Coronavirus in Österreich — Vorhersage

Michael Niedermayr
7 min readMar 15, 2020

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Letztes Update:: 29.03.2020

Anmerkung: Ich möchte die Diagramme und die Vorhersage jeden Tag updaten.

In diesem Artikel betrachte ich die aktuellen Covid-19 Fälle in Österreich und berechne daraus, wie sich das Virus in den nächsten Wochen ausbreiten wird. Hoffentlich sehen wir in den kommenden Tagen ein deutliches Abflachen der Kurve, sobald die Maßnahmen der Regierung greifen.

Mein Ziel ist, euch zu zeigen, wie ernst die Lage ist, selbst wenn wir im Moment noch keine 1.000 Fälle in Österreich haben (Stand 15.03.2020). Ich möchte euch auch Hoffnung geben und zeigen, dass die dramatischen Einschränkungen unseres Alltags, die wir gerade erleben, einen gravierenden Unterschied machen werden.

Dazu müssen wir uns aber noch einige Tage gedulden, da die Inkubationszeit im Durchschnitt ungefähr 5 Tage dauert [1]. Das bedeutet: Wenn sich heute weniger Menschen anstecken, sehen wir das in den Zahlen erst in 5 Tagen.

Und ich werde euch dieses mystische exponentielle Wachstum erklären, von dem gerade jeder redet und das keiner so richtig versteht.

Vorhersage

Anmerkung zum Update 29.03.2020: Ich habe neben der ersten Vorhersage (rote Kurve, 15.03.2020) auch die heutige Vorhersage (grüne Kurve, 29.03.2020) in den Diagrammen eingezeichnet. Die Regierungsmaßnahmen sind nun seit letztem Montag in Kraft und wir sehen, dass sie Wirkung zeigen. Die grüne Kurve verläuft deutlich flacher als die rote. Social Distancing funktioniert. Wichtig ist, dass wir weiter auf diesem Weg bleiben. Achtung: die grüne Kurve wird teilweise von der gelben Kurve überlagert und ist daher nicht immer gut sichtbar.

Die beiden Diagramme zeigen den zeitlichen Verlauf der offiziellen Covid-19 Fälle laut Sozialministerium [2]. Bisher folgen die Daten einem exponentiellen Wachstum. Wenn wir daraus die Wachstumskonstante berechnen, können wir eine Vorhersage über die Zukunft treffen¹.

Diese Vorhersage (rote Kurve) sieht momentan (15.03.2020) nicht sonderlich rosig aus für Österreich. Am 31. März hätten wir bereits 100.000 Fälle und am 7. April würde sich der 1.000.000ste Österreicher anstecken.

Damit es nicht soweit kommt, müssen wir jetzt handeln. Social Distancing ist der Fachbegriff. Andere sagen dazu, zu Hause bleiben und Netflix schauen. Viele von uns sind darin sowieso schon Profis. Es sollte uns also nicht zu schwer fallen.

Dass Netflix-Schauen Leben rettet, hätte sich wohl vor wenigen Monaten noch niemand gedacht. Sehen wir uns aber die gelbe Kurve in den Diagrammen an. Hier habe ich mit der aktuellen italienischen Wachstumskonstante den zukünftigen, zeitlichen Verlauf berechnet².

Wenn wir also heute (15.03.2020) unsere sozialen Kontakte einstellen und zu Hause bleiben, so wie es die Italiener gerade machen, würden wir am 31. März 17.000 und am 7. April nur 62.000 Fälle erreichen. Das ist noch immer viel, aber deutlich besser als eine Millionen Covid-19 Fälle.

Stand 15. März 2020

Die Mathematik dahinter

Oder die Erklärung für alle, die sich nun denken: “Das glaube ich nicht. Warum sollte die Kurve plötzlich so stark ansteigen? Das kann doch nicht stimmen! Du hast dich verrechnet”.

Zuerst möchte ich euch beruhigen, wenn euch die Kurve komisch vorkommt. Ihr seid nicht alleine. Tatsächlich geht es fast allen Menschen so. Unsere Gehirne sind einfach nicht für exponentielles Wachstum ausgelegt. Uns fehlt die Intuition dafür. Ich bin Physiker und sehr gut mit der Mathematik dahinter vertraut. Ich kann eine solche Kurve ruck zuck berechnen oder interpretieren. Trotzdem bin ich immer wieder über die schiere Geschwindigkeit des Wachstum überrascht (und in diesem Fall ehrlich erschrocken).

