Die Zunft des Agile Coaches unter ambivalent kompetitiven Marktbedingungen

Marc Lustig
9 min readSep 17, 2021

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Worum es geht

Die Zunft des Agile Coaches bewegt sich in einem ambivalenten Spannungsfeld zwischen der beratenden Expertenrolle einerseits und der eines Coaches, der wesentlich wirksam ist durch Spiegelung, Katalyse sowie durch die eigene Selbstführung andererseits. In der Polarität zwischen Fremdeinwirkung versus Selbstverstärkung finden sich weitere Haltungen wieder wie der eines Facilitators, Trainers oder Mentors.

Wenn die Frage nach der Wirksamkeit die entscheidende Dimension für die Ausgestaltung der Rolle ist, dann muss eine methodische Diskussion sich genau daran messen lassen. Insofern der Agile Coach, in welcher Ausprägung auch immer, zusammen mit seinem Auftraggeber ein System bildet, ist seine Wirksamkeit inhärent abhängig erstens von den Voraussetzungen des Auftraggebers und zweitens von der Auftragssebene, die, sei es implizit oder explizit, individuell ausgehandelt wurde.

Mit diesem Artikel möchten wir dazu beitragen, das Berufsbild des Agile Coaches transparenter zu machen, indem die verschiedenen Dimensionen seiner Wirksamkeit im systemischen Zusammenhang betrachtet werden.

Der Agile Coach als Berater (Advisor)

In der zwischenzeitlich dem Volumen nach erheblich gewachsenen Agile Coach Industrie besteht die Erwartungshaltung der Auftraggeber bzw. Arbeitgeber zunächst einmal darin, die Organisation oder einen Teilbereich daraus in Richtung einer agilen Arbeitsweise zu lenken, die bestenfalls durch einen Kulturwandel getragen ist. Es wird hier in der Regel ein aktives Eingreifen in die vorhandene Arbeitsweise als notwendig vorausgesetzt. Die Kernbotschaft an die betroffenen Mitarbeiter lautet:

  1. wie es aktuell läuft ist es nicht ideal
  2. ihr kriegt es alleine nicht hin
  3. wir holen uns diesen Experten (Agile Coach) rein damit er euch zeigt wie es besser funktioniert.

Die emotionale Gemengelage, die sich aus dieser Auftragsebene ergibt, ist allseits bekannt. Bestenfalls finden die Mitarbeiter dieses agile Ding eigentlich richtig gut. Sie sind offen und lassen sich auf den Lernprozess ein. Gelegentlich sind sie sogar dankbar dafür, dass endlich mal jemand eine “klare Linie” und ein verbindliches Arbeitsmodell vorgibt.

Und an diesem Punkt wird es interessant im Hinblick auf das Thema Verantwortung (ownership): die Mitarbeiter geben die Verantwortung für ihre Arbeitsweise an den Agile Coach ab, einer Verantwortung, mit der sie sich im Kontext einer lernenden Organisation intrinsisch verbunden fühlen sollten. Auf der anderen Seite nimmt der Agile Coach eine Verantwortung an, von der er wissen müsste, dass er sie nichtmals theoretisch erfüllen kann. Was kann dabei anderes herauskommen als eine agile Totgeburt?

Der Agile Coach als Coach: Beratung ohne Ratschlag

Genau dies tut der Agile Coach als Coach nicht — die Verantwortung für etwas übernehmen, das er nicht abschließend kennt und schon gar nicht für die Implementierung der Lösung. Der Agile Coach als Coach ist getragen von den Werten und Prinzipien der International Coaching Federation (ICF). Als solcher nimmt er das Coaching Mandat mit der Überzeugung an, dass der Klient alle Ressourcen besitzt, die für ihn passende Lösung über einen Lern- und Reflexionsprozess zu finden. Dies spiegelt sich durch klare Spielregeln im Auftragsverhältnis wider. Sein deliverable (Leistungsgegenstand) besteht vordergründig darin, diesen Prozess zunächst einmal überhaupt zu ermöglichen.

