Warum Muslime nicht die neuen Juden sind und Antisemitismus nicht verschwunden ist

Jan Schiffer
7 min readNov 4, 2017

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Einleitung + Überlick

In diesem Beitrag werde ich mich mit einer Phrase beschäftigen, die man trotz ihrer auch ohne größere Theoriekenntnisse offensichtlichen Falschheit am laufenden Band von Bauchlinken, Islamapologetiker*innen und besorgten Demokrat*innen hört: Mit der Behauptung, die Muslime seien die neuen Juden.

In diesem Zusammenhang werde ich auch anreißen, wie es mit der Struktur des Antisemitismus und seiner heutigen Verbreitung aussieht, und versuchen, anzudeuten, wo der Unterschied zwischen “antimuslimischen Rassismus” (darüber, ob dieser Begriff so korrekt ist, werde ich auch reden) und Islamkritik liegt, sowie auch Ansätze einer Kritik der verbreitetsten Form von Islamkritik formulieren. Dies alles wird stark vereinfacht und verkürzt geschehen, da andernfalls ein Buch mit vierstelliger Seitenzahl zur erschöpfenden Behandlung dieses Komplexes nötig wäre. Trotzdem habe ich das Ziel, auf dem Altar der Einfachheit nicht die Wahrheit zu opfern, falls an einer Stelle also all zusehr die Komplexität des Themenbereiches ihre Berücksichtung verliert, bitte ich, mich darauf hinzuweisen

Entstehung und Struktur antisemitischer Ideologie

Vorneweg: Doppelcharakter der Ware 101

Da die Antisemitismustheorie, die ich hier anreiße, auf der marx’schen Analyse der Warenform aufbaut, muss der für die Antisemitismusanalyse zentrale Punkt hier noch kurz benannt werden: Der Doppelcharakter der Ware. Diese Erläuterung ist nur dazu da, dass später Gesagte besser verständlich zu machen, eine generelle Einführung in die marxistische Analyse der Warenform würde hier zu weit vom eigentlichen Thema wegführen.

Im ersten Kapitel des Kapitals führt Marx die für seine Gesamttheorie zentrale Analyse der Warenform ein. Er enthüllt den Doppelcharakter der Ware:

Die Ware ist einerseits Gebrauchswert. Dies ist die konkrete materielle Beschaffenheit des Dings und seine Nützlichkeit.

Der Doppelcharakter der Ware, dargestellt von der Platypus Society

Andererseits ist die Ware Tauschwert, dies bezeichnet das rein quantitative Verhältnis, in dem sie gegen Ware x (meist Geld) ausgetauscht werden kann. Der Tauschwert ist abstrakt und universell.

Historische Genese des Antisemitismus als Nachfolger des Antijudaismus für die bürgerliche Gesellschaft

Entstehen konnte der Antisemitismus auf Grundlage materieller Umstände, zu deren Schaffung im Wesentlichen der christliche Antijudaismus beitrug:

Als ständiges Fragezeichen am Christentum und als vermeintliche Jesusmörder (das dies historisch schlicht falsch ist, ist eine andere Sache) war das Judentum schon lange Feindbild der christlich-abendländischen Gesellschaften, jedoch anders als beim späteren Antisemitismus auf religiöser Grundlage.

Zu den Maßnahmen, die Pöbel und Institutionen gegen Juden ergriffen, zählten Pogrome, die zur Flucht und damit zur weiter Kosmopolitisierung des Judentums beitrugen, sowie Berufsverbote durch ein Verbot des zur Ausübung eines Handwerks verpflichtenden Zunfteintritts, welche die für Juden zugänglichen Berufsfelder massiv einschränkten und damit einer der beiden Faktoren war, die Juden in recht starkem Maße in die Finanzbranche trieben. Der andere Faktor war die Tatsache, dass vielen Christen aus religiösen Gründen die Forderung nach Zinsen untersagt war, während dies bei Juden aufgrund der vergleichsweise undogmatischen jüdischen Praxis nicht der Fall war.

Die Herausbildung des modernen Antisemitismus

Mit Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und (bis heute unvollendeter) Säkularisierung der Gesellschaft durch die Aufklärung trat das religiöse Motiv innerhalb des Judenhasses zunehmend in den Hintergrund. (Bis heute existiert religiös motivierter Antijudaismus jedoch in nicht allzu niedrigem Ausmaß weiter)

Stattdessen bildete sich auf Grundlage des jüdischen Kosmopolitismus, der materiellen Verquickung einiger jüdischer Personen mit dem Finanzsektor sowie antijudaistischer Verschwörungstheorien ein neues antijüdisches Feindbild heraus:

In dieser Karikatur des NSDAP-”Stürmers” zeigt sich die Grundstruktur des Antisemitismus: Die Verschwörungstheorie, dass das Judentum, gesteuert von einer Zentrale (dem Kopf der Krake), die komplette Welt in seinen Händen hält

