Die EU spielt mit den Zahlen — und stiehlt unsere Zukunft

Johannes Stangl
7 min readOct 6, 2020

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Übersetzung des Originalartikels “The EU is cheating with numbers — and stealing our future” von Luisa Neubauer, Greta Thunberg, Adélaïde Charlier, Anuna de Wever van der Heyden

“Wir wissen, dass wir nicht im Einklang mit dem Pariser Abkommen stehen, wir haben nie gesagt, dass wir es sind. Aber wir müssen die Öffentlichkeit langsam mitnehmen.”

Wir vier sind in den letzten zwei Jahren mit einer ganzen Reihe von führenden Politiker*innen der Welt zusammengetroffen, und Sie wären wahrscheinlich überrascht, wenn Sie einige der Dinge hören würden, die sie sagen, wenn die Kameras und Mikrofone ausgeschaltet sind. Wir könnten viele Artikel darüber schreiben.

Und vertrauen Sie uns, das werden wir auch.

Eine der größten gegenwärtigen Bedrohungen der Menschheit ist der Glaube, dass wirklich ausreichende Klimaschutzmaßnahmen ergriffen werden, dass sich um das Notwendige gekümmert wird — obwohl das in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Die Zeit für “kleine Schritte in die richtige Richtung” ist längst vorbei, und doch ist dies — bestenfalls — genau das, was unsere führenden Politiker*innen zu erreichen versuchen. Sie stehlen uns damit buchstäblich unsere Zukunft direkt vor unseren Augen.

Die vorgeschlagenen 55%, 60% oder sogar 65% CO2-Emissionsreduktionsziele der EU bis 2030 sind bei weitem nicht ambitioniert genug, um mit dem Ziel des Pariser Abkommens von unter 1,5°C oder auch nur mit dem “deutlich unter 2°C”-Ziel in Einklang zu stehen.

Unsere Demokratie ist vollständig davon abhängig, dass die Bürger*innen über Themen informiert werden, die sie betreffen, und es ist ziemlich beunruhigend — gelinde gesagt — dass über diesen Sachverhalt nicht genau berichtet wird, zumal die Klimakrise über die Zukunft der Menschheit entscheiden wird. Deshalb haben wir hier die Gründe zusammengetragen warum diese vorgeschlagenen Ziele bei weitem nicht ausreichen. Bitte tragen Sie dieses Wissen in die Welt hinaus.