Der Agile Coach als Coach definiert seine agile Expertise und sein Leistungsangebot über seine Erfahrung darin, andere Organisationen erfolgreich dabei begleitet zu haben, ihren eigenen und einzigartigen Weg zur Agilität zu finden — ohne diesen Weg vorgezeichnet zu haben. Er widersteht konsequent der verlockenden Versuchung, Lösungen (aka “best practices”) zu kolportieren. Seine 360° Präsenz ist von außen gekennzeichnet durch aktive Passivität. Damit bekräftigt er einerseits das Auftragsverhältnis und stärkt andererseits die Zuversicht des Kunden in das Potential seiner Organisation als System. Das Gefühl der Ermächtigung ist dabei zunächst von erheblichem Widerstand geprägt. Hiermit umzugehen und das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren ist eine der Kernleistungen des Coaches.

Der Status Quo von Agilität

Scrum will das Problem lösen, die Adaptivität in der Produktentwicklung in einem komplexen Umfeld zu maximieren. Zentral für die Lösung von Scrum ist multidimensionales Lernen. Enterprise Agility geht insofern über Scrum hinaus, als die Maximierung der Adaptivität auf die Organisationsebene als soziales System erweitert ist. Der Unternehmenskultur kommt daher eine zentrale Bedeutung zu.

Betrachten wir nun die Realität von Scrum und Agilität in der Unternehmenswelt, so zeichnet sich ein zutiefst ambivalentes Bild. Einerseits mangelt es nicht an Aufmerksamkeit für das Thema Agilität. Die agilen Schlagwörter werden unternehmensintern entweder gefeiert, sie sind gebrandmarkt, oder sie sind Teil eines operandi geworden. Ebenso wenig mangelt es Transformationsinitiativen.

Demgegenüber ist bei der großen Mehrheit der Unternehmen gerade aus der neutralen Sicht eines externen Coaches kaum erkennbar, dass die Optimierungsziele von Scrum und Agile sich in den strategischen Unternehmenszielen wiederfinden. Vielmehr wird das Thema Agile als ein proxy middle layer abgefrühstückt mit einem zweifachen Effekt: erstens wird die Fassade des Zeitgeistes hochgezogen mit dem gewünschten Effekt, die Attraktivität insbesondere auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen.

Andererseits wird der status quo im Hinblick auf die herrschenden Entscheidungsprozesse bestätigt. Eine Ausdünnung der Hierarchieebenen ist nur in Einzelfällen zu beobachten. Strukturen kollaborativer Führung, Merkmal einer agilen Organisationskultur, fassen nicht Fuß.

Wie kam es dazu, dass mit der Einführung von Scrum und Agile Probleme gelöst werden sollen, für die sie überhaupt nicht erschaffen wurden? Die Antwort liegt im Wandel der sozioökonomischen Voraussetzungen, die sich seit der Finanzkrise 2008 immer mehr verdichtet haben.

Sozioökonomische Voraussetzungen im Wandel

Die Bewegung rund um Scrum und Agile hat ihre Ursprünge zum einen im Systemdenken, das zunächst in den 1940er Jahren von Gregory Bateson und Margaret Mead, später dann von Peter E. Senges “Fünfter Disziplin” geprägt wurde, und zum anderen in der Wiederentdeckung des “Faktors Mensch” im Jahre 1960 durch Douglas McGregor (The Human Side of Enterprise). Nonaka und Takeuchi haben 1986 letztendlich den entscheidenden Schritt von der lernenden Organisation zur Framework Ebene von Scrum freigemacht.

Wenngleich die neoliberale Freizügigkeit seinerzeit noch nicht so weit fortgeschritten war wie heute, so waren doch die Wettbewerbsbedingungen aufgrund politischer Stabilität und Kohährenz den Grundzügen nach vorhanden. In diesem Umfeld ist die agile Bewegung entstanden und hier ist die Antwort auf die Frage zu finden, welches Problem mit Scrum und Agile tatsächlich und empirisch dokumentiert gelöst wurde.

Heute sind jene Wettbewerbsvoraussetzungen in dieser Form nicht mehr existent. Einerseits steht es außer Frage, dass der Wandel sich exponentiell beschleunigt hat. Zentrale Motoren hierbei sind Digitalisierung, Mobilität und IoT. Die Beispiele für disruptive Veränderungen durch Innovation sind hinlänglich bekannt. Wenngleich Scrum und Agile darauf ausgelegt sind, genau jenen Herausforderungen zu begegnen, tun sich die meisten Unternehmemn äusserst schwer mit ihrer “agilen Transformation”.

