Ein Fünkchen Hoffnung

Lucas Paeth
10 min readMar 18, 2015

In Schluckenau, der nördlichsten Stadt Tschechiens, beweist ein Hilfswerk eindeutig, dass der Kampf gegen Hass und Vorurteile nicht verloren ist. Mit aller Kraft setzen sich hier Menschen für Roma ein. Denn:

“Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht” — Helmut Kohl, Bonn, 15.5.1998

Meine Gastgeberin, Jitka, hat sich den kleinen Transporter von ihrem Vater ausgeliehen und kann uns deswegen in wenigen Minuten von Rumburg nach Schluckenau fahren. Hier, im äußersten Zipfel des Böhmischen Niederlandes, bin ich nur noch 4 km von der sächsischen Grenze entfernt. Vielleicht liegt es ein bisschen am Nieselregen, aber insgesamt wirkt das Städtchen an diesem Nachmittag ziemlich verlassen, ärmlich und kalt. Man spürt einen gewissen Stillstand.

Oblastní charita Šluknov | Foto: Google Maps, 2012

Trotzdem suchen wir nach dem kleinen Lichtblick, den es hier geben soll: eine karitative Einrichtung, in der angeblich vor allem benachteiligte Kinder aus Romafamilien betreut werden. Nachdem wir uns kurz verlaufen haben, beschreiben uns ein paar Roma den Weg dorthin. Kurze Zeit später stehen wir vor dem Eingang der lokalen Caritas mit dem wunderschönen Namen “Ambrela”, was Romanes ist — die traditionelle Sprache der Roma. Es bedeutet “Regenschirm” und stellt eine schöne Metapher dafür dar, dass Kinder und Jugendliche hier ungestört und abgeschirmt von den vielen Anfeindungen und Vorurteilen leben können.

Ihre Augen strahlen

Ein Romajunge öffnet uns die Tür und sagt, dass wir nach oben gehen können. Er folgt uns und wir betreten einen Raum mit ungefähr zehn Romakindern und zwei Betreuern, die sich gerade um sie kümmern und mit ihnen spielen. Einer davon ist Jiří, ein guter Freund von Jitka. Die Kinder sollen sich gegenseitig Fragen stellen und so herausfinden, welches Tier sich der jeweils Andere ausgesucht hat. Nebenbei zeichnen sie ein paar bunte Bilder. Wir schauen einige Zeit lang still zu und ich muss immer ein bisschen grinsen, wenn mich ein Romakind eine Zeit lang mustert und dann irgendwann anfängt, mit dieser typisch kindlichen Lebensfreude zu lachen, um kurz darauf dem Nachbar etwas ins Ohr zu flüstern.

Jiří erzählt mir zwischendurch einige Details und Hintergründe über dieses Haus. Dabei erfahre ich, dass eine deutsche Frau aus Bayern verantwortlich für diese Hilfseinrichtung ist und ich beschließe, sie später für ein Gespräch aufzusuchen. Es ist für die Kinder aus Schluckenau wohl die einzige Chance, sich wirklich frei zu entfalten. Die Ausgrenzung in der Schule und die Armut zu Hause hindert sie oft daran, deswegen werden sie hier bis in den Abend beschäftigt. Ihre Augen strahlen förmlich. Kaum eine Sekunde vergeht, ohne dass jemand kichert. Ich frage ein Mädchen, ob es ihr denn in der Schule gefällt. “Natürlich!”, antwortet sie ganz selbstverständlich. Englisch mag sie besonders und auch die anderen fangen an, begeistert von ihren Noten in der Schule zu erzählen.

Dann ist es Zeit für das Abendbrot. Mir werden belegte Brote und Wasser angeboten. Als niemand mehr Hunger hat und alle fertig mit essen sind, holt Jiří seine Gitarre hervor und spielt ein paar Lieder. Manche der Mädchen stimmen mit ein. Danach liest er Stellen aus der Bibel vor und ich stelle als Atheist wieder einmal fest, was für ein guter Begleiter die Religion bzw. der Glauben für Menschen in Not sein kann. Mich beeindruckt, dass die Betreuer — der zweite ist selbst Roma — hierfür ihre freie Zeit aufbringen. Jiří lädt Jitka und mich dazu ein, eines der Mädchen gemeinsam nach Hause zu begleiten und ich nehme das Angebot gern an.

Das kleine Roma-Mädchen, Jitka, Jiri (v.l.) und ich auf dem Weg zum Haus der Roma-Familie.

“Das ist ja schrecklich”

Am Rande der Stadt steht es, einsam und verlassen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass dieses Haus unbewohnt ist, so verfallen, wie es aussieht. Jiri geht zielstrebig mit der Kleinen hinein, eine abschließbare Tür gibt es ja nicht. Jitka und ich zögern kurz, weil wir die Leute nicht in eine unangenehme Situation bringen wollen, werden aber kurz darauf herein gebeten. Wir stehen jetzt im Erdgeschoss zusammen mit einigen anderen Roma im Kreis, die meisten davon Kinder, und Jiri unterhält sich mit ihnen. Die Gesichter kann ich nicht so genau erkennen, es ist stockdunkel hier drinnen, Licht gibt es nicht.

