9000 Schüsse

Marc Eder
#betajournalism berlin
5 min readNov 20, 2014

Der drittgrößte deutsche Verlag Axel Springer SE hat vor Jahren den digitalen Wandel ausgerufen. Der Inhaber der großen journalistischen Zugpferde BILD und WELT möchte der größte Digitalverlag Deutschlands sein. Die ganz große Idee zur Umsetzung fehlt, man versucht es mit 9.000 kleinen. Ein Lokalaugenschein in einem Haus, das seine Zukunft sucht.

Hier strebt Axel-Springer den Newsroom einer schönen neuen Journalismus-WELT an. Fotocredit: Andreas Eymannsberger

In Deutschland sagt man Tschornalismus. Bei Axel Springer hört man dieses Wort recht häufig. Er sei die „Kerntätigkeit“, „das Thema, das uns immer antreiben wird“. Man sei ganz einfach immer noch “ein Haus des Tschornalismus”, betont Christina Müller vom Hochschulmarketing im Präsentationsraum im zweiten Stock des Axel-Springer-Hochhauses in Berlin.

Im Großraumbüro des hauseigenen Start-Up-Accelerators Plug and Play ein paar Straßen weiter würde man auf diese Idee nicht kommen. Die Wände sind von einem Künstler bunt und großflächig mit selbstironischen Zitaten aus der Wulff-Bild-Affäre bemalt worden. Besucher können sich Club Mate und Apfeldirektsaft nehmen. Die Start-Up-Menschen, die hier für drei Monate arbeiten dürfen, können sich auch gern mal bei einer Runde Tischtennis entspannen. Hier wird Silicon Valley gespielt. Scheinbar eine große Sehnsucht des seit zehn Jahren Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner, der auch seine höchsten Angestellten gern regelmäßig ins kalifornische Digital-Eldorado schickt. Um zu beobachten, zu lernen, die Zukunft zu lesen — und am Ende zu scheitern.

Das Berliner Plug-and-Play ist eine der Versuchsanordnungen, mit der sie nach Hause gekommen sind. Die Hälfte des Accelerators gehört dem Plug and Play Techcenter aus Sunnyvale, Kalifornien. Mehr als 200 Projekt-Teams aus aller Welt haben sich für den aktuellen Durchlauf beworben, die besten wurden zum Pitch eingeladen, die allerbesten auserwählt, in die eigenen Hallen geholt, mit 25.000 Euro Kickstartgeld ausgestattet und gegen fünf Prozent der Firmenanteile mit technischen und beruflichen Netzwerken versorgt. Eines davon ist derzeit das Grazer Unternehmen CrossCloud, dessen Entwicklerteam seine Geschäftsidee an diesem Tag probeweise vorträgt. Seit vier Wochen arbeiten die drei TU-Studenten in Berlin an ihrem Cloudspeicher-Dienst und daran, im Jänner vor Investoren-gespicktem Plenum ihre Idee vorzustellen. Gepitcht — so das konsequente Wording — wird hier fast täglich. Am Tag danach für eine russische Journalistengruppe, am Tag davor zu Trainingszwecken. How to start up every day — mit kalifornischer Kreativität und deutscher Gründlichkeit. Whatever.

Bis vor wenigen Tagen erfolgte die Entwicklung neuer Produkte des Hauses Springer auch im Inhouse-Inkubator Ideas. In den zwei Jahren des Bestehens wurden dort 15 nach eigener Ansicht zukunftsträchtige Ideen entwickelt. Acht davon wurden auch tatsächlich an den Start gebracht, die Hälfte davon ist — wie Axel Springer Ideas selbst — inzwischen Geschichte, begraben, gescheitert. Überlebt haben die Vor- und die Nachstufe der hausinternen Ideen-Wertschöpfungskette. Eben Plug and Play und Project A — ein “Company Builder”, bei dem Springer 2013 mit 30 Millionen Euro einstieg. Das Vertrauen in die Entwicklung eigener Ideen scheint man verloren zu haben. Man probiert an allen anderen Fronten. “I’ve missed more than 9000 shots in my career”, hat Michael Jordan mal gesagt.

Und das tut man mit teils beeindruckender Radikalität. Die vermeintliche Zukunftsschmiede Ideas wurde von einem Tag auf den nächsten eingestellt. “Man hätte vielleicht noch ein, zwei Jahre länger warten müssen, um zu sehen, was daraus entsteht”, meint selbst Müller. Neuer Tag, neues Glück. Und jetzt Silicon Valley. Das legt auch das kürzlich entstandende und zwischen peinlich und ironisch schwankende über-hippe PR-Video Yeah3000 nahe. Ein Konzern, der sich darüber lustig macht, dass er nicht mehr er selbst sein kann. Aufgenommen wurde der Streifen übrigens im alten Stasi-Hauptquartier, lässt Müller ein bisschen stolz wissen. Die übrigen Mitarbeiter holt der Fortschritt mit Weiterbildungen, 80-seitigen Seminarmappen und Gratis-Yoga-Kursen gegen den Stress ab. Auch sie muss jetzt los. Zu einer Messe nach Hamburg. In weiterer Folge werden Praktikanten die Führung leiten. Alle anderen müssen digitalen Wandel machen.