  • Die vorgeschlagenen Reduktionen innerhalb der Europäischen Union sollen ausgehend von dem Basisjahr 1990 erfolgen. Da die EU bereits — nach einem sehr langsamen Emissionsreduktionstempo in den letzten 30 Jahren — ihre territorialen Emissionen um etwa 23% reduziert hat, bedeutet dies, dass das von der EU-Kommission angekündigte Reduktionsziel von 55% tatsächlich eine Reduktion um 55% minus 23% gegenüber dem Niveau von 1990 bis 2030 darstellt. Gegenüber dem heutigen Niveau würde dies eine Reduzierung unserer Emissionen um etwa 42% bedeuten. Und dies bedeutet offensichtlich ein ernsthaftes Zurückschrauben der Ambitionen. Darüber hinaus sind die Reduktionen der EU seit 1990 — zu einem großen Teil — darauf zurückzuführen, dass wir unsere Industrie in andere Teile der Welt verlagert haben. Schauen wir uns Schweden als Beispiel an. Hier sind nach offiziellen Angaben die CO2-Emissionen seit 1990 um ca. 27% gesenkt worden. Wenn wir jedoch den Gesamtverbrauch (importierte Waren, die außerhalb des Landes hergestellt werden) sowie den internationalen Flug- und Schiffsverkehr (die in den offiziellen internationalen Zahlen der Berichterstattung immer ausgeschlossen sind) mit einbeziehen, gleicht der Anstieg dieser drei Bereiche ALLE gesenkten Emissionen innerhalb der schwedischen Grenzen aus. Tatsächlich sind die Emissionen Schwedens also überhaupt nicht zurückgegangen. Sie wurden nur exportiert oder durch kreative CO2-Bilanzierung versteckt — eine Methode, die in ganz Europa und der ganzen Welt angewandt wird. Das Entscheidende ist: Wenn die Staats- und Regierungschefs der EU versprechen, die Emissionen bis 2030 um 55% gegenüber dem Niveau von 1990 zu reduzieren, müssen sie von Anfang an ehrlich sein und der Öffentlichkeit mitteilen, dass dies einer Reduzierung von nur etwa 42% gegenüber dem Niveau von 2018 entspricht. Und natürlich noch weniger gegenüber den derzeitigen Werten, wenn man die Reduktionen berücksichtigt, die aufgrund der Coronakrise erfolgt sind. Die Staats- und Regierungschefs müssen auch transparent machen, dass dieses Ziel nur einen Teil der gesamten EU-Emissionen erfasst, da der Rest importiert und nicht angerechnet wird. Dies wird im Folgenden erläutert.
  • Die vorgeschlagenen Reduktionen umfassen weder den internationalen Flug- und Schiffsverkehr noch den Verbrauch von außerhalb der EU hergestellten Gütern. Wenn zum Beispiel Ihr Laptop in China hergestellt wird, Ihre Schuhe in Indonesien, Ihre Jeans in Bangladesch, Ihre Jacke in Indien, Ihr Kaffee in Kenia, Ihr Smartphone in Südkorea und Ihr Rindfleisch in Brasilien — dann wird im Grunde nichts davon als Emissionen innerhalb der EU angerechnet. Und eine kurze Zugfahrt von Köln nach Aachen wird zu mehr Emissionen in der EU Bilanz führen als ein Flug nach Buenos Aires oder Bangkok und wieder zurück. Dieses Problem wird durch den vagen Vorschlag zukünftiger Border Carbon Adjustments (BCA) nicht “behoben”. Die Reduktionsziele und Statistiken der EU müssen alle Emissionen der EU einbeziehen.
  • Die vorgeschlagenen Reduktionen beinhalten nicht den Aspekt der Klimagerechtigkeit, der für das Funktionieren des Pariser Abkommens auf globaler Ebene absolut unerlässlich ist. Die Nationen der EU haben sich eindeutig verpflichtet, eine Vorreiterrolle zu übernehmen und den Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen die Chance zu geben, einen Teil der Infrastruktur aufzubauen, die wir bereits aufgebaut haben — das meiste davon durch die Nutzung fossiler Brennstoffe in den letzten zwei Jahrhunderten. Zum Beispiel Straßen, Krankenhäuser, sauberes Trinkwasser, Schulen, Elektrizität und so weiter. Wenn wir es nicht schaffen, die Führung zu übernehmen und voranschreiten, wie wir es versprochen haben, wie können wir dann erwarten, dass Länder wie China und Indien ihren gerechten Beitrag leisten werden?
  • Die beliebte Idee, unsere Emissionen bis 2030 zu halbieren (ab 2010, nicht die für die EU günstige Basis 1990…) basiert auf einem CO2 Budget, das uns nur eine 50%ige Chance gibt, unter 1,5°C zu bleiben. Aber diese Chancen setzen voraus, dass die natürlichen Ökosysteme, der Ozean und die Eisschilde stabil bleiben, d.h. dass diese keine Kipppunkte überschreiten, die Rückkopplungsschleifen auslösen, die die Erwärmung beschleunigen würden. Dazu gehören zum Beispiel die Emissionen von Waldbränden, das Waldsterben durch Krankheiten und Dürre, der verringerte Albedo-Effekt durch verschwindendes Meereis oder der schnell auftauende arktische Permafrost mit der Freisetzung von Methan. Auch die zusätzliche bereits passierte Erhitzung, die im Moment durch toxische Luftverschmutzung verdeckt wird und alleine 0,5–1,1°C betragen könnte, gehört nicht zu diesem Szenario, genauso wenig wie die Prinzipien der Klimagerechtigkeit. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass in Zukunft enorme Mengen an CO2 mit Technologien entzogen werden, die in dem angenommenen zeitlichen Rahmen höchstwahrscheinlich nicht existieren werden. Die 50%ige Chance ist also in Wirklichkeit viel geringer als eine 50%ige Chance.

Es gibt natürlich noch andere Schlupflöcher im EU-Reduktionsvorschlag, wie das brandneue Business-as-usual-Argument der Einbeziehung von Kohlenstoffsenken in die Ziele auf dem Weg zu “Netto-Null”. Mit anderen Worten: die Existenz von Wäldern soll als Entschuldigung dienen, die Emissionen nicht zu reduzieren.

“Die Einbeziehung von besagten Senken bedeutet, dass das neue 55%-Ziel effektiv weniger als 50% des derzeitigen Ziels betragen würde”, sagt der Klimawissenschaftler Bert Metz, der von 1997 bis 2008 die Arbeitsgruppe für die Mitigation des Klimawandels des UN Intergovernmental Panel on Climate Change(IPCC) mit leitete. Andere meinen, die Differenz liege eher bei 2%.

Also: 55% minus 23% gegenüber dem Niveau der 1990er Jahre, abzüglich des Verbrauchs von Importgütern, des internationalen Flug- und Schiffsverkehrs, minus weitere 2–5% ist… na ja, Prozentsätze abzuziehen, kann mathematisch ein wenig herausfordernd sein — aber man bekommt eine ungefähre Vorstellung. Der Punkt ist, dass es eine Menge Abzüge von den ursprünglichen Zielvorgaben von 55%, 60% oder 65% bis 2030 gibt.

