Zwei Menschen — eine Seele

Karl-Maria de Molina
8 min readNov 14, 2021

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Die Mutter-Sohn-Beziehung

Die Welt kennt viele Mutter-Sohn-Beziehungen. Einige davon waren sehr erfolgreich: Bei römischen Kaisern wie Konstatin und Helena, bei kirchlichen Vertretern wie Agustin und Monika, bei Sportlern wie Felix Neureuther und Rosi Mittermaier.

In diesem Artikel möchte ich die wichtigste und erfolgreichste Beziehung aller Zeiten: Jesus und seine Mutter Maria.

Die Beziehung Mutter-Sohn begann bereits vor der Zeugung. Maria ist die einzige Mutter, die sich für ein bestimmtes Kind entschieden hat: Für den Sohn Gottes. Sie wusste noch vor der Zeugung, dass ihr Sprössling der Sohn Gottes werden würde; und dass er als Erlöser auf die Welt kommen sollte. Bei der Ankündigung durch den Erzengel Gabriel hat Maria ihr Ja genau zu diesem Sohn gesagt. Ihr war klar, sie sagt nicht nur ja zur Mutterschaft, sondern auch zur Miterlösung. Mit ihrem Ja wurde sie Miterlöserin und damit die erste Mitwirkende im Plan ihres Sohnes.

In den ersten Jahrhunderten des Christentums wurde die Mutterschaft Mariens stark betont. Im Konzil von Ephesus im Jahr 431 wurde das Dogma der Mutterschaft des Gottessohnes beschlossen. Im Laufe der Jahre haben die Christen den zweiten Aspekt der Berufung Mariens stärker in den Vordergrund gerückt: Ihre Mitwirkung am Erlösungsplan. Papst Johannes Paul II veröffentlichte 1987 die Enzyklika Redemptoris Mater. Dieses Schreiben eröffnet der Papst mit dem Satz: „Die Mutter des Erlösers hat im Heilsplan eine ganz besondere Stellung“.

Worin bestand diese Beziehung zwischen Jesus und Maria im damaligen Israel vor über 2.000 Jahren und worin besteht sie heute?

Mir ist keine so innige Beziehung zweier Menschen bekannt wie zwischen Jesus und Maria. Wie begründe ich diese These? Aus ihrer gegenseitigen Liebe! Das größte Bindeglied zweier Menschen ist die Liebe. Und gerade Jesus und Maria sind die zwei Menschen mit der größten Fähigkeit zur Liebe, die die Welt je gekannt hat. Der Grund ist einfach: Beide wurden absolut sündenfrei gezeugt und geboren. Unsere Neigung zur Sünde mindert unsere Fähigkeit zur Liebe. Heilige wie Johannes Paul II oder Josemaría Escrivá bewerteten Menschen nach ihrer Liebe für die Mitmenschen und nicht nach ihrem Reichtum (an Geld).

Jesus und Maria war jegliche Neigung zur Sünde fremd. Nichtsdestotrotz hätte die Mutter Gottes -aufgrund ihrer Freiheit- die Möglichkeit zur Sünde gehabt wie die gefallenen Engel, d.h. die Teufel und die ersten Eltern, zeigen.

Die Liebe als Bindeglied Jesus und Maria

Zurück zur Liebe. Die Beziehung zwischen Jesus und Maria bestand und besteht aus der Liebe und aus der Gleichheit der Ziele: Die Erlösung der Menschheit. Beide sind in ihrer Berufung vereint. Beide wollen dasselbe: Die Menschen zu Gott führen. Im Arbeitsumfeld ist neuerdings ein neuer Begriff entstanden: Purpose. Zu Deutsch: Zielkonformität. Gerade diese Zielkonformität zwischen Jesus und Maria gepaart mit der Liebe ergab und ergibt eine Mutter-Sohn-Beziehung, die ihresgleichen sucht. Und wir sind die „Profiteure“ dieser innigsten Liebe. Daher wundert uns nicht, dass sich Jesus am Kreuz hängend an seine Mutter wendet und ihr die Mutterschaft aller Menschen heranträgt. Aufgrund dieser Mutterschaft sollte sie die Anfänge der Kirche in Jerusalem stützen. Im Laufe der Jahre führte diese Mutterschaft dazu, dass weltweit ca. 900 Erscheinungen der Muttergottes registriert werden. Und damit untermauert sie, wie ernst sie den Auftrag ihres Sohnes verstanden hat. Daher empfehle ich Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, sich mit den Texten von den Erscheinungen z.B. in Guadalupe (Mexiko) und in Lourdes (Frankreich) zu befassen.