Was ist also exponentielles Wachstum?

Sehen wir uns dazu zur Abwechslung etwas ohne Viren und Krankheiten an. Wie wäre es mit der Erfindung des Schachspiels.

Laut Legende wurde das Schachspiel einst vom Inder Sissa ibn Dahir entwickelt [3]. Er wollte damit seinem tyrannischen König auf subtile Weise zeigen, dass der König alleine nichts ausrichten kann. Erst als Team zusammen mit seinen Bauern kann er gewinnen. Der König war vom Schachspiel begeistert und erkannte seine Fehler. Als Dank gewährte er Dahir einen Wunsch. Dieser überlegte nicht lange und wünschte sich Weizenkörner, aber unter einer Bedingung. Der König sollte ein Korn auf das erste Feld des Schachbretts legen, doppelte so viele auf das zweite Felder, also 2, auf das dritte 4, auf das vierte 8 und so weiter. Der König lachte Dahir aus. Er hätte Gold und Edelsteine haben können, aber er wollte nur eine Handvoll Weizenkörner. Das war doch keine anständige Belohnung.

Wikipedia — by McGeddon

Dem König verging das Lachen schnell, als Dahir ihm vorrechnete, wie viele Weizenkörner auf dem Schachbrett mit seinen 64 Feldern liegen würden.

18.446.744.073.709.600.000 Weizenkörner

Das klingt nach viel, und es ist sogar noch mehr. Viel, viel mehr. Wenn wir dem König aushelfen möchten und ab heute den gesamten Weizen der Erde einsammeln würden, hätten wir diese Menge erst in 1.000 Jahren erreicht [4]. Es wären dann 20 Milliarden LKWs notwendig, um den gesamten Weizen zu Dahir zu bringen. Die Kolonne der LKWs würde 6000-mal unsere Erde umspannen.

Das ist exponentielles Wachstum. Ein Weizenkorn auf dem ersten Feld, zwei auf dem zweiten Feld, 4 auf dem dritten Feld und nach nur 64 Feldern sind es 18 Trillionen.

Wir sehen exponentielles Wachstum immer, wenn der neue Wert vom aktuellen Wert abhängt. So ist die Anzahl der Weizenkörner auf den nächsten Feld doppelt so groß, wie die Anzahl der Körner auf dem aktuellen Feld. Genauso verhält es sich bei einer Viruserkrankung. Die Anzahl der Neuinfizierten hängt von der Anzahl der aktuell Infizierten ab.

Betrachten wir dazu ein einfaches Beispiel. Nehmen wir an, heute am Sonntag gab es in Wien 100 Menschen, die bereits das Coronavirus in sich trugen, sich aber noch gesund fühlten und deshalb nicht zu Hause blieben. Sie fuhren heute mit der U-Bahn, gingen mit ihren Hunden Gassi oder saßen im Park und genossen die erste Frühlingssonne.

Könnt ihr euch noch an die Wachstumskonstante erinnern, die ich oben erwähnt habe. Nun brauchen wir sie wieder. Sagen wir, sie liegt bei ungefähr 40% für die Neuerkrankungen pro Tag.

Das heißt, dass diese 100 Menschen heute weitere 40 Menschen angesteckt haben. Morgen haben wir daher 140 Infizierte. Noch machen sich bei niemandem Symptome bemerkbar. Also gehen die 140 Menschen morgen einkaufen oder in die Arbeit. Jeder dieser 140 kommt wieder mit gesunden Menschen in Kontakt. Die Chance liegt noch immer 40%. Das heißt 140 * 40% = 56 Neuerkrankungen.

Am Dienstag sind bereits 196 Menschen infiziert und stecken 78 Gesunde an (196*40%). So geht es weiter. Bis zum nächsten Sonntag haben die 100 Menschen unwissentlich über 600 Menschen angesteckt, in zwei Wochen fast 8.000, in drei Wochen 80.000 und in vier Wochen 800.000³.

Das ist exponentielles Wachstum.

Was passiert als nächstes

Das Ziel ist es, die Wachstumskonstante so schnell wie möglich zu senken. Sie liegt in Österreich im Moment bei 36% (15.03.2020) und sollte in den nächsten Tagen dank der neuen Regierungsmaßnahmen stark sinken. In Italien ist sie dank des Lock Downs bereits auf 20% gesunken. Wenn uns das gelingt, breitet sich die Krankheit deutlich langsamer aus (gelbe Kurve in den Diagrammen ganz oben). So erkaufen wir unseren Ärzten und Krankenhäusern Zeit und geben ihnen eine realistische Chance, alle Erkrankten richtig zu behandeln und Leben zu retten.

Deutsche Bundesregierung

Was können wir nun tun?

Wir müssen eigentlich gar nichts machen. Wir müssen noch nicht einmal das Haus verlassen. Wir können einfach im Wohnzimmer auf der Couch sitzen bleiben, Netflix schauen und abwarten.

Falls ihr aber doch raus müsst, zieht euch Handschuhe an, greift euch nicht ins Gesicht und haltet mindestens 2 Meter Abstand zu allen anderen Menschen. Das gilt auch für eure Freunde oder Nachbarn, die ihr zufällig draußen trefft und mit denen ihr nur kurz über aktuelle Lage quatschen möchtet. Hier gilt, nicht stehen bleiben, einfach weiter gehen. Ihr könnt euch später über’s Telefon austauschen, wenn ihr wieder zu Hause seid.

Und eines noch, wenn ihr nach Hause kommt, wascht euch gründlich die Hände mit Seife, selbst wenn ihr Handschuhe verwendet habt.

Tatsächlich ist eine ganz normale Seife eine mächtige Waffe im Kampf gegen das Coronavirus. Die Hülle des Virus besteht nämlich aus einer Lipidschicht (Fettmoleküle). Seife wiederum ist fettlöslich. Das bedeutet, sie löst im wahrsten Sinne des Wortes die Hülle des Virus auf und macht es so unschädlich [6].

Ein letzter Satz zum Schluss

Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.

Footnotes

¹ Diese Hochrechnung basiert auf einem simplen exponentiellen Wachstum und den offiziellen Fällen laut [2]. Die Realität ist aber, wie alles im Leben, deutlich komplizierter. Die Anzahl der tatsächlich Erkrankten ist vermutlich viel höher, die Verteilung der Fälle ist in Österreich nicht homogen usw. Trotzdem gib uns dieses einfache Modell bereits gute Einblicke in den weiteren zeitlichen Verlauf. Zur Bestimmung der Wachstumskonstante betrachte ich übrigens nur die jeweils 10 letzten Tage.

² Für die Berechnung der italienischen Wachstumskonstante habe ich den zeitlichen Verlauf der aktiven Covid-19 Fälle in Italien für die letzten 10 Tage betrachtet [5]. Dieser folgt noch immer einem exponentiellen Wachstum, wenn auch langsamer.

³ Ganz so einfach ist die Rechnung natürlich nicht. Irgendwann machen sich zum Beispiel die Symptome bemerkbar und die Menschen bleiben zu Hause oder kommen in ein Krankenhaus. Dadurch können sie keine weiteren gesunden Menschen anstecken. Dies ändert aber nichts am exponentiellen Wachstum, sondern senkt nur die Wachstumskonstante.

Zusatzmaterial

Link zum Google Sheets-Dokument mit allen Berechnungen https://docs.google.com/spreadsheets/d/1dKxyM8AvSQ46BdtCcLV3cuGVG4ZS3zMY2CfmB6wkmjo

Quellen

[1] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/32150748

[2] https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Neuartiges-Coronavirus-(2019-nCov).html

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Sissa_ibn_Dahir

[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153032/umfrage/erzeugungsmenge-von-weizen-weltweit-seit-1990/

[5] https://de.m.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Epidemie_in_Italien

[6] https://www.nationalgeographic.com/science/2020/03/why-soap-preferable-bleach-fight-against-coronavirus/

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Michael Niedermayr

PhD in Quantum Physics. IT expert. Entrepreneur. Passion for science, engineering and software developement.