Was sind Bürger*räte und was können sie leisten?

Mira Pütz
6 min readJun 23, 2020

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Mehr Demokratie e.V. 2019/ CC BY-SA 2.0

Der französische Klimabürger*rat hat am vergangenen Sonntag seine Ergebnisse vorgestellt. Drei Tage vorher hat der Deutsche Bundestag überraschend angekündigt, noch in dieser Legislaturperiode einen Bürger*rat in Deutschland einberufen zu wollen. Bürger*räte machen Politik — was steckt hinter dieser Idee und was können Bürger*räte tatsächlich leisten?

Am 18. Juni hat der Deutsche Bundestag die Einberufung eines Bürger*rats zur Rolle Deutschlands in der Welt beschlossen. Die Handlungsempfehlungen in Form eines Bürger*innengutachtens sollen Anfang 2021 vorliegen und noch in dieser Legislaturperiode berücksichtigt werden. Was die Beteiligung von Bürger*innen in der politischen Entscheidungsfindung angeht, ist Deutschland damit auf einem guten Weg, dem Beispiel anderer repräsentativer Demokratien zu folgen.

Die kanadische Provinz British Columbia hat bereits im Jahr 2004 einen Bürger*rat mit der Erarbeitung einer Wahlrechtsreform beauftragt. In Irland tagt seit Januar diesen Jahres schon der dritte Bürger*rat des Landes, diesmal zum Thema Gleichberechtigung, und der derzeitige Entwurf der Koalitionsvereinbarung (die noch von der Parteibasis der drei Koalitionspartner abgesegnet werden muss) sieht die Einberufung vier weiterer Bürger*räte in Irland vor. Das sechste und letzte Treffen des Bürger*rats zur Klimakrise in Großbritannien fand im Mai 2020 statt und der Abschlussbericht wird noch vor der Sommerpause des britischen Parlaments im Juli erwartet. Und in Frankreich hat die „Convention Citoyenne pour le Climat“, ebenfalls ein Bürger*rat zum Thema Klimawandel, am 21. Juni ihre Handlungsempfehlungen an die zuständige Ministerin übergeben.

Was sind Bürger*räte?

Dies ist nur eine kleine Auswahl an Bürger*räten. Sie alle haben gemeinsam, dass die Teilnehmenden zufällig aus der Bevölkerung ausgewählt werden und deren Vielfalt repräsentieren. Sie treffen sich über mehrere Wochenenden hinweg, hören Vorträge von unabhängigen Expert*innen und entwickeln gemeinsam Handlungsempfehlungen für die Politik. Die Teilnahme von 100 bis 150 Bürger*innen ist bei einem nationalen Bürger*rat üblich.

Guilherme Stecanella/ Unsplash Lizenz

Diese Kriterien sollen sicherstellen, dass die Teilnehmenden die Zeit und die Informationen haben, eigene Antworten zu entwickeln. Zum Beispiel Antworten auf die Frage, wie die Gesellschaft auf die Klimakrise reagieren soll. Hier geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um das bewusste Abwägen von Interessen und Gefahren mit Blick auf das Gemeinwohl, heute und in der Zukunft. Ziel ist es, einem Querschnitt der Bevölkerung die bestmöglichen Voraussetzungen für eine richtungsweisende Entscheidung zu bieten. Besonders wichtig ist, dass die eingeladenen Expert*innen keine Entscheidungen vorgeben sondern die Vor- und Nachteile verschiedener Handlungsmöglichkeiten beleuchten und den Teilnehmenden so eine unabhängige, faktenbasierte Entscheidung ermöglichen. So eröffnen Bürger*räte neue Räume zur demokratischen Entscheidungsfindung — inspiriert von Jürgen Habermas‘ Diskurstheorie.

