Warum nicht mal Transformationsblockierer blockieren?

Judith Serviervorschlag
4 min readNov 15, 2021

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Für ein Bewegungspanel Anfang des Jahres habe ich ein paar Gedanken zu einer mögliche strategischen Neuausrichtung der Klimabewegung formuliert. Ich schlage vor, dass die Klimabewegung ihre dezentrale Orga-Power und ihre Blockadeskills nutzt, um transformativen Projekten mit ungehorsamem Biss zu mehr Spielraum, Mitteln und Sichtbarkeit zu verhelfen.

Weil ich weiterhin finde, dass diese Richtung vielversprechend ist, dachte ich ich stell die Notizen mal leicht aktualisiert hier online.

Aktion am Freiburger Rathaus 2019, Foto © Jürgen Baumeister

Es ist in der Gesellschaft angekommen, dass der Preis für eine kapitalistische Wirtschaftsweise immer höher wird, dass 8 Menschen so viel besitzen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, dass wir über Fisch unseren eigenen Müll zu uns nehmen, dass auch hier Böden verarmen, Bäume und Bienen sterben, und so weiter.

Klar definieren kapitalistische Prinzipien unser Leben und die politischen Entscheidungen weiterhin fast unhinterfragt (Stichwort Corona Konjunkturpaket, Subventionen für Großkonzerne, die die Kohle direkt an ihre Shareholder weitergeben usw.). Aber die kapitalistische Ideologie kann die Probleme nicht mehr kompensieren. Es gibt einen Zwiespalt in der Gesellschaft und der wird mit jeder Klimameldung in den Nachrichten größer.
Ich glaube, dass das kapitalistische business as usual sich momentan kulturell hauptsächlich noch über die neoliberale Erzählung von seiner eigenen Alternativlosigkeit im Sattel hält. Für mich bedeutet das: Diese Behauptung von Alternativlosigkeit muss jetzt aufgebrochen werden, um den Kapitalismus zu überwinden. Für 2022 wünsche ich mir, dass wir Klimabewegte ganz massiv mit disruptiven Aktionen den Möglichkeitsraum für die sozialökologische Transformation ausweiten.

Man sollte eigentlich meinen, es müsste reichen, dass wir mit zivilem Ungehorsam und Direkter Aktion die Problematik, ihre Ursachen und die Ungerechtigkeit in den Diskurs holen. Und dass DAS entscheidende Akzente setzt, damit die Gesellschaft sich ändert. Aber im neoliberalen Klima von „there is no alternative“ entpuppt sich dieses Vorgehen gerade als Sackgasse.

Warum? Unter anderem weil gerade auch jede gesellschaftliche Arbeitsteilung total versagt. Eigentlich sollte es noch Akteur:innen geben, die neben uns Bewegungsakteur:innen daran arbeiten, dass das Pariser Abkommen eingehalten wird. Die dafür Projekte ausschreiben, Mittel bereitstellen, Stellen schaffen, Lobbydruck aufbauen. Ich denke hier an NGOs, Gewerkschaften, Stiftungen, Bürgermeisterinnen und Klimaabteilungen in Landesverwaltungen. But they don’t fucking do it. Ich hab das Gefühl, wir denken gar nicht mehr an die, weil wir von vornherein keine Hoffnung in sie hatten. Und wir definieren unsere eigene Routine einfach weiterhin sehr eng als „Problemursache aufzeigen“ — aber was, wenn die Überzeugungsarbeit so weit geleistet ist und die eigentlich naheligende Transformationsarbeit trotzdem unterbunden wird?

Ab 2022 sollte die Klimabewegung mit ihrer Aktionsstrategie zweigleisig fahren:

1. wir führen weiterhin radikal und solidarisch mit Betroffenen Aktionen gegen die Fossilindustrie und andere schädliche Industrien durch
2. Wir fragen uns, was es für eine sozial-ökologische Transformation, für eine post-kapitalistische Gesellschaft braucht und schauen uns um, wo gerade Lösungen entstehen, die wir für die richtigen halten.

Damit meine ich nicht so sehr Theorie. Es gibt schon so viel gute konzeptionelle Papiere in der Klimagerechtigkeitsbewegung dazu wie die Transformation aussehen müsste. Die 24 Forderungen von Ausgeco2hlt oder den Klimaplan von unten zum Beispiel. Ich meine, dass wir mit unseren disruptiven Aktionen konkret Akteur:innen angehen, die jetzt die Umsetzung davon anleiern oder ermöglichen sollen. Dass wir unsere Fähigkeiten, zivilen Ungehorsam oder Direkte Aktion durchzuführen nutzen, um für genau diesen Wandel den Möglichkeitsraum auszuweiten und die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Das kann heißen: Kooperation mit ambitionierten lokalen Projekten, die im Aufbau sind und die Alternative bereits leben. Denen die nötigen Mittel verwehrt oder irgendwelche behördlichen Knüppel zwischen die Beine geworfen werden. In Abstimmung mit diesen postkapitalistischen Projekten könnte dann eine Blockade von entsprechenden Behörden stattfinden, um die konkrete Ermöglichung & Entfaltung dieser Projekte wahrscheinlicher zu machen — um kapitalistische und fossile Alternativlosigkeiten durch den erkämpften Aufbau von Neuem obsolet zu machen.

Oder wir blockieren die größeren Tanker, trantütige NGOs und Gewerkschaften, die die Klimabewegungen am laufenden Meter vereinnanhmen und sich gern als „grün“ begreifen, aber viel zu passiv bleiben. Wir steigen ihnen mit Aktionen wortwörtlich aufs Dach und wir fragen sie, welche aktive Rolle sie im postkapitalistischen Aufbau und in dieser riesigen Transformation einzunehmen gedenken. Sprich wir blockieren, um Akteur:innen daran zu erinnern, genau das zu tun was sie eigentlich längst tun sollten. Das sind nur zwei von unzähligen Beispielen. Worum es mir geht ist, dass wir einen Teil unserer Aktionsenergien auf die Dimensionen der Umsetzung, der konkreten, greifbaren, erlebbaren Alternativen des Kapitalismus lenken.

Warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür?

1: We move beyond Masse & Appell — das ist das auch in Corona Zeiten gut möglich: Eine Festlegung und Verknüpfung mit konkreten Projekten bedeutet eine Dezentralisierung unserer Aktionspower. Wir nutzen den Vorteil unserer dezentralen Gruppenstruktur und haben eine krasse Wirkung an vielen Orten gleichzeitig. In meiner Erfahrung führt die räumliche Nähe zu den Adressat:innen bei einer disruptiven Aktion zu einer viel breiteren und komplexeren unmittelbaren Wirkung.

2: Wir nutzen unsere pluralen Zugänge als Stärke. Von der autonomen Lokal- oder Bezugsgruppe bis zur bundesweiten Bündnisstruktur gibt es jeweils zur Theory of Change passende Akteur:innen, denen geholfen werden kann oder die gestört werden sollten.

3: Wir sind herausgefordert, uns mit konkreten transformativen Projekten zu connecten.

4: Es geht schneller als wir denken. Es braucht nur wenige Projekte, die den ersten schritt machen und damit unzählige andere inspirieren.

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Judith Serviervorschlag

Kulturtheorie & Klima, Intersektionalität & Transformation, Affekt & Emotionen. Früher mal Bankkauffrau gewesen.