Körperliche Selbstbestimmung

Katharina Gusinovs
4 min readFeb 8, 2020

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In letzter Zeit schreiben immer mehr Menschen “Fühl dich gedrückt, wenn du magst”. Dieser Zusatz kann auf den ersten Blick übertrieben wirken, aber beim genaueren Betrachten, führt er nur zu Ende, was man unter ‘körperlicher Selbstbestimmung’ zusammenfassen könnte, und zeigt damit deutlich, welches zwiespältige Verhältnis wir als Gesellschaft zu diesem Konzept haben. Wer sind wir, dass wir einer (teilweise wildfremden) Person eine Umarmung aufzwingen? Hat diese Person nicht das Recht, Umarmungen generell oder von spezifischen Personen abzulehnen? Spätestens mit der Gesetzesänderung zur sexuellen Belästigung in Bezug auf Grapschen darf man in Deutschland niemande*n berühren, wenn die Person das nicht möchte. Ein wichtiger Schritt Richtung körperliche Selbstbestimmung.

Was aber bringen wir zum Beispiel unseren Kindern bei? Um Kinder vor Übergriffen zu schützen, etablieren wir sehr früh und mit Nachdruck die Regel, dass niemand Fremdes sie anfassen darf; vor allem nicht, wenn sie sich dabei unwohl fühlen. Kommen aber Verwandte zu Besuch, zählt das Unwohlsein der Kinder nicht mehr, weil sie unbedingt der Tante einen Kuss geben müssen. Die Selbstbestimmung darf bei Kindern nicht bei ihnen bekannten Menschen aufhören. Gerade wenn man bedenkt, dass die meisten Missbrauchstäter*innen aus dem näheren Umfeld der Kinder stammen, ist es wichtig, ihnen auch in diesem Bereich beizubringen, dass Grenzen erlaubt und erwünscht sind. Kein Kind sollte irgendwen kuscheln, küssen oder umarmen müssen, wenn es nicht möchte. Dabei sind die Gründe egal, denn einzig die Entscheidung des Kindes ist wichtig.

Ein weiteres Gebiet mit vielen gesellschaftlichen Konventionen ist die Partnerschaft. Uns wurde beigebracht, dass es normal ist, dass die Partner*in bestimmte Erwartungen hat und die sollte man erfüllen. Daraus ergeben sich zwei Probleme: Erstens lässt die eine Partner*in eventuell etwas über sich ergehen, was er*sie eigentlich (momentan) nicht möchte, weil es erwartet wird und man die Partner*in nicht zurückweisen möchte. Zweitens fühlt sich die andere Partner*in im Falle einer Zurückweisung möglicherweise nicht mehr geliebt, weil uns suggeriert wurde, dass eine (kurzweilige) körperliche Zurückweisung auch ein Ende der Liebe bedeutet. Das ist aber nicht zwingend der Fall. Man kann eine Person lieben und trotzdem in diesem Moment zum Beispiel keine Umarmung wollen. Je nach Situation kann das schwer zu ertragen sein, aber die körperliche Selbstbestimmung sollte gerade in diesem intimen Lebensbereich und unter Vertrauenspersonen nicht eingeschränkt werden.

Darüber hinaus existiert auch noch vor allem bei weiblich gelesenen Personen die reale Angst, von Fremden angefasst zu werden. Hiermit sind nicht die oben genannten Grapscher gemeint, sondern Menschen, die sich zum Beispiel in einer Bar vorbeiquetschen und dabei die Hüfte berühren. Oder Menschen, die beim Sprechen den Arm berühren als beruhigende Geste. Oder (hauptsächlich) Männer, die beim Bahn fahren so breitbeinig sitzen (Manspreading), dass man als Sitznachbar*in fast vom Sitz fällt, weil man nicht direkt mit ihnen auf Tuchfühlung gehen möchte. Im Endeffekt wurde hier jedes Mal der Persönlichkeitsabstand (ca. 50cm) verletzt und das, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Da aber der freie Wille von weiblich gelesenen Personen im Allgemeinen häufiger nicht so hoch angesehen wird wie der von Cis-Männern, sehen viele Menschen in diesen Situationen kein Problem, denn “es ist ja nur eine kurze Berührung ohne sexuellen Hintergedanken”. Dass diese auch schon das körperliche Selbstbestimmungsrecht verletzt, ist vielen nicht geläufig.

Es gibt aber auch zwei Gesetze, die stark in das körperliche Selbstbestimmungsrecht eingreifen. Zum einen die Sterbehilfe, denn sie verhindert, dass Menschen — aus welchen Gründen auch immer — selbstbestimmt ihrem Leben ein Ende setzen können. Wir können niemals wissen, wie es in einer anderen Person aussieht und ihre Beweggründe ganz verstehen, wir werden auch nie das Leben dieser Person leben müssen, daher steht es uns eigentlich auch nicht zu, diese Person zu zwingen, ihr Leben weiterzuleben, weil wir das so möchten. Natürlich ist das ein heikles Thema und keine Meinung dazu kann nur schwarz oder weiß sein, aber wer sind wir, über die Entscheidungen anderer so zu urteilen, wenn andere Menschen aufgrund dieser Regelung (weiter) leiden.

Das zweite Gesetz ist das momentane Abtreibungsgesetz in Deutschland. Das stellt einen massiven Eingriff in die körperliche Selbstbestimmung von Menschen mit Uterus dar. Wieso weiß der Staat auf einmal ab einer Befruchtung besser, was dieser Mensch tun sollte, als der*die Betroffene selbst? Gerade wenn eine Entscheidung so weitreichende, lebenslange Folgen hat, sollte es doch selbstverständlich sein, dass niemand anderes als die Person diese Entscheidung fällen kann. Stattdessen übt der Staat urplötzlich einen unglaublichen Druck auf diese Person aus und verhindert sogar, dass diese Person Informationen erhält, weil man schwangeren Personen anscheinend nicht zutraut, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Genau diese Personen versucht man aber mit einer aufgezwungenen Beratung, vielleicht doch noch zu überzeugen, dann lebenslang auf ein Kind aufzupassen.

Die körperliche Selbstbestimmung umfasst sehr unterschiedliche Bereiche des Lebens; viel mehr als hier aufgezählt wurden. Was alle gemein haben, ist die Frage: Wie gut respektieren wir andere in der Ausübung dieses Rechts? Welche Grenzen dürfen wir als Gesellschaft aufzeigen und an welchen Punkten ist es gesellschaftlich noch zu anerkannt, die selbstgesetzten Grenzen einfach und ohne Konsequenzen zu überschreiten? Das anfänglich genannte Beispiel der Umarmung, wenn man sie denn möchte, symbolisiert die höchste Achtung dieses Rechts auf körperliche Selbstbestimmung. Und auch, wenn meine Antwort immer ja ist, freue ich mich doch, dass ich nach meiner Einwilligung gefragt werde; etwas, das im Alltag sonst viel zu selten passiert.

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Katharina Gusinovs

…schreibt meist Gedichte & Essays, die u.a. ihre chronische Erkrankung thematisieren. Darüber hinaus ist sie Sprecherin, Redakteurin &Produzentin für Podcasts.