Die für die meisten Menschen unbegriffene Doppelgestalt von Ware und Arbeit sowie die allgemeine Uneinsicht in die komplexen, dem Menschen wie etwas ihm Fremdes gegenüberstehenden Marktgesetze führten zu einem theoretisch nicht fundierten Unbehagen in der bürgerlichen Gesellschaft, die Widersprüche und materiellen Probleme mussten also, ebenso wie die durch die Globalisierung hervorgerufene Verwischung der nationalen Grenzen sowie das Herabreißen des “ rührend-sentimentalen Schleier[s]” (Marx) der Familienverhältnisse, anders erklärt werden. Der abstrakte Wert wurde mit dem kosmopolitischen, “heimatlosen” Juden assoziiert und im Gegensatz zu dem konkreten Gebrauchswert und dem mit ihm identifizierten lokal verankerten, bodenständigen Deutschen gedacht.

Aufgrund des Mangels an Verständnis für die realen Zusammenhänge wurde die jüdische Weltverschwörung zur Ursache von allen Problemen, das “raffende”, jüdische Kapital, welches nur abstrakt mit Geldmengen jongliere, wurde als zersetzender Gegenspieler des “schaffenden”, deutschen, konkrete Güter produzierenden Kapitals dargestellt. Klar formuliert wurde dies im 25-Punkte-Programm der NSDAP:

Wir fordern den rücksichtslosen Kampf gegen diejenigen, die durch ihre Tätigkeit das Gemein-Interesse schädigen. Gemeine Volksverbrecher, Wucherer, Schieber usw. sind mit dem Tode zu bestrafen, ohne Rücksichtnahme auf Konfession und Rasse (Quelle)

Die zwingend eliminatorische Stoßrichtung des Antisemitismus

Der Jude war in der antisemitischen Propaganda, entgegen anderen Wortlautes in der Propaganda, inhaltlich der Übermensch: Geschickt zieht er, geleitet vom übermächtigen Rat der Weisen von Zion, versteht sich, die Fäden, völlig losgelöst von allen Wurzeln verfolgt er seine Ziele, und ist problemlos in der Lage, ganze Nationen zu zersetzen.

Aufgrund der imaginierten weltumspannenden (All-)Macht der Juden lässt sich “die Judenfrage” nicht durch die bloße Ausweisung der Juden lösen. Deshalb ist Antisemitismus, anders als Antijudaismus, zwingend eliminatorisch gegen jedes Individuum mit jüdischen Wurzeln gerichtet.

Dies zeigt sich auch in aller Klarheit in der aus kriegstaktischer Sicht absolut wahnsinnigen Menge an Ressourcen, die in einer Zeit, wo alle mobilisierbaren Kräfte an der Front vonnöten waren, für die industrielle Vernichtung des europäischen Judentums, den Holocaust, bis zuletzt verschwendet wurde.

Antisemitismus heute

Die Unterscheidung zwischen “schaffendem” und “raffendem” Kapital (und der damit begründete spezifische Hass gegen das Finanzkapital) erfreut sich auch heute noch ungebrochener Beliebtheit. Bildquelle

Heute ist Antisemitismus, anders als allgemein angenommen, in verschiedenen Formen weiterhin weit verbreitet:

Zum Ersten gilt festzustellen, dass auch der pure, klassische Antisemitismus deutlich verbreiteter ist als man glauben mag. Dabei wird oft “Jude” einfach durch ein Codewort ersetzt, es wird von “Zionisten”, der “amerikanischen Ostküste” (eine Anspielung auf jüdische Organisationen in New York) oder bestimmten jüdischen Familien und Personen wie bspw. den Rothschilds oder dem Investor George Soros geredet.

Des Weiteren zeigt sich Antisemitismus in Antizionismus: Die Verteufelung Israels, die Leugnung des israelischen Existenzrechts und anti-israelische Verschwörungstheorien, die z.B. den Mossad für 9/11 verantwortlich machen, sind in großen Teilen des Gesellschaft konsensfähig

Insbesondere noch sichtbar ist jedoch der strukturelle Antisemitismus: In diesem findet sich genau wie im Antisemitismus personifizierte Gesellschaftskritik und eine Unterscheidung zwischen “schaffendem” und “raffendem” Kapital, ebenso eine Imagination einer zentral gesteuerten Verschwörung und Entmenschlichung, doch richtet er sich nicht mehr gegen das Judentum, sondern gegen Bilderberger, Banker und unzählige andere Gruppen.

Das Elend des linken Islamdiskurses

“Islamophobie” und Co.: Vulgärlinke Pseudoanalysen des heutigen Rassismus

Der Begriff der Islamophobie ist allgegenwärtig; auch und gerade in Spektren, welches sich selbst als links bezeichnen, wird dieser Begriff geradezu inflationär gegen alle möglichen Phänomene, von marxistischer Religionskritik bis hin zu PEGIDA, verwendet.

