen Verbindungen sind katalogisiert. Die Interaktion der physikalischen Grundkräfte von Gravitation, Elektromagnetismus, schwacher und starker Kernkraft mit den Grundbausteinen, Atomen, Elementen und anorganischen Verbindungen sind dokumentiert und in Versuchsanordnungen replizierbar. Alle anorganischen Strukturen, die sich daraus aufbauen: Erdschichten vom Erdkern bis zu den Gebirgen, der Mond und seine Gravitation, Erdplattentektonik und Gezeiten, sind modelliert und ihr zukünftiges Verhalten ist zuverlässig berechenbar.

Der Sonderfall der Kohlenstoffverbindungen ist besonders gut durchleuchtet. Kohlenstoff ist das Element, das sich am Vielfältigsten und am Einfachsten mit anderen Elementen verbindet, organische Verbindungen eingeht. Auch die Entstehung von Leben als einer Kombination von organischen kohlenstoffbasierten Amino- und Nukleinsäuren — wohl in einer geschützten Hülle von anorganischen Silikaten — ist verstanden, wenn der Versuch der Erde, sich selbst zu verstehen, gelungen ist.

Derzeit sind es — soweit wir wissen — nur Kohlenstoffverbindungen, die überhaupt verstehen können, Silizium ist noch nicht so weit. Kohlenstoff ist zumeist entstanden in großen Sonnen, in denen sich der Großteil der Wasserstoffelemente schon zu Heliumelementen zusammen geschlossen hatten, und dann unter zunehmender Einwirkung von Gravitation und starker Kernkraft jeweils drei Heliumelemente zu einem Kohlenstoffelement verschmolzen.

Insofern ist das Ganze dann gleichzeitig der Versuch des Universums, sich selbst zu verstehen.

Natürlich hört der Versuch, sich selbst zu verstehen nicht mit dem Verstehen der Entstehung des Lebens auf. Dazu gehört auch die Interaktionen des Lebendigen mit anderem Lebendigen, mit den Strukturen des Anorganischen und den physikalischen Grundkräften. Das schließt dann das Soziale mit ein, genauso das Politische und sogar das Philosophische sowie die Werte und Prinzipien all dieser.

Letzteres Verstehen kommt schließlich einer Hermeneutik der Hermeneutik gleich, die dann beide, kosmische und historische, in einem philosophischen Akt des Verstehens ineins zusammenfallen, ineins verschmelzen. Dies zu antizipieren in der für uns jetzt einzig zugänglichen historischen Reihe philosophischer Akte erscheint wünschenswert, folglich ist das sich selbst als kosmisch verstehende Prinzip Erde ein Versuch solcher Antizipation, nicht anders das Prinzip Sonne.

Das Scheitern wird spätestens jetzt als naheliegender erscheinen.

Und das Scheitern liegt nicht nur an der unglaublichen Komplexität der Materie, die es zu verstehen und zu berechnen und vorherzusagen gilt. Es kann sein, dass wir und unsere Nachfahren in unseren Verstehenskapazitäten insgesamt doch zu wenig Potential besitzen für diese unglaublichen Komplexitäten. Vielleicht werden wir zusammen mit siliziumbasierten Formen des Verstehens in der Kollaboration genug Kapazitäten entwickeln können, doch ist das alles andere als sicher.

Besonders nahe liegt das Scheitern, weil wir — als Versuch des Verstehens — in diesem Versuchen selbst unsere eigenen Grundlagen untergraben. In unserem Versuch des Entdeckens und Erhellens verdecken und verdunkeln wir gleichzeitig zu viel.

Seit ein paar Jahren hat zum Beispiel das geschätzte Gesamtgewicht der von Menschen hergestellten Dinge das geschätzte Gesamtgewicht der gesamten Biomasse der Erde überschritten. Beton, von Menschen hergestellt und basierend vor allem auf Kohlenstoff und Silizium, wird als Stoffverbindung in seinem irdischen Gesamtgewicht nur noch von Wasser übertroffen. Die Infrastruktur, die wir uns bauen in unserem Versuch der Erfassung der Erde, droht die Ökosysteme zu erdrücken, was dann zu einer radikalen Umformierung der Systeme führt und auch uns als Verstehensversuch wenigstens zurückwirft wenn nicht sogar in Gänze scheitern lässt. Und wir verstehen jetzt bereits genug von Werten und Prinzipien, um einschätzen zu können, wie schlecht das wäre und wieviel Leid dabei entsteht. Auch hier sind die Prinzipien Erde, Sonne und zudem Fiktion der Versuch, die eigenen Grundlagen etwas weniger zu untergraben, Handlungsanweisungen zu formulieren und Ambivalenzen und Heuchlerei zu reduzieren, sodass man das Richtige nicht nur kennt, und nicht nur sagt, dass man das Richtige tut, sondern es eben am Ende tatsächlich auch im Akt realisiert.

So ist es zum Beispiel besser, über die Erde und ihre Ökosysteme nachzudenken, Arbeit am Prinzip, als sich das Ganze weltraumtouristisch selbst aus dem Orbit anzuschauen, um eine beeindruckende Erfahrung genießen zu dürfen, die dann womöglich nur als Datei im persönlichen Fotoalbum zwischen Burning Man und einem Hubschrauberflug über Hawaii abgelegt wird.

--

--

Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership