Heute schon Fieber gemessen?

Katharina Gusinovs
4 min readApr 21, 2020

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Einer erwachsenen Person wird in der Öffentlichkeit Fieber am Handgelenk gemessen.
Photo by kian zhang on Unsplash

Am 14.04.2020 sagte der kalifornische Governor Newsom bei einer Pressekonferenz, dass im Falle einer neuen Normalität bei Restaurantbesuchen die Temperatur der Gäst*innen an der Tür gemessen werden könnte.[1] Am 17.04.2020 wurde bekannt, dass die UBS-Bank seit circa zwei Wochen bei ihren Mitarbeitenden freiwillig die Temperatur misst, wenn sie zur Arbeit erscheinen.[2] Bei einem Wert von über 37,8°C werden die Mitarbeitenden nach Hause geschickt. Bereits im März wurden bei Einreisekontrollen nach Deutschland Messungen der Körpertemperatur vorgenommen.[3] Bei YouTube existieren Videos, wie bei Journalist*innen die Temperatur vor Betreten eines White House Briefings gemessen[4] oder an Checkpoints in Wuhan Autofahrer*innen ein Thermometer an den Kopf gehalten wird[5].

Haben Sie mal überlegt, wann Sie zuletzt Ihre Körpertemperatur gemessen haben? Kennen Sie ihren Normalwert? Wissen Sie, welche Körpertemperatur Sie haben, wenn Sie nur schnell im Supermarkt waren? Wenn Sie ein Restaurant oder eine öffentliche Veranstaltung nur betreten dürften, wenn Ihre Temperatur unter 37,8°C liegen würde, denken Sie, Sie könnten eintreten? Sind Sie sich sicher?

Ich kenne meine Körpertemperatur sehr genau. Ich messe sie seit sechs Jahren regelmäßig. Sie lag diese Woche bei 38,5°C, als ich vom Einkaufen nach Hause kam. Dieser Umstand wundert mich nicht mehr und lässt mich nicht an Corona denken, weil ich weiß, dass meine Temperatur in die Höhe schießt, wenn ich mich anstrenge. Mein Körper stuft einen normalen Besuch im Supermarkt offenbar als Sport oder Stress ein. Momentan möchte ich ihm da nicht widersprechen. Ich zeige dann nicht einmal mehr die üblichen Schwester-Symptome, die normalerweise mit Fieber einhergehen.

Die normale Körpertemperatur liegt für gewöhnlich zwischen 36,5 und 37,4°C, abhängig von der Uhrzeit, der Genauigkeit der Messung oder zum Beispiel auch dem Menstruationszyklus.[6] Als erhöhte Temperatur ist dementsprechend ein Wert ab 37,5°C definiert, während man ab 38,2°C von Fieber spricht. Momentan reicht also eine erhöhte Temperatur aus, damit der Zugang zu bestimmten Orten verwehrt wird.

Jahrelang bin ich von Ärzt*in zu Ärzt*in getingelt und mir wurde gesagt, dass das halt bei mir so sei. Wenn das aber bei mir “halt so ist”, dann ist dieser Umstand vermutlich auch bei anderen so. Ich beanspruche hier keinesfalls eine Einzigartigkeit für mich. Ärzt*innen haben mir unter anderem erzählt, dass ein vorübergehendes Fieber bei Marathonläufer*innen bekannt und normal sei, Sport — in meinem Fall das Verlassen der Wohnung — könnte so etwas auslösen.

Aber was heißt das denn? Wenn Sie nun zum Beispiel mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, kann Ihre Temperatur durch den Sport erhöht sein. Dürfen Sie dann bei der UBS-Bank an dem Tag nicht arbeiten? Außerdem bleibt die Frage der Freiwilligkeit. Hat es wirklich keine Konsequenzen, wenn ich meine Temperatur nicht messen lasse? Zum Beispiel, weil ich weiß, dass sie immer erhöht ist? Müssen dann theoretisch alle Mitarbeitenden mit Vorerkrankungen diese offenlegen, um die Messung ohne kritische Fragen zu umgehen?