Jesus ist der einzige Mensch, der fürs Martyrium geboren wurde. Und Maria? Auch. Sie wurde voll der Gnade gezeugt, um als Miterlöserin neben ihrem Sohn zu wirken und damit mit Jesus zu leiden. Der Leidensweg Jesu betraf auch Maria, nicht nur am Kreuz, sondern zeitlebens. Geistliche Autoren und Exegeten haben im Laufe der Jahrhunderte viele Leiden Mariens erwähnt. Eine feinfühlige Lektüre der evangelischen Texte offenbart noch weitere, selten erwähnte Leiden. Z.B. nach dem Auftritt Jesu in der Synagoge von Nazareth wollen ihn die Pharisäer vom Berg hinabstürzen. Das geschah zu Beginn des Wirken Jesu. Diese Menschen, die ihn voll Hass umbringen wollten, wohnen direkt in Nazareth oder in der Umgebung, d.h. in räumlicher Nähe zu Maria. Man kann sich daraufhin Szenen auf der Straße in Nazareth ausmalen, wo Maria als Mutter Jesu von eben diesen Menschen beschimpft wurde, oder sich anhören musste, wie sie Jesus beschimpft haben. Und dies womöglich drei Jahre lang.

Die Dialoge zwischen Jesus und Maria

Es kann sein, lieber Leser, liebe Leserin, dass es sich bei Ihnen beim Lesen des oberen Textes ein großes Aber auftürmt. Gab es nicht in den zwei von den Evangelisten überlieferten Dialogen zwischen Jesus und Maria eine große Missstimmung?

Von den vier überlieferten Wortmeldungen Mariens sind tatsächlich nur zwei Dialoge Mariens mit Jesus.

Viele Exegeten und Theologen sehen Anzeichen von Spannung, von Missverständnis oder gar von Missmut. Und das hört man häufig in den Sonntagspredigten in unserem Land.

Ich möchte eine neue Sichtweise auf beide Dialoge ins Spiel bringen. Bevor ich das tue, erlaube ich mir, einige Passagen aus dem Evangelium zu kommentieren: Die Witwe von Naim und das Lob der Muttergottes durch Jesus selbst und durch eine Frau aus dem Volk. Anhand dieser Passagen soll die Meinung von Jesus über Maria zum Vorschein kommen. Im Falle Johannes des Täufers hat Jesus klare und lobende Worte gefunden. Und über Maria? Auch, jedoch hier etwas verklausuliert. Nur durch aufmerksames Lesen der Texte kommt die Meinung Jesu über seine Mutter zu Vorschein. Begleiten Sie mich auf dieser Entdeckungsreise!

Im Buch Jesus von Nazareth zitiert Joseph Ratzinger den Theologen René Laurentin in seinem Kommentar über die Szene über die Witwe von Naim. Laurentin ist der Meinung, dass Jesus in dieser Witwe die Rolle seiner Mutter erkennt, weil diese -wie später seine eigene Mutter- den einzigen Sohn verloren hat. Jesus wirkt hier ein Wunder und bringt den Sohn zurück zum Leben, so wie er später auferstehen wird. Normalerweise wirkte Jesus Wunder erst, wenn der oder die Bedürftige darum gebeten hat. Nicht hier. Jesus wirkt unaufgefordert. Der Evangelist bemerkt: Jesus erbarmt sich der weinenden Witwe. Damit offenbart Jesus seine tiefe Liebe für seine mittlerweile verwitwete Mutter.

