Neurobots, Vereint euch!

Markus M
7 min readJul 15, 2024

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Der perfekte Baby-Organismus — eine perfekte Analogie für die bevorstehende KI-Katastrophe?

Immer wieder fällt mir auf, dass der aktuelle KI-Diskurs von humanoiden Dunning-Kruger-Entitäten geführt wird, die uns mit 50% Wissen und 100% Wichtigtuerei lautstarken und medienwirksamen Bullshit eintrichtern. Nachdem ich mich seit etwa 12 Jahren mit maschinellem Lernen beschäftige, habe ich beschlossen, einen nicht-bulshittigen Blog über KI zu starten

English version here.

KI — Das unheimliche Gehirn aus einer anderen Welt

Ich drücke den X-Button auf meinem Playstation-Controller. Daraufhin öffnet sich in der Decke eine Schleuse, und heraus kommt: Das Alien. Nicht irgendein Alien, sondern Das Alien aus Ridley Scott’s Alien — Das unheimliche Wesen aus einer anderen Welt. Ich meide Horrorspiele, aber ein Freund von mir hat gesagt, dass die künstliche Intelligenz von Alien:Isolation etwas ganz besonderes sei. Denn das Alien in Alien:Isolation wird nicht von einer einzigen KI gesteuert, sondern von zwei: Die erste ist blind und die zweite ist taub. Der Xenomoprh, so der Name des Aliens, ist doppelt intelligent.

Während die blinde KI horcht, hält die taube KI die Augen auf und sucht mich. Wenn das Alien mich sieht, ich aber still bleibe, ist das sensorische Pensum des Aliens nur zu 50% befüllt, und nichts passiert. Wenn das Alien mich hört, ich mich aber hinter einer Kiste verstecke, ist das sensorische Pensum des Aliens nur zu 50% befüllt, und es passiert wieder nichts. Der entscheidende 0,1\%, der dem Alien eine Mordsgewissenheit verleiht und in meine Richtung losjagen lässt, wird von einem Rauschen im Signal hinzugerechnet, das zufällig erzeugt wird. Ist das Alien sich auch nur zu 50.01% sicher, wo ich bin, springt es in meine Richtung, und ich sterbe. Der Xenomorph ist damit im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbar.

Alien:Isolation erschien im Jahr 2014 und wurde entwickelt vom Entwicklerstudio Creative Assembly. Und die Alien-KI, die eigentlich ein Alien-KI-Duo ist, verleiht dem Spiel eine Atmosphäre, die bisher kein anderes Horrorspiel kopieren konnte. Mitunter kann es passieren, dass das Alien in meine Richtung springt, kurz vor meiner Nase jedoch stehenbleibt und horcht, weil die Alien-KI gerade ein anderes Signal reinbekommen hat. Hat es mich gesehen? Hat es mich gehört? Meine Nemesis und ich stehen eine Handbreit voneinander entfernt, und trotzdem lebe ich.

Ein Jahr darauf, im Juni 2015, entwickelte ein Programmierer namens Seth Bling ein neuronales Netzwerk namens MarI/O. Das neuronale Netzwerk lernte den optimalen Speedrun für Super Mario World. Basierend auf der Neuroevolution von Augmentierungstopologien, erzeugte MarI/O neuronale Netze mit Hilfe genetischer Algorithmen. Dabei wusste MarI/O nur das Level-Layout und die Positionen der Hindernisse. Das Ziel bestand darin, die Fitnessfunktion so weit wie möglich auf die Zielgerade hin zu transportieren, und zwar so schnell wie möglich. Seth Bling ließ das Programm laufen, und nach 34 Generationen, die insgesamt 24 Stunden dauerten, beendete MarI/O das erste Level Level, indem es durch das gesamte Level sprang und allen Power-Ups und Gegnern auswich. Nach 17 Tagen errechnete MarI/O den optimalen Speedrun.

