Warum Kinder nicht früh genug über Sex reden können

Immer wieder beschäftigen sich Politik und Medien mit der Aufklärung von Kinder. Sehr laut und leidenschaftlich wird dabei über den richtigen Zeitpunkt für den Unterricht gestritten. Soll ein Kind schon im Kindergarten Zugang zu einem Sexkofferhaben? Soll es mit 12, 14 oder 16 Jahren im Sexualkundeunterricht aufgeklärt werden? Oder wird es aufgeklärt, exakt in jenem Moment, in welchem es Zugang zum Internet erhält?

kreisch
4 min readAug 28, 2016

Die Diskussion um dieses Thema zeigt auch: Stotternde und errötende Politiker, welche beim Wort Se-Se-Sexualkunde ins schleudern kommen. Das beweist mir: Wir alle haben noch einiges nachzuholen, was Aufklärung betrifft. Es fehlt der natürliche Umgang mit dem Thema Sex. Und: Um das zu erreichen kann kein Kind zu früh aufgeklärt werden.

Natürlich sind Sexualkunde-Debatten nicht das Einzige, was meine Meinung manifestiert. Um weiter zu illustrieren, wie ich zum Schluss komme, das Kindergärtner mit Holzpenissen spielen dürfen sollten, hier die Geschichte, wie ich aufgeklärt wurde — oder vielleicht viel eher: wie ich mich selbst aufgeklärt habe.

Die Jahre der Unschuld

Man könnte meinen, im Zeitalter des Internets sei Aufklärung ein Leichtes. Und auch wenn ich früh gelernt habe, die Kindersicherung im Internet zu umgehen und mit meiner besten Freundin Stunden auf diversen Internetforen und Chats verbracht habe, dachte ich mit zwölf Jahren, ich würde sterben.

Nicht die japanische Flagge.

Ich fühlte mich schon seit ein paar Tagen nicht gut, hatte Bauchweh, Krämpfe und plötzlich kam da Blut aus meiner Vagina. Vielleicht könnt ihr euch vorstellen, wie sich mein Herzschlag beschleunigte, als ich den grossen roten Flecken in meiner (natürlich bis dahin blütenweissen) Unterhose entdeckte. In kindlicher Manier rief ich sofort nach meiner Mutter. Ich erntete nichts als ein wohlwissendes Lächeln und den Satz: „Du bist jetzt eine Frau.“

Lange (vielleicht zu lange) habe ich diese knappe „Erklärung“ so akzeptiert. Ja, ganz ehrlich, ich trug meinen Kopf schon immer etwas in den Wolken.

Den Aufklärungscomic, den ich ein paar Jahre früher bekommen hatte, verstand ich nie. Besser gesagt verstand ich nicht, was die beiden erwachsenen Figuren mit mir zu tun hatten. Ich war ja ein Kind. Erwachsene und Kinder, das sind doch zwei verschiedene Dinge? Und so ein Kitzeln im Bauch, wie es beim Sex beschrieben wurde, hatte ich auch noch nie gespürt. Also würde alles andere, also das mit dem Kinderkriegen, sicher auch nicht auf mich zutreffen.

Meine Eltern darauf ansprechen wollte ich nicht — sie hatten mir den Comic wortlos in die Hand gedrückt, ihr Unbehagen war deutlich spürbar.

Erst Jahre später, meine Brüste wurden immer grösser und eine meiner Freundinnen hatte ihren ersten, dann ihren zweiten festen Freund, schliesslich ihr erstes Mal, fing ich an, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich war sechzehn Jahre alt.

Mein Wissensstand: Für das erste Mal braucht es ein Mädchen und einen Jungen. Im Biologie-Unterricht hatte ich ausserdem gelernt am Penis alle Einzelteile zu benennen: die Hoden, Samenleiter, Prostata, Harnröhre,… Und auch der Aufbau der Vagina wurde streng auswendig gelernt. Wusste ich dadurch mehr über Sex? Nein. Natürlich nicht. Unser Lehrer meinte lediglich peinlich berührt: „Sex ist nicht so wie in den Pornos.“

Wenn er nur wüsste: Der arme Herr D. gab damit, ohne es zu wollen, den Anstoss zu meiner ersten Google-Suche nach — ihr habt es erraten — Pornos.

Damals öffnete sich auf den einschlägigen Internetseiten noch ein Pop-up-Fenster, in welchem ich bestätigen musste, dass ich 18 Jahre alt war. Süsse Nostalgie. Leicht nervös bestätigte ich, ängstlich einen Alarm erwartend, der meine Lüge enttarnte. Nichts dergleichen geschah und ich sah mich schon bald mit unzähligen geöffneten Tabs und Fenstern konfrontiert.

Was ich sah: In erster Linie etwas verbraucht aussehende nackte Frauen. Was ich suchte: Jemanden, der war wie ich. Jung und ohne Erfahrung. Also folgten nach meinen ersten Entdeckungen Suchen nach: „Jungfräulichkeit“, „Penis“, „Sex“ und was mich in diesem Moment gerade noch so beschäftigte.

Das Internet

Ganz ehrlich: Was ich im Netz der Nullerjahre gefunden habe, hat nicht wirklich einen positiven Eindruck in meinem Gedächtnis hinterlassen. Ich erinnere mich im Speziellen an eine Szene, in welcher sich eine junge Darstellerin selbst entjungferte. Die Menge an Blut, die dabei floss, und ihr schmerzverzerrtes Gesicht haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. Da hilft es nichts, dass ich mittlerweile weiss, dass in der Branche beim Thema „Jungfräulichkeit“ oft genug mit Kunstblut nachgeholfen wird.

Na, erinnert ihr euch an dieses Pop-Up?

Zusammengefasst bestand meine Aufklärung in erster Linie aus Verwirrung und Angst. Und dann noch mehr Verwirrung. Vielleicht gehöre ich zu den vielbenannten und auch gerne belächelten Spätzündern, doch ich bin überzeugt, ich stehe mit meinen Erfahrungen nicht alleine da.

Was mir damals geholfen hätte, wäre die frühe Erkenntnis gewesen, dass:

  1. Ich eine Vagina besitze.
  2. Jungs keine Vagina sondern einen Penis besitzen.
  3. Eine Vagina in der Regel nicht einfach nur da ist und nichts tut.
  4. Sich mein Körper stark verändern wird (und das weh tun kann).
  5. Das alles dazu dient, dass ich Sex haben und Kinderkriegen kann.
  6. Ich mich für keines der obenstehenden Dinge zu schämen brauche.

Meiner Meinung nach ist es das falsche Vorgehen aus Sex und den Sexualorganen bis 12, 14 oder 16 Jahren etwas Geheimnisvolles vielleicht sogar Verbotenes zu machen. Ganz ehrlich: Wir schaden uns damit nur selbst. Und wenn nicht uns, dann den Kindern.

Es geht mir nicht darum ein Kind zu sexualisieren oder zur Aufklärung zu zwingen. Vielmehr wünsche ich mir einen offenen Dialog zwischen Eltern und Kindern, Lehren und Schülern (Politikern und Volk). Und nein: Ausdrücke wie „deflorieren“ helfen dabei nicht.

Könnte ich rückwirkend meinen Eltern einen Rat geben, er würde lauten: „Klärt mich auf, bevor ich es tue.“ So wären mir vielleicht einige in dieser Hinsicht prägende Erlebnisse erspart geblieben. Oder sie hätten mich zumindest weniger verstört.

geschrieben von isabelle.

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