In zwei verschiedenen Szenen lobt Jesus die Treue Mariens zum Willen Gottes. Eine Szene beschreibt Lukas in 11,27 mit den Worten: „Es geschah aber, als er das sagte, da erhob eine Frau aus der Menge ihre Stimme und sprach zu ihm: Selig der Leib, der dich getragen hat und die Brüste, an denen du gesogen hast! Er aber erwiderte: Ja freilich, selig sind die, die das Wort Gottes hören und es bewahren“.

Die zweite Szene beschreiben die drei Synoptiker (Lukas 8, 20; Matthäus 12, 47 und Markus 3, 32). Hier der Text von Lukas „Da sagte man ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und möchten dich sehen. Er erwiderte: Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln“. Das rechte Verständnis dieser Perikope entsteht in Verbindung mit der weiteren Aussage Jesu in Johannes 14, 21: „Wer meine Gebote hat und sie hält, der liebt mich“. Wenn für Jesus seine Gebote halten ein Zeichen der Liebe ist, dann sind die beiden oben erwähnten Stellen nicht anders als ein Lob für die Treue Mariens zu den Geboten Gottes. Und damit wird die Bedeutung ihrer Treue zu den Plänen Gottes über ihre Mutterschaft gestellt. Jesus macht uns klar: Diese Frau, Maria, ist nicht nur meine Mutter, sie ist vielmehr, sie ist die Miterlöserin, sie ist meine wichtigste Mitarbeiterin im Heilsplan Gottes.

Nachdem wir die Einheit der Seelen Mariens und Jesu in den drei Szenen erklärt haben, nehmen wir die uns bekannten Dialoge in Augenschein.

Aus meiner Sicht lassen sich beide Dialoge zwischen Jesus und Maria sowohl in Jerusalem (Lukas 2, 41) wie in Kana (Johannes 2,1) nur richtig auslegen, indem ein neuer Aspekt in Augenschein genommen wird: Die zwei Naturen Jesu.

Maria ist Mutter der menschlichen Natur Jesu und so spricht sie logischerweise immer die menschliche Natur Jesu an. Jesus antwortet jedoch in beiden Fällen als Sohn Gottes. Dieses angebliche „einander vorbeireden“ wird von vielen als Missstimmung verstanden. Falsch, in meinen Augen. Die Reaktion Mariens zeigt uns die wahre Auslegung beider Szenen.

Über die Szene in Jerusalem schreibt der Evangelist Lukas: „Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen“. Statt Contra zu geben und die Rechte der Mutter einzufordern, schweigt sie. Warum? Kein Mut, keine Stärke? Das Gegenteil. Sie hat verstanden: Da spricht nicht mein Sohn, sondern der Sohn Gottes und da habe ich mich zu unterwerfen. Maria ist die Tochter Gottes, die Braut Gottes, die Mutter Gottes und sie schweigt! Vor dem Sohn Gottes ist sie sich ihrer Niedrigkeit bewusst -wie sie im Magnifikat ausdrückte. Welche Lektion für uns!

Ein wichtiger Teil dieses Textes wird oft in den Sonntagsevangelien übergangen: „Dann kehrte er mit ihnen (Maria und Joseph) nach Nazareth zurück und war ihnen gehorsam“. Jesus akzeptiert als Sohn Mariens die Autorität seiner Eltern vollumfänglich. Und wie oben erwähnt, liebte er seine Eltern aus der Tiefe seines Herzens. Wenn es nicht so wäre, wie könnte er von uns -gemäß dem vierten Gebot- eine starke Liebe zu unseren Eltern verlangen? Er ist mit dem Beispiel vorangegangen.