Der Einfluss von Programmierern interaktiver Unterhaltungssoftware auf den Fortschritt von künstlicher Intelligenz ist enorm. Vielleicht haben Sie sich einmal gefragt, wie das Navigationsgerät Ihres PKWs in der Lage ist, den kürzesten Weg zwischen Start und Ziel zu finden? Die Antwort lautet in vielen Fällen A* Heuristik, und sie dirigierte über Jahrzehnte nahezu alle NPCs, die in Videospielen auftauchten und den kürzesten Weg zwischen Spawn-Area und Ziel suchten. Viele unserer heutigen Roboter, seien es Staubsaug-Bots, Satelliten oder Militärdrohnen nutzen Behaviour-Trees, um je nach Situation bestimmte Verhaltensweisen zu aktivieren oder zu deaktivieren. Auch hier haben Spieleentwickler die Blaupausen geliefert.

Dabei erreichte künstliche Intelligenz in den Jahren 2023 und 2024 eine Finesse, die einem die Kinnlade runterklappen lässt. Large Language Models sprechen in ganzen Sätzen sinnvolles und logisch nachvollziehbares Weltwissen, und operieren so adaptiv wie nie zuvor. Vergleicht man die künstliche Intelligenz von heute mit den Ketchupbots der frühen 2000er Jahre, und erst Recht mit den hausgroßen Computerklötzen der 1940er Jahre, könnte man meinen, das Alien sei endgültig angekommen.

Die meisten Menschen könnten dies für die Rache der Nerds halten. Als hätte man damals ein paar Späße über den stillen Jungen im Klassenzimmer gemacht, der sich für C++ interessiert, und 20 Jahre wird man vom stillen Jungen — der Informatik studiert hat — ins Nirvana automatisiert. Man braucht jetzt “Intellektuelle auf Bühnen”, um zu erfahren, dass KI unser Game total changen wird; und was neuronale Netzwerke eigentlich sind, haben die meisten noch nicht verstanden. Als ehemaliger KI-Entwickler verrate ich Ihnen, was neuronale Netzwerke eigentlich sind: Software. Sie kommen in der Form von Computerprogrammen daher und funktionieren auch genauso. Weder neuronale Netzwerke noch KI ist “lebendig”. Die Frage nach den “Gefühlen” einer KI ist das Symptom einer psychologischen Projektion menschlicher Qualitäten auf der Suche nach sich selbst.

Generiert von Google DeepMind

Unter GameDevs gibt es diese Epiphanie: Wenn der Dev ein Game entwickelt, und für das Game eine KI entwickelt, die gegen den Dev spielt, und wenn der Dev sein eigenes Game spielt und von seiner selbst entwickelten KI in seinem selbst entwickelten Game besiegt wird, dann ist das etwas ganz besonderes. Während meines kurzen Aufenthaltes in der GameDev-Branche erlebte ich einen Technik-Optimismus, der branchenübergreifend einmalig ist. Man läuft auf dem Weg zur Kantine an einer Gruppe Senior-Devs vorbei, die GLaDOS zitieren und mit Nerf-Guns durch die Gegend ballern. Im Soundstudio werden Goblin-Geräusche aufgenommen, indem mit vollem Mund in ein Mikrofon gegurgelt wird. Die GameDev-Branche weiß, dass alles nur ein Spiel ist. Wenn dagegen in deutschsprachigen Talkshows über KI diskuttiert wird, kräuseln sich in den Gesichtern der geladenen Gäste, genauer zwischen Nase und Haaransatz, die Gestirne, und wir kriegen zu hören, dass unsere Jobs bald verschwinden. Wo ist hier die Epiphanie? Im Jobcenter? Ist das alles, was unsere geistige Elite zu bieten hat?

“Lieber alles schlecht finden, bevor man sich noch begeistern muss.” — Deutsche Mentalität

Klar kann man argumentieren, dass “echte” KI eine echt ernste Sache ist. Doch der Technik-Optimismus unter Spiele-Entwicklern fliegt jenseits der Unbekümmertheit: Er ermöglicht eine Willkommenskultur, in der frei und unvoreingenommen Szenarien durchgetestet werden können. Greenlighting nennt man das. Die Deutsche Mentalität ist auf Greenlighting gar nicht programmiert. Die Deutsche Mentalität ist auf Redlighting programmiert. Lieber alles schlecht finden, bevor man sich noch begeistern muss.