Die Ergebnisse des französischen Bürger*rats zur Klimapolitik — ein Vorbild für Deutschland

Was konkret aus einem Bürger*rat hervorgehen kann, zeigen die Empfehlungen des französischen Bürger*rats. Er hat sich über sieben Wochenenden mit der Frage beschäftigt, wie Frankreich bis 2030 seine Treibhausgasemissionen um mindestens 40 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 verringern kann — unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Gerechtigkeit. Die Empfehlungen des Bürger*rats sind in fünf Themengebiete gegliedert: Wohnen, Mobilität, Konsum, Essen und Arbeit bzw. Produktion. Insgesamt haben die Teilnehmenden sich auf 149 Empfehlungen geeinigt. Im Folgenden werde ich einzelne Vorschläge aufgreifen um einen ersten Eindruck der Ergebnisse zu vermitteln:

Wohnen. Um das Emissionsreduktionsziel für 2030 zu erreichen, müssen die Treibhausgasemissionen, die durch den Neubau von Gebäuden und deren Nutzung verursacht werden, halbiert werden. Mit Blick auf diese Faktenlage hat der Bürger*rat drei wichtige Ansatzpunkte identifiziert: Gebäudesanierung, Einsatz erneuerbarer Energien und Einsparung von Energie bei der Gebäudenutzung. Außerdem muss die Fläche von Städten verringert und der Versiegelung von fruchtbaren Böden durch Bauprojekte entgegengewirkt werden — zum Beispiel indem ein Umdenken von Ein- zu Mehrfamilienhäusern stattfindet. Die Teilnehmenden mahnen an, dass der Neubau und die Renovierung von Gebäuden in Richtung einer ausgeglichenen oder sogar positiven Energiebilanz zur Regel werden muss.

Mobilität. Basierend auf der Feststellung, dass der Personenverkehr und der Transport von Waren derzeit für mehr als 30 Prozent der Treibhausgasemissionen in Frankreich verantwortlich sind, empfehlen die Bürger*innen die Förderung von Alternativen zum motorisierten Individualverkehr und den Ausbau des Schienennetzes für den Personen- und Warenverkehr. So soll der Fahrrad-Fonds von 50 auf 200 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt werden, um den Bau von Fahrradwegen zu beschleunigen. Zugfahren soll attraktiver werden, indem massiv in die nötige Infrastruktur investiert und die Mehrwertsteuer auf Fahrkarten auf 5,5 % gesenkt wird. Gleichzeitig soll ab 2025 der Verkauf von PKWs mit hohen Emissionen nicht mehr erlaubt sein und das Gewicht von Fahrzeugen und deren CO2-Emissionen sollen zukünftig bei der Besteuerung viel stärker ins Gewicht fallen. Der Bürger*rat hat sich außerdem dafür ausgesprochen, die Maximalgeschwindigkeit auf Autobahnen auf 110 km/h zu begrenzen, da sich dadurch die Treibhausgasemissionen im Verkehr um 20 % senken lassen. Inlandsflüge sollen bis 2025 kontinuierlich weniger werden und danach nicht mehr möglich sein — vorausgesetzt es besteht eine umweltfreundlichere und erschwingliche Alternative, die nicht länger als vier Stunden braucht. Insgesamt geht es erkennbar nicht darum, Halter*innen von alten Fahrzeugen zu bestrafen sondern zukünftige Entscheidungen verstärkt nach Umweltkriterien auszurichten und öffentliche Verkehrsmittel und beispielsweise Carsharing zu fördern.

Konsum. Die Mitglieder des Bürger*rats halten fest, dass weniger konsumiert werden muss. Außerdem sollen alle Bürger*innen die Möglichkeit haben, Produkte, die das Klima möglichst wenig belasten, zu erschwinglichen Preisen zu kaufen. Zu diesem Zweck sollen Angaben zu den Treibhausgasemissionen von Produkten und Dienstleistungen verpflichtend werden, inklusive eines unkomplizierten CO2-Label-Systems. Außerdem schlägt der Bürger*rat ein Werbeverbot für besonders klimaschädliche Produkte vor sowie eine stärkere Regulierung von Werbung insgesamt, um die Flut der Kaufanreize, denen Menschen täglich ausgesetzt sind, massiv zu begrenzen. Weitere Empfehlungen zielen auf die Verringerung von Verpackungsmüll, die Sensibilisierung von Konsument*innen für Klimafragen und effektive staatliche Kontrolle der Einhaltung von Umweltvorgaben.

Essen. Die Teilnehmenden wünschen sich ein System, das gesunde, nachhaltige und mehr pflanzenbasierte Lebensmittel für alle zugänglich macht. Deren Produktion soll respektvoll mit Arbeitskräften und Umwelt umgehen und möglichst wenig klimaschädliche Gase verursachen. Um dieses Ziel zu erreichen sollen biologische und agroökologische Produktionsweisen stärker gefördert und der Verbrauch von Pestiziden weiter verringert werden.

Arbeit/Produktion. Die Transformation der Wirtschaft nach ökologischen Gesichtspunkten kann nach Einschätzung des Bürger*rats eine Chance für die Wirtschaft und die Erwerbstätigen darstellen, wenn angemessene Vorkehrungen getroffen werden um nachteilige Effekte zu vermeiden. In diesem Sinne zielen die Empfehlungen darauf ab, bessere und verantwortungsvollere Produktions- und Arbeitsbedingungen zu fördern, die langlebige und lokal produzierte Güter hervorbringen. Außerdem fordern die Teilnehmenden die schrittweise Abkehr von fossilen Energieträgern. Nach dem Willen des Bürger*rats sollen Hersteller beispielsweise dazu verpflichtet werden, Industriegüter so zu konzipieren, dass sie repariert werden können. Bis 2025 soll die Förderung von Innovationen so umgestellt werden, dass diese ein klimafreundliches Wirtschaftsmodell vorantreiben. Die Teilnehmenden des Bürger*rats fordern außerdem, dass alle Organisationen, die eine jährliche Bilanz vorlegen müssen, dabei auch über ihren CO2-Fußabdruck Rechenschaft ablegen sollen.

Zu dieser Bandbreite an Empfehlungen kommen einige grundlegende Vorschläge. Die vielleicht Symbolträchtigsten zielen auf die Verankerung des Umwelt- und Klimaschutzes in der Verfassung ab. Einer davon lautet:

„Die Republik garantiert die Bewahrung der Artenvielfalt, den Erhalt der Umwelt und den Kampf gegen den Klimawandel.“

Wenn es nach dem Willen des französischen Bürger*rats geht, dann steht dieser Satz bald im 1. Artikel der französischen Verfassung.

Katrin Baumann 2020/ Convention Citoyenne pour le Climat

Diese Zusammenfassung der Empfehlungen gibt einen ersten Eindruck, was Bürger*räte leisten können. Die 150 Teilnehmenden, die die Vielfalt der französischen Gesellschaft widerspiegeln, haben eine große Anzahl an Empfehlungen vorgelegt. Sie haben sowohl gesellschaftliche Ziele formuliert als auch ganz konkrete Schritte aufgezeigt, wie grundlegende Bedürfnisse klimafreundlicher bedient werden können. Stellvertretend für die ganze Bevölkerung haben sie sich in das komplexe und kontroverse Thema eingearbeitet und lassen so erahnen, was für eine Klimapolitik die Masse der Bevölkerung befürworten würde. Ein Bürger*rat unterstützt und fordert die Regierung. Er lässt Bürger*innen zu Wort kommen und nimmt ihre Erfahrungen ernst. Die Hoffnung ist, dass durch diesen Mitbestimmungsprozess nicht nur die Klimapolitik sondern auch die Demokratie gestärkt wird.

Wie geht es jetzt weiter?

Entscheidend für den Einfluss des französischen Bürger*rats wird sein, inwieweit seine Empfehlungen von den politischen Entscheidungsträger*innen umgesetzt werden. Die Besonderheit in Frankreich ist, dass die ausgewählten Bürger*innen ein Drittel der Empfehlung mit Hilfe von Jurist*innen so formuliert haben, dass sie auf einem von drei Wegen direkt in den politischen Prozess eingebracht werden können. Dabei konnten die Teilnehmenden selbst entscheiden, ob die jeweilige Empfehlung (1) im Parlament eingebracht, (2) per Verordnung umgesetzt oder (3) zum Thema einer Volksabstimmung gemacht werden soll. Präsident Emmanuel Macron hat versichert, er werde diese Entscheidungen „ohne Filter“ umsetzen. Am 29. Juni will er eine „erste Antwort“ auf die Arbeit des Bürger*rats geben.

Deutschland steht mit der Ankündigung des Bundestages erst am Anfang. Die Ergebnisse des geplanten Bürger*rats zur Rolle Deutschlands in der Welt werden sehr stark davon abhängen, ob diese Fragestellung von Seiten der Politik mit konkreten Inhalten gefüllt wird. Nur dann können die ausgewählten Bürger*innen sinnvoll Stellung beziehen und die politischen Entscheidungsträger*innen an der Umsetzung der Empfehlungen gemessen werden.

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Mira Pütz

Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Umweltpolitik. Forschung & Aktion: Bürgerräte zur Klimapolitik in Europa. Mitgründerin www.klima-mitbestimmung.jetzt