Andererseits ist jedoch zu beobachten, dass die Politik über das Finanz- sowie über das Rechtssystem durch immer tiefere regulative Eingriffe Struktur und Einheitlichkeit ins System bringen will. Gesellschaftliche Fortschritte, reale oder vermeintliche, haben wir uns erkauft durch einen oftmals undurchsichtigen Dschungel an gesetzlichen Vorgaben. Das Executive Management übersetzt seine Aufgabe zur unternehmerischen Steuerung derart, die Vorgaben von außen als fix gegeben hinzunehmen und Entscheidungsräume rein intern durch autokratische Steuerung zu erschließen.

Gleichzeitig signalisiert die Politik konsistent, dassdas “systemrelevante” Unternehmen damit rechnen können, zu absolut jedem Preis durch frisches Geld aus den Töpfen der Zentralbanken gerettet zu werden, komme was wolle. Corona hin — Finanzkrise her. In Deutschland und vielen anderen Ländern tritt der Staat als Retter auf, indem er Unternehmen, die im Zuge der Coronamaßnahmen Umsatzeinbußen erlitten haben, entsprechende Kompensationen zur Verfügung stellt. Ohne hier eine volkswirtschaftliche Debatte anstoßen zu müssen, ist zumindest erkennbar, dass, gerechtfertigt oder nicht, tiefgreifende Eingriffe in den Wettbewerb von außen das sozioökonomische System stabilisieren sollen.

Agilität unter ambivalent kompetitiven Marktbedingungen

Die Realität von Agilität in der Unternehmenswelt, und damit auch die Realität des Agile Coaching, bewegt sich eben in diesem Spannungsfeld. Einerseits wird die disruptive Gefahr exponentieller Innovation insbesondere durch Digitalisierung und IoT erkannt, diese wird jedoch gleichzeitig vor dem Hintergrund gesetzlicher Regulation als zunehmend abstrakt wahrgenommen. Die regulativen Maßnahmen erzielen im Executive Management einen Effekt, der den politischen Institutionen nicht ungelegen kommt. Dieser Effekt läßt sich in all seinen Varianten unter dem Begriff confirmation bias zusammenfassen. Beim confirmation bias dreht sich alles darum, das die Realität so wahrgenommen wird, dass vorhandene Denkmuster bestätigt werden. Daniel Kahnemann hat hier über Jahrzehnte wichtige Grundlagenarbeit geleistet und in zwei Büchern dargelegt. Im Kontext von Organisationsentwicklung hat Craig Larman die zentralen Muster in seinen Larman’s Laws zusammengefasst. Diese Standardmuster (default pattern) drehen sich vordergründig um Effizienzmaximierung sowie der Zementierung hierarchiebasierter Führung auf der Basis formaler Autorität durch Titel und der Identifikation von Rolle mit Person. Eine agile Arbeitsweise hingegen verlangt eine Kultur, die in vielerlei Hinsicht diametral entgegengesetzt ist.

Die agile Weiterbildungsindustrie unter ambivalent kompetitiven Marktbedingungen

Um die Bestandsaufnahme der agilen Beratungsindustrie im Kontext ambivalent kompetitiver Marktbedingungen abzurunden, schauen wir uns noch kurz die Charakteristika der Weiterbildungsindustrie an.

Kennzeichnend sind die Angebote von Weiterbildungsanbietern, die das Versprechen abgeben, binnen weniger Tage eine Ausbildung zum Agile Coach zu absolvieren zu können. Der Arbeitsmarkt ist geradezu hungrig nach diesem Typus von “Agile Coach” — passt es doch genau in das oben skizzierte Bedürfnismuster. Ein derartiger Agile Coach verkörpert bestenfalls die agilen Werte, bleibt jedoch systemisch auf Ebene der unternehmerischen Agilität wirkungslos.

Der Trainingsmarkt ist überschwemmt von Angeboten, die methodisch geprägt sind, die Kernfrage nach der strategischen unternehmerischen Agilität wird dabei jedoch ausgeklammert.

Dysfunktionales thought leadership

Quereinsteiger in der agilen Beratungsindustrie postulieren gar den Weg in eine “postagile Zukunft” und definieren ihre Beratungsleistung als etwas, das über die agilen Konzepte hinausgeht — es wird hier unterstellt, dass die agilen Grundkonzepte an Validität eingebüßt haben und den aktuellen Bedingungen angepasst werden müssten. Vor dem Hintergrund ambivalent kompetitiver Marktbedingungen ist hier sicherlich ein wahrer Kern enthalten — allein, es wird hier implizit vorausgesetzt, dass der Trend, die Gesetze des freien Marktes regulativ auszuhebeln, irreversibel ist. Dies führt uns in eine volkswirtschaftliche Theorieebene, die zwar hochrelevant, jedoch außerhalb unseres Fokus liegt.