Das Grazer Start up CrossCloud bei einem Pitch. Fotocredit: Andreas Eymannsberger

Bei Axel Springer versteht man unter diesem Zauberwort im Wesentlichen ein Modell zur Digitalisierung und Internationalisierung unter der großen alten Holdingmarke. Neben dem Zukauf von rentablen Onlinemarken und vielversprechenden App-Produkten aus dem In- und Ausland versucht Axel Springer schon seit geraumer Zeit, einen unüberschaubaren Pool von medienaffinen oder medienverwandten Start-Ups zu beobachten und nach Möglichkeit zu entwickeln oder wenigstens zu fördern. Und sich mit den neuen Geschäftsfeldern einen neuen Spirit ins Haus zu holen. Eine Präsentation für die eigenen Mitarbeiter, wie man sein eigenes Internet-Start-Up gründet, mutet schon einigermaßen skurril an. Für Springer einer von 9000 Schüssen.

Die Zahlen sprechen dabei längst für die neuen und profitablen Rubrikenangebote und gegen die Bekenntnisse zur journalistischen Vergangenheit aus der Unternehmenspräsentation. Nach dem Verkauf von Traditionsmedien wie dem Hamburger Abendblatt oder der Berliner Morgenpost an die Funke-Gruppe stehen die tatsächlichen Umsätze aus den überwiegend von Lesern refinanzierten Bezahlangeboten im laufenden Geschäftsjahr bei nur noch 51,8 Prozent. Schon bald wird die Umsatzhälfte von den Segmenten Vermarktungsangebote, Rubrikenangebote und Sonstiges überschritten werden. Dutzende Preisvergleichsseiten wie Idealo, mobile Apps wie Runtastic oder Spartenportale wie Immonet und Stepstone werfen heute die großen Deckungsbeiträge ab. Springer kann dir heute sagen, wo du in der Nähe Nutella bekommst und bei welchem Puls ein Mensch wie du laufen sollte. Da verzichtet man gerne mal auf hauseigenen Lokaljournalismus und kauft ihn lieber von eben verkaufter Berliner Morgenpost zu. “Wir fahren gut damit, es funktioniert, ist lukrativ”, sagt Leeor Engländer, langjähriger Referent des Chefredakteurs der Welt, Jan Eric Peters, und Mobile Editor. Journalismus ja, aber nur zu seinem Preis.

Ein Lokalaugenschein bei Axel Springer. Fotocredit: Andreas Eymannsberger

Der Wandel sei auch im Haus deutlich spürbar. Die vielen neuen Tochterfirmen senken den Altersschnitt des Personals, am Gang versucht man sich zu duzen. Die jungen Start-Up-Anpacker sollen einen “Change” in die Unternehmenskultur gebracht haben. „Vor zwei Jahren noch sind hier wirklich alle mit Krawatte herumgelaufen, das ist jetzt nicht mehr der Fall.“ Auch das Entrepreneursdenken der einzelnen Mitarbeiter würde gefördert und gefordert. „Schaut mal über euren Tellerrand” oder “macht etwas, probiert etwas aus, es ist nicht schlimm, wenn etwas nicht funktioniert“, sind Sätze, die PR-Frau Müller bei der Unternehmenspräsentation stehen lässt. Auch erfahrene Mitarbeiter mögen sich vom neu ausgerufenen Start-up-Spirit anstecken lassen. Aber man sollte schon “immer ein Tschakett dabei haben, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.“ Und Döpfner duzen geht natürlich gar nicht.

Im Plug-and-Play-Büro trägt heute keiner Sakko. In der kleinen, bunten Welt, die wie die Großraumbüro-gewordene Zukunftsvision des Hauses Springers scheint, sagt ein Mann in Baggyhosen, dass er Meinhard heißt und stellt seinen Dienst SatoshiPay vor, der die Transaktion von Bitcoins besorgen soll. Der Praktikant, der die Führung hält, trägt Schal, Hornbrille und verwendet Wörter wie over-obvious. Weiter hinten im Büro arbeitet „Wer wird Millionär?“-Starlet und „Promi Big Brother“-Gewinner Aaron Troschke an einer Möglichkeit, YouTuber und Unternehmen zwecks Product Placement zusammenzuführen. In sauberen Tischreihen sitzt man am Mac und versucht das nächste große Ding zu programmieren. Dazwischen lernt man artig Buchhaltung und besucht Rechtskurse. Und immer wieder pitchen. Der Versuch zählt im Hause Springer. “…and that is why I succeed”, hat Jordan weiter gesagt. Mathias Döpfner dürfte Fan sein.

Interview mit dem Grazer Start up CrossCloud:

Interviewführung: Christoph Schattleitner; Videocredit: Andreas Eymannsberger

Leeor Engländer erklärt Die Welt

Von Marc Eder und Lukas Maria Matzinger

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Marc Eder
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Journalismus und PR-Student in Graz I Pinzgauer I Redaktionsleiter Sturm12.at I APA-Sportredakteur