Ich bin sauer…

Katharina Gusinovs
3 min readMay 23, 2020

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Eine weiblich gelesene Person, die auf einem Bett sitzt, während Bücher durch die Luft fliegen.
Photo by Lacie Slezak on Unsplash

Ich bin sauer. So sauer, dass ich jeden Tag Kopfschmerzen habe, weil ich meinen Kiefer anspanne, um nicht zu schreien. So sauer, dass mir spontan Wut-Tränen über das Gesicht laufen, wann immer ich nachdenke. So sauer.

Corona ist abgeschafft; Zeit für Normalität. Möchtest du mit mir rausgehen, zum Spielplatz, grillen, shoppen, Biergarten, Restaurant? Ist doch wieder alles beim Alten. Endlich. Lasst uns alles nachholen, was wir verpasst haben in den letzten zwei Monaten.

Wir können es ja nachverfolgen, wenn was schief geht. Trag’ dich nur in diese Liste ein, wir melden uns, falls es kritisch war, dann checkst du das schnell ab und weiter geht’s. Kein großes Ding!

Es ist ja nicht so, als wäre das Virus noch das gleiche und immer noch gleich gefährlich. Doch nicht für dich und mich. Obwohl für mich auf jeden Fall und für dich vielleicht, aber wen juckt das.

Ich kann ja zuhause bleiben und mich selbst isolieren für die nächsten Monate. Wieso sollte ich als eine Person das gesamte Land aufhalten? Das ist nicht verhältnismäßig. Nur um mich zu schützen. Lächerlich.

Da werde ich doch wohl mal zurückstecken können für die paar Monate, damit der Rest zu Corona-Konzerten gehen kann, weil für die ist das auf keinen Fall tödlich und außerdem YOLO!

Ist doch alles nicht so schlimm. Wir haben’s ja überstanden und ich überstehe das jetzt auch noch. Die paar Monate bis zum Impfstoff müssen sich nicht alle für mich opfern.

Außerdem guck doch mal, die Promis drehen durch. Da ist es doch besser, ich hab ein paar beschissene Monate, als dass wir uns alle weiter die kruden Verschwörungsmythen anhören müssen.

Für mein Opfer brauche ich natürlich auch keine Kompensation, wir wissen alle, dass man keine Ausgaben hat, wenn man das Haus nicht verlässt. Und wie viel ich die nächsten Monate chillen kann. Da seid ihr neidisch.

Gut, dass keiner von euch mich gefragt hat, was ich darüber denke und ob ich das will, aber das ist ok. Ich weiß, dass in diesem Land die meiste Aufmerksamkeit reichen, weißen Männern gilt. Die sind aber auch zerbrechlich.

Wir können auf keinen Fall riskieren, dass diese fragilen Gestalten eine Sekunde länger um ihre Machtposition fürchten müssen, wer weiß, was sie sonst tun. Telegram-Gruppen erstellen? Um Gottes Willen.

Entwickeln wir doch eine neue Prämie für den Autokauf. Sagen wir einfach, wer Auto fährt, schützt Omas, weil alle wissen, dass nur der Pöbel und diese seltsamen Ökos den ÖPNV nutzen. Sollen die doch den Virus kriegen.

Ihr habt recht. Ich sollte mich nicht so anstellen. Wenn man mir so schon nie zuhört, warum solltet ihr es jetzt tun. Mein Blickwinkel ist auch gesamtgesellschaftlich nicht wirklich von Bedeutung. Zu sehr Nische.

Hauptsache die Kinder können wieder in die Schule. Also natürlich nicht, damit sie was lernen. Das können die schlauen und reichen auch von zuhause. Nein, wir müssen den Eltern endlich wieder den Rücken freihalten, damit sie entspannt arbeiten gehen können.

Die Wirtschaft wächst ja schließlich nicht von allein. Irgendwer muss die ja ankurbeln. Gerade jetzt, wo so viele Hilfe fordern. Wieso haben die denn nicht selbst Rücklagen für den Notfall gebildet, wie sie es von Unternehmen fordern?

Und überhaupt: Es ist nicht sonderlich würdevoll so in 100 Quadratmeter eingesperrt zu sein! Das ist einfach nicht menschlich! Was Moria? Ja, aber das sind ja auch Flüchtlinge; das ist was anderes.

Sind wir doch froh, dass wir endlich die Fesseln abstreifen konnten, die uns die da oben auferlegt haben. So komplett grundlos. Endlich wieder Freiheit. Endlich wieder Alltagstrott. Endlich wieder Normalität. Freust du dich nicht?

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Katharina Gusinovs

…schreibt meist Gedichte & Essays, die u.a. ihre chronische Erkrankung thematisieren. Darüber hinaus ist sie Sprecherin, Redakteurin &Produzentin für Podcasts.