Der Tag, an dem wir die Trolle austricksten

Lukas Martin
6 min readDec 2, 2014

Wie man aus einer Schlammschlacht eine Diskussion machen kann

In meinem letzten Aufsatz habe ich mir Gedanken gemacht, wie man das Troll-Problem in den Griff bekommen kann. Die Lösung, die ich damals skizzierte, haben wir jetzt ausprobiert. Bei einem riskanten Thema.

Immer mehr Websites, inklusive CNN und Süddeutsche.de, erlauben Kommentare auf ihren Seiten nur noch zu ausgewählten Artikeln. Tagesschau.de denkt auch über ein solches System nach, wdr.de führt es ab Dezember ein — es sieht so aus, als sei die Kommentarfunktion auf dem Weg zum Internet-Friedhof, auf dem schon das Interview zum Nachhören und die Audio-Slideshow liegen. Nicht nur in den USA haben die Medien vor allem eine Lösung: Sie verschieben die Diskussion in die Sozialen Medien.

Ein Problem dieser Methode ist es, dass wir politische Diskussionen auf Plattformen stattfinden lassen, von denen wir wissen, dass sie die Daten abschöpfen und auf unbestimmte Zeit speichern. Ich will meine Leser nicht dazu anstiften, ihre politische Gesinnung auf solche Weise zu entblößen. Und: Warum sollten wir die Diskussion weiter von uns wegschieben als nötig?

Außerdem schließen wir durch die Flucht in die Sozialen Medien Millionen Menschen von unseren Diskussionen aus. Das wird besonders deutlich, wenn Medien dazu auffordern, auf Twitter mitzudiskutieren. Bei geschätzt weniger als einer Million aktiver Twitter-Nutzer in Deutschland kann das nur eine Randdebatte sein, darüber hinaus eine sehr elitäre. Auch wer als Massenmedium seine Diskussionen auf facebook stattfinden lässt, macht bei einer aktiven Nutzerzahl von hierzulande 27 Millionen einen großen Teil der Deutschen mundtot.

Deshalb haben wir bei t-online.de ein neues Format geschaffen und t-online.debatte genannt. Wir wollten die Diskussion aus der Kommentarspalte am Ende der Artikels herausheben und zur Hauptsache machen: Eine Debatte mit eigenem Teaser auf unserer Homepage. Anders als üblich wollten wir sie nicht nur von beleidigenden, unsachlichen oder rassistischen Kommentaren säubern; ein Moderator — keine Leserdialog-Mitarbeiter wie üblich, sondern ein Redakteur — sollte die Diskussion lenken, sie übersichtlicher machen, jeden Kommentar in den Kontext setzen, stumpfe Beleidigungen ignorieren und auch eine eigene Meinung einbringen. Kurz gefasst: Offensive statt immer nur Verteidigung gegen Trolle, Hater und Rassisten.

So sah der erste Teaser für die moderierte Debatte aus. Das Thema funktionierte hervorragend bei den Nutzern.

Inzwischen haben wir das Format schon öfter angewandt — aber zu welchem Thema sollten wir es testen? Zu einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts, vor dem eine muslimische Krankenschwester klagte, die ein Kopftuch tragen wollte, kam in unseren MorgenNews eine heftige Diskussion unter den Nutzern auf. Eine Debatte zum Kopftuchstreit? Ihr werdet von den Rassisten überrollt, meinten viele Kollegen. Da sind doch nur alle einer Meinung, sagten die anderen; du musst ständig das Gleiche wiederholen. Doch wir glaubten daran. Die schönste Regel für Moderatoren einer t-online.debatte übersehen die meisten: Man muss nichts veröffentlichen und bleibst so immer Herr der Lage. Und wenn das Format dieses Thema aushielt, wäre es jedem Ansturm gewachsen.