Über diese Szene in Jerusalem haben wir im Laufe der Jahre viele Kommentare gelesen. Aber nur ein Theologe, Jose María Casciaro, spricht in seinem Buch Jesus von Nazareth von den Schmerzen des Sohnes Mariens. Jesus liebte seine Mutter und seinen Vater Joseph sehr. Daher hat ihn sicherlich sehr geschmerzt, ihnen beiden diesen Vorwurf „Wusstet ihr nicht, dass in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ vorzutragen. In dieser Situation musste er die Rolle des Sohnes Gottes einnehmen. Als ich diesen Text von Casciaro gelesen habe, war ich sehr froh. Ich hatte auch wie Casciaro diesen Gedanken gehegt. Nur bis dahin war ich allein mit dieser Idee. Und dann lese ich diese Passage! Das hat mir viel Freude bereitet.

Und jetzt wenden wir uns dem Dialog in Kana zu. Auch hier verwenden wir den Schlüssel der zwei Naturen Jesu. Wie oben erwähnt, spricht Maria ihren Sohn an. Antworten tut aber der Sohn Gottes und gibt einen Hinweis auf die Planung für seine Offenbarung. Lassen wir uns von Johannes den Wortlaut der Antwort Jesu wiedergeben: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“. Auf die Antwort Jesu reagiert Maria anders als in Jerusalem. Und damit gibt sie uns zwei Hinweise für den Umgang mit Jesus: Erstens mit Glauben den scheinbaren Widerstand Jesu überwinden und zweitens Jesus schlägt keine Bitte Mariens ab. Im Übrigen Jesus berücksichtigt jede Bitte von uns, wenn wir sie in richtiger Weise vortragen: Mit Liebe, mit Glauben und mit Demut.

Maria am Passionsweg Jesu

Der Titel des Artikels lautet: Zwei Mensch — eine Seele. Daher möchte ich eine weitere Begebenheit aus dem Leben beider Menschen einfügen.

Eine Szene aus dem Kreuzweg beschreibt die Einheit beider Seelen perfekt. Es ist die 4. Station. Josemaría Escrivá hat in seinem Buch Der Kreuzweg die Szene wundervoll beschrieben: „Mit unermesslicher Liebe schaut Maria auf Jesus, und Jesus auf seine Mutter. Ihre Blicke begegnen sich, und jeder ergießt seinen Schmerz in das Herz des anderen“. Bei uns Menschen kommt gerade in den Momenten des Leidens einer geliebten Person die tiefempfundene Liebe zum Vorschein. Auf dem Passionsweg begegnen sich zwei Menschen mit einer schier unendlichen Fähigkeit zur Liebe. Wir können nur erahnen, was sich im jeweiligen Herzen zugetragen hat. Im Film Passion von Mel Gibson werden Szenen aus der Kindheit Jesu gezeigt, um die Gedanken Mariens zu spiegeln. Es kann sein, dass sich im Herzen Mariens solche Szenen abgespielt haben. Das ist ein typischer mütterlicher Reflex. Wie dem auch immer sei, Maria hat mit der vollen Kraft ihrer Liebe versucht, ihren Sohn zu trösten. Und er? Jesus „erbarmte sich des Volkes“ wie uns Markus 8,2 schreibt. Vielmehr hier. Maria, seine Mutter, die Miterlöserin, leidet seinetwegen. Wie sehr muss Jesus geschmerzt haben, seine Mutter in dieser Situation, in diesem Zustand zu sehen. Und er will ihr Leid lindern.

Wenn ich eine Kirche besuche, schaue ich immer auf die Abbildungen des Kreuzweges und konkret auf die vierte Station. Ich will sehen, wie der Maler die Szene abgebildet hat. Ich will mich mit Hilfe des Malers in die Szene vertiefen und neue Aspekte der Liebenden entdecken.

Mit dieser Szene aus dem Passionsweg möchte ich diesen Artikel über die Innigkeit beider Seelen. Im Himmel werden wir die beiden treffen und mehr von ihrer Liebe erfahren.

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