In quotenoptimierten Medienformaten erlebe ich, wie Komponisten eine KI-generierte Beethoven-Komposition auf emotionale Tiefe untersuchen. Außer einem “Hmm, das berührt mich jetzt nicht so ganz” kommt da nichts. Zur gleichen Zeit prognostizieren Transhumanisten wie Nick Bostrom und Max More die Verselbstständigung exponentiellen Wachstums hin zur entfesselten Superintelligenz, zur entgültigen Befreiung vom menschlichen Fleischgefängniss, hinein in die Verschmelzung kosmischer Transzendenz, zur absoluten, höchsten, vollkommensten Lebensform unseres Universums. Sehen Sie es auch?

Spiele-Entwickler haben gezeigt, zu welch extraterrestrischen Leistungen KI imstande ist, wenn man nur bereit ist, unkonventionelle Lösungen zu wagen. Und Spiele-Entwickler hören nicht auf, unkonventionelle Lösungen zu wagen: John Carmack, Mitbegründer von id-Software, Mit-Erfinder des First-Person-Shooters, Erfinder der Grafiktreiber für Oculus Rift, Chief Technological Officer von Oculus Rift, Gründer und Lead Engineer von Armadillo Aerospace sowie Schirmherrscher mehrerer Dutzend Patente aus der 3D-Grafik, interessiert sich mittlerweile für KI. Seit unbestimmter Zeit, aber mindestens seit 2020, arbeitet Carmack bei seinem 1-Mann-Startup Keen Technologies an der Verwirklichung der Starken KI, also der AGI (Artificial General Intelligence — wir werden darauf zu sprechen kommen). Carmack sagte in Interviews, er habe keine praktischen Anwendungsfälle im Sinn, er tüftele lieber wie ein verrückter Wissenschaftler an seinem Frankenstein, und was danach kommt, werde er dann sehen. Für sein Vorhaben acquirierte Carmack Fundings in Höhe von ca. 20 Millionen Dollar. Die Förderrunde endete im Jahr 2022.

Im März 2024 launchte das Tech-Unternehmen Cognition Labs mit Devin AI den ersten künstlichen Software-Engineer. Devin ist ein Large Language Model, das Software entwickelt. Es erstellt Software-Projekte, erzeugt Programmcode, testet die Software, platziert sie auf den Servern der Kunden, und das vollautomatisch. Humanoide Programmierer befürchten, dass Devin ihre Jobs killen wird. Die bisherige Fördersumme für Devin AI und Cognition Labs beträgt ca. 21 Millionen Dollar.

Während meiner Zeit als IT-Berater hörte ich das erste Mal von so genannten 100-Chinesen-Problemen. Ein 100-Chinesen-Problem ist ein Problem, das dadurch gelöst wird, in dem man 100 Chinesen auf das Problem wirft. Die Bezeichnung ist durchaus rassistisch; heutzutage spricht man eher vom Brute-Forcing; von roher Energie, die zur Zerschlagung eines Problems mobilisiert wird. Informatiker schauen oft mit einer gewissen Geringschätzung auf Kollegen, die mit Raketenwerfern auf Flöhe schießen. In fast allen Fällen ist Kompetenz der rohen Energie überlegen — Cleverness, Agilität, Abstraktion, Testing, Debugging und Modularisierung haben sich als die besseren Methoden zur Problemlösung bewährt.

Brute Forcing ist nach wie vor die bevorzugte Methode, um Geschäfte zu machen. Tu’s nicht

Trotzdem glauben viele Menschen unserer hochvernetzten Welt noch immer, dass Hustling allein schon zu unternehmerischen Erfolgen führen wird. 60 Überstunden pro Woche, plus 40 reguläre Stunden wie vertraglich vereinbart — unter Software-Entwicklern der großen IT-Häuser mittlerweile Standard; und ich gestehe mit einer gewissen Trauer in meinem Herzen, dass die GameDev-Branche diesem Trend folgt.

Vielleicht stehen wir nur an der Schwelle einer extrem furchteinflößenden und unglaublich abgefahrenen Revolution im größeren Kontext.

Doch wenn selbst John Carmack, einer der respektiertesten Software-Entwickler der Welt, nicht weiß, was auf uns zukommt, können wir uns entspannt zurücklehnen. Niemand kennt das Ende vom KI-Spiel, und vielleicht stehen wir nur an der Schwelle einer extrem furchteinflößenden und unglaublich abgefahrenen Revolution im größeren Kontext.

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