Aus den folgenden drei Stunden Diskussion — mit über 800 Kommentaren, und knapp 40.000 Seitenaufrufen — habe ich folgende Lehren gezogen:

1. Mach die Spielregeln klar

2. Ruhe bewahren, kategorisieren

Der erste Aufschlag zu solch einem Thema ist eine Monsterwelle — wie soll man dieser Kommentarmasse nur Herr werden? Der Schlüssel ist, die Kommentare sofort in mehrere Kategorien zu unterteilen. Das hilft beim Überblick enorm. In meinem Fall waren das: 1. Muslime müssen sich hier anpassen, das müssen wir in ihren Ländern auch. Das Kopftuch ist ein Zeichen der Unterdrückung 2. Der Arbeitgeber wird wohl noch eine Kleiderordnung festlegen dürfen. 3. Ein Kopftuch hat in einem christlichen Krankenhaus nichts zu suchen. 4. In einem Krankenhaus sollten keine Zeichen des Glaubens getragen werden — ich fühle mich auch von Schwestern und Priestern bedrängt. 5. Lasst sie doch ihr Kopftuch tragen.

3. Du kannst den Dialog provozieren

Am Anfang kann es sein, dass noch keine Diskussion unter den Lesern aufkommt, weil sie zuerst damit beschäftigt sind, ihre Meinung abzugeben. Deshalb lasse ich die besten Kommentatoren aus den verschiedenen Kategorien nacheinander zu Wort kommen — so scheinen sie aufeinander zu antworten. Mit der Zeit wird sich ein Dialog unter den Nutzern herausbilden, der zu einzelnen Fragen sehr intensiv werden kann.

4. Gib die Grundstimmung wieder

Mehr als die Hälfte der Kommentare vertreten in der Regel eine einzige Meinung, mehr oder weniger radikal formuliert. Das ist einer der großen Vorteile gegenüber dem puren Freigeben der unbedenklichen Kommentare: Ich zitiere pars pro toto immer wieder einen von ihnen und stelle ihn als Vertreter der Mehrheitsmeinung dar. So bleibe ich dem Stimmungsbild treu, ohne durch ständige Wiederholungen zu langweilen, die sonst nicht zu vermeiden wären.

5. Lenke mit deiner Meinung, deine Einschätzung ist wichtig!

Der größte Unterschied zur Kommentarspalte ist: die Nutzer sind auf Augenhöhe mit dem Redakteur. Das muss er auch zeigen, indem er Kommentare aufgreift und seine eigene Meinung dazu äußert. Damit kannst du die Diskussion steuern, sie versachlichen, eine neue Richtung einschlagen oder auch wieder befeuern, indem du dich zur Zielscheibe der einen und zum Anwalt der anderen machst. Manche Dinge kann man auch nicht einfach so stehen lassen, nur weil man keinen passenden Kommentar der Gegenseite parat hat.

6. Votings sind Ventil und Orientierung

Umfragen sind ein wichtiges Tool für Leser und Moderator, um den Überblick zu bewahren. Der Leser, der dazustößt, kann sich schnell einen Eindruck vom Stimmungsbild machen. Der Redakteur wird daran erinnert. Und: Die meisten Besucher lesen nur und kommentieren nicht — so haben auch sie ein Ventil und können schnell ihre Meinung dokumentieren.

7. Klopfe die Ränder der Diskussion ab

Je länger die Diskussion dauert, desto mehr interessante Teilaspekte kommen auf. Hier zum Beispiel, ob wir alle Religionen gleich behandeln und die Mehrheit auch einen Juden in die Schranken weisen würde. Das macht die Sache spannend!

8. Sei fair

Die Rechtschreibung mancher Kommentatoren ist übel. Ich versuche, alle Fehler aus einem Beitrag zu entfernen, bevor ich ihn veröffentliche. Wir wollen die Nutzer nicht unnötig schlecht dastehen lassen. Egal, was sie für eine Meinung vertreten.

Du musst die Kommentare wahrscheinlich auch kürzen, um sie lesbar zu machen und den Kern aus einem langen Traktat herauszulösen. Das ist keine Zensur sondern Service für Kommentator und Leser. Übrigens hat sich bei den Hunderten Kommentaren, die ich gekürzt veröffentlicht habe, noch keiner darüber beschwert.

9. Fazit

Die Debatte war überraschend vielseitig und für viele Beobachter ein Gewinn. Die Beiträge wurden im Laufe der Diskussion immer differenzierter. Aus einer Kommentarspalte, die wir keine 30 Sekunden hätten offenhalten können, wurde etwas, das wir ständig predigen, aber so gut wie nie machen: Den Leser respektieren und ihm endlich auf Augenhöhe begegnen.

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Lukas Martin

Editor for innovation at t-online.de, digital format developer, mail@lukasmartin.com, Twitter: LukasMartinNews