Neben allem Schlechten, das die Coronakrise mit sich bringt, muss ich leider anerkennen, dass sie mir persönlich ein vielfältigeres, “öffentliches” Leben ermöglicht hat. Ich besuche keine Konzerte mehr (Wären die für mich mit einem iron wo-man gleichzusetzen?) und habe dieses Jahr bereits eine Lesung ausfallen lassen, weil ich mich nicht fit genug fühlte, durch die Stadt zu fahren und dann fiebrig einer anderen Person zuzuhören. Die digitalen Angebote, die momentan exponentieller wachsen als Viren in der perfekten Petrischale, ermöglichen mir eine Teilnahme an der Gesellschaft, der mir vorher nicht zur Verfügung stand. Ob mangels Reflektion oder aufgrund von Ignoranz — die Technik, die gerade verwendet wird, existiert schon länger. Sie wurde nur nicht in dieser Form für die Inklusion Beeinträchtigter eingesetzt.

Es scheint, dass die Forderungen nach Lockerungen lauter werden, aber damit im Falle einer Reaktivierung des öffentlichen Lebens nicht die Neuansteckungen wieder in die Höhe schnellen, müssen wir gesamtgesellschaftlich über Maßnahmen sprechen, die Ansteckungen eindämmen und eine Art Sicherheit bieten, bis ein Impfstoff verfügbar ist. Seit Wochen wächst in mir daher die Befürchtung, dass wir bald an einen Punkt kommen könnten, wo gefordert wird, dass unter bestimmten Auflagen Restaurants wieder öffnen und kleine Kulturveranstaltungen stattfinden. Eine dieser Auflagen könnte eine Messung der Körpertemperatur sein, wie sie auch in anderen Ländern diskutiert oder bereits angewendet wird.

Eine Maßnahme, die in diesem Fall eine Freiheit gewähren soll, darf nicht die Freiheit anderer einschränken, die keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Etwas, das “halt so ist”, sollte nicht gegen die betroffenen Menschen verwendet werden können und zum Beispiel dazu führen, dass mir ein Restaurantbesuch verwehrt wird, weil ich in dem Moment zwar nicht infiziert bin, aber mein Körper eine heiße Party feiert. Eine Temperaturmessung darf nicht zu einem Universalinstrument werden, um die Maßnahmen zu lockern, nur weil man über die Überprüfung eine vermeintliche Sicherheit herstellen kann. Laut dem Robert Koch-Institut trat in Deutschland bei nur 42% der Erkrankten Fieber als ein Symptom von Covid-19 auf.[7] Damit würde bei einer Körpertemperaturmessung trotzdem über die Hälfte der Erkrankten nicht entdeckt werden. Wer eine erhöhte Körpertemperatur oder gar Fieber hat, bleibt dagegen häufig aufgrund der spürbaren Erschöpfung und anderer Symptome bereits von allein zuhause und isoliert sich. Die Frage ist also: Welche Sicherheit könnte diese Maßnahme gewährleisten und wie effektiv wäre sie?

Wir alle suchen Auswege und Schutzmaßnahmen in dieser außergewöhnlichen Zeit und wir sollten auch weiterhin versuchen, die Ansteckung auf ein Minimum zu reduzieren und dort zu halten. Eine Maßnahme aber, die diskriminieren und Menschen erneut (grundlos) aus dem öffentlichen Leben ausschließen könnte, darf keine Option sein. Die einfachsten Wege — wie hier durch leichte Anwendung und niedrige Kosten — sind leider nicht zwingend die besten in einer solchen Situation.

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Katharina Gusinovs

…schreibt meist Gedichte & Essays, die u.a. ihre chronische Erkrankung thematisieren. Darüber hinaus ist sie Sprecherin, Redakteurin &Produzentin für Podcasts.