Fotos: © by ČT24 | Eigene Bilder habe ich nicht gemacht, das wäre in der Situation unangebracht gewesen. Diese hier kommen dem, was ich gesehen habe, allerdings ziemlich nah.

Dann geht es einen Stock weiter nach oben. “Ich sehe das gerade selbst zum ersten Mal, war noch nie hier, ist ja schrecklich …”, flüstert mir Jitka auf der Treppe ins Ohr. Die massiven Betonwände lassen es hier drinnen fast noch kälter wirken als draußen. Jiri klopft an einer Tür und die Großmutter von dem kleinen Romamädchen, vermute ich, lässt uns herein. Es ist der einzige Raum mit Licht, mit einem alten Ofen sorgen sie für Wärme. In der Ecke ist so etwas ähnliches wie eine selbst gebaute Dusche, drei Kinder sitzen auf dem Sofa. Jiri gibt der alten Frau einen neuen Wasserhahn und sie unterhalten sich über die Probleme mit dem Dach. Währenddessen tausche ich immer wieder mal still und leise ein paar Blicke mit Jitka oder den Kindern aus und kann nun viel besser nachvollziehen, wieso es in diesem Ort einen Bedarf für eine Hilfseinrichtung wie “Ambrela” gibt. Hier, direkt vor Ort bei einer Familie zu Hause, verschlägt es mir die Sprache. Man ist ja vieles gewohnt, aber dass Leute mitten in Europa in solch einer Armut leben können macht mich fassungslos, gerade bei dem Gedanken daran, dass es um die Zukunft der Kinder unter diesen Umständen nicht viel besser steht.

Als wir einige Minuten später das Haus wieder verlassen habe ich noch mehr Fragen als zuvor. Wie viele Familien leben dort? Wieso sind die Zustände so schlimm? Akzeptiert die Stadt das einfach so? Ich erinnere mich daran, dass Jiri davon erzählt hat, dass die Caritas von einer Deutschen geleitet wird und frage nach, ob sie vielleicht zufälligerweise da ist und heute noch Zeit für ein Gespräch hat. Er holt sein Telefon aus der Tasche, ruft im Büro an und kann mir danach zum Glück sagen, dass noch jemand da ist und wir zurück gehen können. Sie wird mir bestimmt noch viel mehr erzählen können, meint er, und dann verabschieden wir uns mit einem großen Dankeschön bei ihm.

Der Versuch, den Teufelskreis zu durchbrechen

Zurück in der Caritas gehen wir die Stufen diesmal bis ganz nach oben. Am Ende der Treppe, direkt unter dem Dach, befindet sich das Arbeitszimmer und wir werden herzlich von der Direktorin Eva Habel empfangen. Die Erkenntnisse aus dem nun folgenden langen Gespräch sind sehr bereichernd und helfen mir, das Problem in all seinen Dimensionen besser zu verstehen.

Ungefähr 700 von den 5.400 Einwohnern in Schluckenau sind Roma. Sie stellen somit eine beachtenswerte Minderheit dar. Vor allem aber sind sie zum Mittelpunkt im Leben von Eva Habel geworden, die als Direktorin seit 2011 die neu gegründete Gebiets-Caritas in Schluckenau leitet, nachdem sie schon mehrere Jahre als Pastoralassistentin gearbeitet hat. Ich kann es nur zu gut verstehen, wenn sie erzählt, wie ihr die Roma und die Probleme um sie herum Schritt für Schritt ans Herz gewachsen sind.

Schulden aus vergangener Zeit

Sie erklärt mir, dass viele Schwierigkeiten Nachwirkungen von Fehlern in der Vergangenheit waren. Die Geschichte der Roma spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rollen. Wurden sie zu Zeiten des Nationalsozialsmus fast vollständig vernichtet, hat man die, die es noch nicht waren, zwangsweise sesshaft gemacht. Ihre Pferde nahm man ihnen weg, von den Wägen wurden die Reifen abmontiert. Quasi automatisch wurden sie in Sonderschulen gesteckt und führten später nur die ihren geringen Bildungsniveau entsprechenden Arbeiten aus. Es muss aber dazu gesagt werden, dass die meisten Roma zu dieser Zeit wenigstens Arbeit hatten. Heute sieht das anders aus, denn nach dem Fall der Mauer waren vor allem sie die großen Verlierer, denn die Stellen fielen weg und ihre Arbeit wurde kaum mehr gebraucht. So ist ihre soziale Unsicherheit heute bei weitem größer. (Mehr zur Geschichte und Kultur der Roma kann im übernächsten Artikel nachgelesen werden. Dort schildere ich meine Erlebnisse in Brno und dem Museum für Roma-Kultur.)