Zweifellos wird die EU-Kommission argumentieren, dass ein Ausgangswert von 1990 “fair” sei und “warum die EU dafür bestraft werden sollte, dass sie vor 30 Jahren mit der Reduzierung ihrer Emissionen begonnen hat”? Nun, die Antwort ist, dass wir in Wirklichkeit damals nicht damit begonnen haben, unsere Emissionen zu reduzieren. Wir haben sie einfach ins Ausland verlagert und große Teile von ihnen aus den offiziellen Zahlen gestrichen.

Und der Gedanke, dass einigen Nationen und Regionen eine Sonderbehandlung zugestanden werden sollte, wird zweifellos das gesamte Pariser Abkommen gefährden.

Es kann keine soziale Gerechtigkeit ohne Klimagerechtigkeit geben. Und es kann keine Klimagerechtigkeit geben, wenn wir nicht die Tatsache anerkennen, dass wir große Teile unserer Emissionen ins Ausland verlagert haben, indem wir billige Arbeitskräfte und schlechte Arbeitsbedingungen sowie schwächere Umweltgesetzgebungen in den Produktionsländern ausnutzen.

Denn es sind nicht nur diejenigen, die am wenigsten für die Folgen der Klimakrise verantwortlich sind, die am meisten unter den Folgen leiden — wir geben ihnen jetzt auch die Schuld für unsere Emissionen, da sie diejenigen sind, die das Zeug produzieren, das wir kaufen.

Auch wenn jede Reduzierung der CO2-Emissionen sehr zu begrüßen ist, reichen die Vorschläge der EU-Kommission und des Parlaments bei weitem nicht aus. Und dennoch ist die entsprechende Debatte noch immer nirgends zu sehen. Das muss sich ändern, wenn wir wenigstens eine kleine Chance haben wollen, eine Klimakatastrophe zu vermeiden, die bald nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Unsere Staats- und Regierungschef*innen müssen sich der Klimakrise stellen, anstatt neue Schlupflöcher zu schaffen, während sie ihre sogenannten “Versprechen” auf denselben betrügerischen Taktiken aufbauen, die uns erst in diesen Schlamassel gebracht haben.

Wir müssen eines klar stellen: Worauf all diese vorgeschlagenen Ziele und Verpflichtungen hinauslaufen, ist, dass wir — höchstwahrscheinlich — das kleine verbleibende Zeitfenster verlieren, in dem wir das Pariser Abkommen einhalten können. Was wir — zunächst einmal — brauchen, ist die Umsetzung jährlicher verbindlicher CO2 Budgets auf der Grundlage der derzeit besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse, und wir müssen aufhören, so zu tun, als könnten wir die Klima- und Umweltkrise lösen, ohne sie als eine solche zu behandeln — wie wir das in in unserem offenen Brief weiter ausgeführt haben.

Etwa ein Drittel unserer weltweiten CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen wurde seit 2005 emittiert. Über 50 Prozent sind seit 1990 entstanden. Unsere jährlichen Emissionen sind heute so hoch, dass jedes einzelne Jahr des “business as usual” die zukünftigen Lebensbedingungen unzähliger Generationen sowie die Menschen, die heute in den am stärksten betroffenen Gebieten leben, bedroht. Die derzeitigen Entscheidungsträger*innen sind für all das verantwortlich und wenn wir die Klimakrise weiterhin nur auf den Schultern der Wissenschaftler*innen, NGOs und Aktivist*innen abladen, dann werden wir scheitern.

Seit über zwei Jahren wiederholen wir stets aufs Neue unsere Botschaft: Hört auf die Wissenschaft, handelt nach der Wissenschaft. Aber unser Appell dringt eindeutig nicht durch. Die Wissenschaft wird nach wie vor ignoriert.

Gerechtigkeit für die am stärksten betroffenen Menschen in den am stärksten betroffenen Gebieten wird systematisch verhindert.

Die Klimakrise gerät schnell außer Kontrolle. Wenn wir eine Chance haben wollen, dann muss diese Tatsache zu unserem Hauptfokus werden. Die Klimakrise muss das Topthema in den Nachrichten, der Politik und in der gesamten Gesellschaft sein. Und zwar ab heute.

Englischer Originaltext von Luisa Neubauer, Greta Thunberg, Adélaïde Charlier, Anuna de Wever van der Heyden

Foto: François Dvorak

ins Deutsche übersetzt von Johannes Stangl (Fridays For Future Austria)

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Johannes Stangl

Activist at Fridays For Future Austria (https://fridaysforfuture.at/); Student in Computational Science and Philosophy