Dabei ist die Falschheit dieses Begriffes selbst bei purer Betrachtung des Wortes an sich offensichtlich: Das eine Ablehnung des Islams als Religion kein Rassismus ist, ist ebenso klar, wie die Untauglichkeit der Endung “-phobie” für das bezeichnete Phänomen, da es nicht mehr als Produkt gesellschaftlicher Umstände, sondern eine Erkrankung (eine Phobie → Angststörung) betrachtet wird.

Viele Linke, die dies begriffen haben, versuchen also, den Rassismus, der bei PEGIDA und Co. ja durchaus in enormen Ausmaß vorhanden ist, mit einer anderen Begrifflichkeit zu fassen: antimuslimischer Rassismus. Im Vergleich zum Unwort “Islamophobie” ist dies insbesondere deshalb auch ein enormer Fortschritt, da hier nicht mehr die Religion verteidigt wird, der Islam ist nicht mehr das, was man vor Rassist*innen verteidigen muss, sondern der einzelne Moslem, es wird also das Individuum verteidigt. Doch trotzdem ist dieser Begriff nicht in der Lage, das Phänomen, was er beschreiben will, korrekt zu fassen. Der während des bekannten islamistischen Attentats ums Leben gekommene Charlie Hebdo-Chefredakteur Stéphane Charbonnier, bekannt unter dem Pseudonym Charb, hat dies in seinem Büchlein “Brief an die Heuchler” an diesem Beispiel klargemacht:

Sehen wir uns etwa Mouloud und Gerard an. Beide sind Muslime. Mouloud stammt aus dem Maghreb und kommt aus einer muslimischen Familie. Gerard stammt aus Europa und kommt aus einer katholischen Familie. Gerard ist zum Islam übergetreten. Beide wollen dieselbe Wohnung mieten. Wer von ihnen hat wohl bei gleichem Einkommen die größere Chance, die Wohnung zu bekommen? Derjenige, der wie ein Araber aussieht, oder derjenige, der wie ein echter Franzose aussieht? Nicht dem Muslim wird die Wohnung verweigert, sondern dem Araber.

Das diese Araber*innenfeindlichkeit oft in engem Zusammenhang mit einer falschen Islamkritik geäußert wird, ist kein Grund, hier analytisch unscharf zu werden und unbewusst-implizit ein “islamisches Volk” herbeizuphantasieren.

Richtige und falsche Islamkritik

Das Marxist*innen dem Islam wie jeder Religion kritisch gegenüberstehen, sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Bereits in der Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie formulierte Marx aus, warum Religion und Emanzipation unvereinbar sind, wenn er den Grundsatz aufstellt, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Dazu kommen islamspezifische Komponenten, wie das enorme Bedrohungspotential, welches nicht nur der organisierte politische Islam mittlerweile entfaltet hat.

Eher lächerlich als marxistisch ist dann jedoch die Islamkritik, die leider viele sich selbst links nennende anstelle einer materialistischen Kritik abliefern: In vollem Einklang mit dem modernen Islamismus und PEGIDA reißt man einfach Aussagen aus dem Koran, nimmt diese wörtlich und setzt diese “heilige Schrift” mit dem Islam gleich. Diesen “bösen” islamischen Werten setzt man die eigenen “guten” Werte entgegen und denkt dann, man hätte großartige Ideologiekritik geleistet, obwohl man die Ideologie noch nicht einmal in ihrem inneren Zusammenhang und bezüglich ihrer materiellen Grundlagen analysiert hat. Das eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Texten ein zentraler Ausgangspunkt von Ideologiekritik sein kann und durchaus auch soll, will ich keinesfalls leugnen, wenn sie sich jedoch darauf beschränkt, wird sie ihrem Anspruch nicht gerecht.

Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus

Zu allererst gilt also festzuhalten, dass es nicht um einen Vergleich von “antimuslimischem Rassismus” und Antisemitismus gehen kann, sondern um einen Vergleich von antiarabischen/antitürkischen... etc. Rassismus.

Und hier habe ich im Abschnitt zu Antisemitismus bereits die elementaren Unterschiede angesprochen:

Während der Rassist den Araber als Untermenschen sieht, der dumm und unfähig ist, erblickt der Antisemit im Juden den übermächtigen und raffinierten Gegner.

Während der Rassist als Ziel hat, die Araber dahin zurückzuschicken, wo sie ursprünglich herkommen, ist dem Antisemiten dies ein Graus: Wenn dies geschieht, wird der Hass und der Verschwörungswahn auf das Land projiziert, wie es mit Israel geschieht.

Deshalb ist der Antisemit zwingend an der Vernichtung des Juden interessiert, während sich dies nicht zwingend aus rassistischer Ideologie ergibt.

Antisemitismus und Rassismus sind in historischer Genese, ideologischer Rechtfertigung und Konsequenz grundverschieden. Eine Gleichsetzung entbehrt jeglicher Grundlage.

Literaturempfehlungen:

Charb: Brief an die Heuchler. Tropen-Sachbuch 2015. Erhältlich hier

Marx, Karl:: Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie

Postone, Moishe: Antisemitismus und Nationalsozialismus

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Jan Schiffer

“…alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist”