Und die Finanzbranche bewegt sich doch

Einblicke aus Sicht eines Quereinsteigers

Martin Oberkofler
6 min readNov 29, 2019

Seit meinem Umstieg in die Finanzbranche verspüre ich regelmäßig das Bedürfnis, meine Berufswahl zu rechtfertigen. Können Sie das nachvollziehen?

Das Geschäft mit dem Geld hat einen denkbar schlechten Ruf. Den Menschen kommen spontan Schwarzgelder auf Schweizer Nummernkonten, unverhältnismäßige Bonuszahlungen an Banker, Steuervermeidungsstrategien, wie sie von den Panama Papers aufgedeckt wurden und exzessive Spekulation an den Finanzmärkten zu Lasten der Anleger und der Allgemeinheit in den Sinn. Viele Menschen sind berechtigterweise angewidert. Sie betrachten den Kredit bei ihrer Hausbank, ihre Rentenversicherung oder ihre (wohlberaten konservative) Kapitalanlage als notwendiges Übel. Darüber hinaus möchten sie mit der Finanzbranche möglichst wenig zu tun haben.

Als Protagonist in der Finanzbranche erfasst mich dieses gewisse Unbehagen.

Das war in etwa auch meine Herangehensweise. Und dennoch habe ich vor einem Jahr meine Forscherlaufbahn beendet und mich für eine aktive Rolle in genau dieser Branche entschieden. Ich bin jetzt selbst ein Protagonist in der Finanzwelt. Und als solcher erfasst mich immer wieder mal dieses gewisse Unbehagen. Kaum jemand aus meinem früheren Umfeld arbeitet in der Finanzwirtschaft. Viele sind im medizinischen oder erzieherischen Bereich tätig oder in Forschung und Entwicklung. Sie führen mir regelmäßig immer wieder ihren Blick von außerhalb auf die Branche vor Augen. Das Schlimme dabei ist, dass ich auch auf der Basis der tieferen Einblicke, die ich inzwischen gewinnen konnte, meinen Freunden sagen muss: Für die meisten Vorwürfe, die erhoben werden, gibt es praktische Beispiele und Belege zu Hauf. Einiges ist sogar schändlicher, als man gemeinhin annimmt.

Die Branche scheint ein Stück weit auch einfach festgefahren zu sein. Sie hat sich ein System erschaffen, das all die wohlbekannten Fehlentwicklungen ermöglicht hat. Um der resultierenden Probleme Herr zu werden, hat sie sich mit einer Flut von Regulierungsauflagen geknebelt. Es hat zum Teil den Anschein, als hätte sie sich dabei im Klein-Klein der Schadensbegrenzung verloren. Das Wirrwarr der Interessen versperrt so manchen etablierten Akteuren den nötigen Weitblick für die heutigen (aber auch für die althergebrachten) Aufgaben der Branche. Auch fehlt oft der nötige Mut oder der Wille, die Herausforderungen mit geeigneten modernen Mitteln anzupacken.

Dabei gehört die gewissenhafte und effiziente Erfüllung dieser Aufgaben zu dem Grundlegendsten, was eine Gesellschaft zu organisieren hat. Das ist eine weitere Einsicht, zu der ich in meinem ersten Jahr in der Branche gekommen bin: Ohne eine staatliche Währung, ohne die oft gegeißelte Gelderzeugung „aus dem Nichts“ durch Kreditvergabe und ohne Märkte für den Handel von Investitionen hätten wir nicht das wirtschaftliche Wohlstandsniveau erreicht, auf dem wir heute leben und könnten es nicht halten. Neben all den offensichtlichen Problemen unseres Finanzsystems habe ich auch dessen Nutzen besser kennen und schätzen gelernt.

Es geht nicht darum, das System abzuschaffen. Sondern darum, es richtig zu machen.

Es geht also nicht darum, all dies abzuschaffen. Sondern darum, es richtig zu machen. Mit anderen Worten: Wir müssen die vorhandenen Möglichkeiten auf eine Weise und zu solchen Zwecken nutzen, die einen Mehrwert für die Gesellschaft darstellen. Dazu müssen sich Finanzinstitute nicht gleich in gemeinnützige Institutionen verwandeln. Wer nach bestem Wissen und Gewissen nützliche Dienstleistungen anbietet, darf dafür natürlich eine faire Bezahlung verlangen.

Auch ich bin nicht aus wohltätigen Motiven umgestiegen, sondern weil ich das Gefühl hatte, dass sich hier etwas bewegen lässt. Junge Finanztechnologie-Unternehmen graben auf verschiedenen Geschäftsfeldern den bestehenden Institutionen das Wasser ab, größtenteils indem sie die Möglichkeiten der Digitalisierung intelligent einsetzen. Sie nutzen dabei die notorische Trägheit der großen, etablierten Konzernen aus. Diese müssten in vielen Fällen für die konsequente Umsetzung digitaler Lösungsansätze ihre eigene Kannibalisierung vorantreiben. Dabei sind sie verständlicherweise zögerlich. Erfolg haben die neuen Fintech-Unternehmen aber auch deshalb, weil sie sich Kundenorientiertheit in großen Lettern auf die Fahne geschrieben haben. Das ist eine positive Entwicklung. Sie hat in den letzten zehn Jahren enorm an Fahrt aufgenommen und scheint unaufhaltsam.

Darüber hinaus gibt es noch viele weitere spannende und aus gesellschaftlicher Sicht sehr wertvolle Entwicklungen. Ich sehe, lese und höre von Nachhaltigkeits-Kriterien für Investitionen (sogenannte ESG-Kriterien: Environmental, Social and Governance — Umwelt, Soziales und Unternehmensführung), von ethischem Banking und von wirkungsorientiertem Investieren (Impact Investing). Es ist die Rede von Stakeholder Value und Kundennutzen, von verantwortungsvoller Unternehmensführung und demokratischer Steuerung und auch von komplementären, sozialeren Geldsystemen. Es schwirrt so manche wirklich neue und potenziell umwälzende Idee umher.

Und umwälzend muss die Entwicklung in vielerlei Hinsicht notwendigerweise sein. So muss beispielsweise viel mehr privates Kapital in nachhaltig handelnde Unternehmen fließen, um die siebzehn „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ erreichen zu können, die sich die Vereinten Nationen gesteckt haben. Im Jahr 2017 haben Mitglieder des Club of Rome dazu die „Investmentwende” ausgerufen. Wie kann diese Wende erreicht werden? Einen mächtigen Hebel kann aus meiner Sicht die besagte Zunahme der Kundenorientiertheit der Finanzbranche darstellen. Sie könnte der Katalysator sein, der das große Geld in Bewegung bringt. Wohin die Reise geht — genauer gesagt, wohin das Kapital fließt — bestimmt der Kunde. Und das seid ganz oft Ihr. Ja, Du da draußen! Geld bewegt in dieser Welt unbestreitbar enorm Vieles. Daher haben wir durch unsere Investitionsentscheidungen (und genauso durch den Verzicht auf aktive Entscheidungen!) einen großen Einfluss.

Eine Erneuerung der Finanzbranche ist ein langfristiges Projekt. Aber es tut sich was.

Diese und viele andere Entwicklungen in der Finanzbranche betreffen uns alle und sollten daher jeden von uns interessieren. Innerhalb der Branche herrscht bereits weitgehend ein nüchternes Bewusstsein für die vorgenannten Fehlentwicklungen und Unzulänglichkeiten. Und dieses Bewusstsein scheint beständig weiter zu wachsen. Zudem wächst aber gerade in letzter Zeit auch die Bereitschaft der gesamten Branche, sich zu bewegen. Mir scheint, ich bin in einem Moment eingestiegen, in dem ein Umschwung zu mehr Nachhaltigkeit und Fairness nicht nur möglich ist, sondern auch der Wille dazu sich breit macht.

Jede grundlegende Änderung des etablierten komplexen Finanz- und Geldsystems bringt vielfältige und potenziell unabsehbare Konsequenzen mit sich. Daher sind radikale Forderungen, motiviert durch den Frust über das Bestehende oder durch blinde Technologieverliebtheit und Träumerei, fehl am Platz. Besonnenheit ist geboten. Der richtige Ausgangspunkt für diesen Weg ist nicht der Ruf nach einer Tabula Rasa, sondern eine vernunftgetriebene und zielorientierte Diskussionskultur. Eine solche kann uns zu einem gesunden Bewusstsein bezüglich des Status Quo verhelfen. Dieses wiederum ist die Basis für eine ausreichende Offenheit gegenüber überfälligen und heute schon möglichen Veränderungen.

Eine Erneuerung der Finanzbranche ist ein langfristiges Projekt. Aber das darf uns nicht abschrecken. Ich selbst habe keine Scheu vor langfristigen Projekten. Ich war über zehn Jahre als Physiker in der Forschung zur Kernfusion tätig. Ein Beitrag dieser Technologie zur weltweiten Stromversorgung ist realistisch gesehen nicht vor 2050 zu erwarten. Im Vergleich dazu bewegt sich die Finanzbranche derzeit wie ein aufgeschrecktes Wiesel und die vermuteten kurzen Zeitskalen für mögliche Umwälzungen verbreiten in manchen Unternehmen regelrechte Hektik.

Ich kann Euch also sagen: Es tut sich was. Es rumort sogar gewaltig. Ich bin — ein wenig zufällig — mittendrin. Aus dieser Position heraus werde ich versuchen, meinen Beitrag zu leisten, auch zu einem besseren Verständnis für die notwendigen oder wünschenswerten Entwicklungen. Und Einblicke zu geben in eine mögliche Zukunft. Nur was wir verstehen, können auch wir proaktiv verwandeln. Möglicherweise kann ich einige selbstwirksam handelnde Experten mit der unbefangenen Sichtweise eines Quereinsteigers auf innovative Ideen bringen. Und vielleicht gelingt es mir, den einen oder anderen interessierten Laien mitzunehmen auf diese Reise, auf die ich mich begeben habe.

Macht mit! Jetzt können wir zu einer Verbesserung, zu mehr Nachhaltigkeit beitragen.

Das schlechte Ansehen meiner Branche ist selbstverschuldet und nicht unbegründet. Aber die Branche ist im Umbruch. Und in Zeiten des Umbruchs, wenn althergebrachte Strukturen untergraben werden, teilweise zerfallen und neu gedacht werden müssen, bietet sich die Chance, die Position des passiven Beobachters oder des ohnmächtigen Mitläufers zu verlassen und gestalterisch einzugreifen. Erstarrte Gebilde werden plötzlich formbar, Ordnungen werden antastbar und neu zu etablierende Prozesse können in gewünschte Bahnen gelenkt werden. Macht mit! Jetzt können wir zu einer Verbesserung, zu mehr Nachhaltigkeit beitragen.

Es ist eine spannende und vielversprechende Zeit in meiner Branche. Jetzt heißt es dranbleiben.

Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch erschienen in Dialogue&Discourse: https://medium.com/discourse/https-medium-com-m-oberkofler-and-yet-the-financial-industry-moves-6a9c28167455

Martin Oberkofler, Chief Legal Officer at SYNTRIX
www.syntrix.capital
https://www.linkedin.com/in/martin-oberkofler

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