Das Geschäft mit der Armut

Gerissene private Vermieter, Unternehmer und Betrüger nutzen diese Situation gnadenlos aus. Es besteht kein Interesse daran, Sozialwohnungen zu schaffen. Häuser, in denen Roma wohnen, werden zum Beispiel an Leute in Prag verkauft, die die Preise dann unkontrolliert in die Höhe treiben können. Dabei verliert aber auch der Staat, der Wohngeld und Nebenkosten bezahlt sowie Sozialleistungen für die Bildung. Die Heizkosten, die die Roma aber oft selbst zahlen, sind hier so hoch wie sonst nirgendwo. Tendenz: steigend. Und um das Geld dafür aufzubringen, nehmen sie Kredite auf, die sie nicht selten mit Hilfe von Schwarzarbeit, Diebstahl oder dem Sammeln von Rohstoffen zurückzahlen — und schon ist man in der Schuldenfalle.

Für einen ordentlichen Bildungsweg der Kinder fehlen die Mittel und man hat ja selbst nur wenig Erfahrungen mit dem Sinn von Einrichtungen wie Kindergärten gemacht. Wenn sie dann in die Schule kommen, sind sie von Anfang an benachteiligt und die Abstände zwischen den Schülern werden von fortlaufend größer. Auch heute besuchen viele Roma-Kinder Sonderschulen oder Schulen, wo nur sie unterrichtet werden, weil andere Eltern nicht wollen, dass ihre Kinder Kontakt zu Roma haben. Hier kommt die Caritas ins Spiel, denn sie versucht aktiv, den Kindern in ihrer Entwicklung zu helfen und ihnen Chancengleichheit zu ermöglichen.

Fotos by radio.cz, charitasluknov.cz, decinsky.denik.cz, tag-des-herrn.de, cez.cz

Chancen auf Veränderung

In einem Vorschulklub werden Roma-Kinder mit Hilf der Montessori-Pädagogik gefördert. Hausaufgabenbetreuung für Schulkinder sowie kostenloses Essen in der Schulkantine gehören ebenfalls zum Angebot. Wenn am Nachmittag dann das Zentrum “Ambrela” seine Türen öffnet warten dort viele kreative Angebote wie Handarbeiten, Tanz, Musik oder Theater auf Kinder und Jugendliche, egal ob Roma oder Nicht-Roma. Gemeinsam unternehmen sie Ausflüge oder betätigen sich sportlich. Erklärtes Ziel ist es, die Bildungsnot zu bekämpfen und späteren Problemen vorzubeugen. Vorurteile sollen gar nicht erst entstehen und den Kindern wird gezeigt, dass ein Miteinander gewinnbringender ist als ein Gegeneinander.

Mit ihrer Arbeit stoßen Eva Habel und ihre Kollegen aber auch auf viel Widerstand und Unverständnis. “Sie machen viel zu viel für die Roma”, bekommt sie oft zuhören. Auch die Verhandlungen mit der Stadt verliefen sehr zäh und ein großes Problem ist, dass das Projekt in Zukunft nun nicht mehr vom Ministerium gefördert wird. Damit fehlen wichtige Gelder. Dennoch: Die Eindrücke, die ich hier zum Schluss sammeln konnte, stiften Hoffnung und zeigen, dass mit gegenseitigem Engagement mehr Menschen geholfen ist, als wenn man sich auf seinen Ängsten und Vorbehalten gegenüber der Roma-Minderheit ausruht.

Was bleibt

Es ist schon etwas spät, als wir uns voneinander verabschieden. Frau Habel meint, dass sie sich sehr freuen würde, wenn ich irgendwann mal Lust auf ein Praktikum hier hätte und ich versichere ihr, dass ich auf jeden Fall noch mal zurückkommen werde. Sie wünscht mir noch viel Glück auf meiner Reise und dann verlassen Jitka und ich das Haus.

Im Dunkeln macht Schluckenau einen noch bedauernswerteren Eindruck als am Nachmittag. Wir steigen ins Auto und Jitka fährt uns wieder nach Hause. Wir halten unterwegs bei ihrer Mutter. Es sind ein paar Freunde zu Besuch, wir unterhalten uns kurz und nach einiger Zeit fragen sie Jitka, woher wir denn gerade kommen. “Wir waren in Schluckenau, bei den Roma.” — “Pfui! Wieso denn das?” — “Naja, er wollte mal Kontakt haben!”, verteidigt mich Jitka. Es scheint wohl noch ein langer Weg zu sein, bis die meisten Leute das verstanden haben, was die Kinder in der Caritas heute schon lernen.

Am nächsten Morgen endet mein Aufenthalt in Rumburg. Ich danke Jitka für Alles, sie hat sich wirklich bemüht, meine Zeit hier so interessant wie möglich zu gestalten. Nach der Verabschiedung und vielen Versprechen mache ich mich auf den Weg Richtung Česká Lípa. Hier wartet Miroslav Tancoš auf mich, der Vorsitzende der neu gegründeten Demokratischen Roma Partei.

Wie herzlich er und seine Frau mich aufgenommen haben und welch interessanten Informationen ich unseren Gesprächen abgewinnen konnte, gibt es im nächsten Artikel zu lesen.

Liebe Grüße, Lucas (auf dem Weg nach Bratislava).

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Lucas Paeth

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