Der wirksame Agile Coach unter ambivalent kompetitiven Marktbedingungen

Nun möchten wir einen pragmatischen und lösungsfokussierten Blick auf die Frage werfen, unter welchen Voraussetzungen Agile Coaching tatsächlich im Kontext ambivalent kompetitiver Bedingungen Wirksamkeit entfalten kann.

Will ich als Agile Coach Organisationen helfen, die empirisch dokumentierten Früchte einer agilen Arbeitsweise zu ernten, sprich, das Problem zu lösen, wofür die Konzepte erschaffen wurden, so sind mehrere Schritte zu gehen:

  1. das “Wofür”: was macht mich als Agile Coach einzigartig, und wofür stehe ich?

Es gilt zunächst zu klären, welches Problem ich als Agile Coach lösen möchte. Was soll durch meine Tätigkeit im Auftragsumfeld anders werden?

Woher nehme ich das Vertrauen und die innere Zuversicht, den Wunschzustand innerlich zu fühlen und äußerlich zu verkörpern?

2. Das “Wie”: die Tätigkeiten

Aufbauend hierauf klare ich die Frage, mit welchen konkreten Tätigkeiten ich die erwünschte Wirkung entfalte. Hieraus ergibt sich die Formulierung des Angebots.

3. Auftraggeber bzw. Arbeitgeber identifizieren, zu denen das eigene Angebot spricht.

Ich suche mir genau diejenigen Auftraggeber, die eben jenes wünschen, was ich anbiete. Ich fordere Spielregeln ein welche die Aufteilung der Verantwortung sicherstellen.

4. die Frage nach dem “Wofür” der Organisation

Simon Sinek sowie zahlreichen anderen Autoren folgend, stellt der Agile Coach dem Auftraggeber die ultimative Frage nach dem Wofür — dem des Unternehmens sowie dem der Agilisierung. Er holt den Kunden damit aus seinem vorgefertigten Lösungsraum zurück zur Problemebene. Diesen Spannungsbogen zwischen Problem- und Lösungsraum macht er zum Ankerpunkt der Auftragsklärung.

5. bei der Umsetzung des Auftrags an der Auftragsklärung festhalten

Sofern das Wofür? auf der Auftragsebene geklärt ist, vereinfacht dies erheblich die Einhaltung der Coach Haltung, Der Agile Coach hat damit gute Karten, systemisch wirksam zu bleiben. Die Verantwortung für den agilen Lösungsansatz bleibt beim Auftraggeber.

Diesem Ansatz folgend liefert der Agile Coach dem Auftraggeber folg. Mehrwert:

  • welchen Wettbewerbsbedingungen unterliegt der Markt auf dem ich auftrete?
  • welchen unternehmerischen Mehrwert darf ich erhoffen, wenn mein Unternehmen agiler aufgestellt ist?
  • ich verstehe, dass ich selbst die Verantwortung für die Arbeitsweise und die Kultur meines Unternehmens übernehmen muss.

In diesem Artikel wurde ein neuartiger Bogen gespannt, der medial bisher nicht repräsentiert war. Das Thema konnte zwar nur angerissen werden, lädt aber ein zur Fortsetzung der Debatte.

Bio

Marc Lustig hat Informatik, Sozialwissenschaften und Philosophie studiert und er programmiert seit den 1980er Jahren. Sein Weg hat ihn vom agilen Fullstack-Entwickler über den Technischen (XP) Coach bis zum Enterprise Coach geführt. Als Leiter der axisMundi Leadership Academy bietet er Ausbildungsprogramme für Führungskräfte, Scrum Master, Agile Coaches und Product Owner an, bei denen das Thema Selbstführung im Zentrum steht. Er ist Certified Enterprise Coach (CEC) sowie Certified Team Coach (CTC) bei der Scrum Alliance und LeSS Friendly Scrum Trainer.

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Marc Lustig

I’m a growth coach who accompanies organizations and individuals to discover a greater version of themselves.