Zu Spät

Alexandra L. Nagel
5 min readNov 19, 2016

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Was macht man, wenn längst verflossene Ex-Lover, nicht entscheidungsfreudige potentielle Partner oder selbstmitleidige Narzissen, sich plötzlich wieder melden?

Salbungsvoll gemeinsame Erinnerungen heraufbeschwören, in vergangenen schönen Tagen schwelgen oder mögliche Zukunftszenerien in schönsten Bilder ausmalen?
Auflegen? Nachrichten löschen? Tür vor der Nase ins Schloß fallen lassen? Schwach werden? (Wieder) vertrauen? Sich freuen?
Im ersten Moment huscht mir meist ein Lächeln übers Gesicht mit dem Gedanken “wußte ich doch, dass Du es einst bereuen wirst”, gefolgt vom gleichgültigen “zu SPÄT”!

Wenn solche Nachrichten (egal in welcher Form) einen erreichen, dann ist definitiv Reue im Spiel. Sowie die Angst etwas zu verlieren, was man nun doch haben will. Aber warum will man erst etwas, wenn es entschwunden ist oder droht zu entschwinden? Wenn es nicht mehr verfügbar ist oder jemand anderes Interesse hat? Oder warum bereut man manche (falsche) Entscheidungen erst im Nachhinein? Schon damals im Sandkasten war besonders das Backförmchen beliebt, mit dem eigentlich ein anderes Kind spielte oder im Begriff war danach zu greifen.

Wie sangen schon “Die Ärzte” “(…) zu spät, zu spät, dann ist es einfach zu spät (…)”!
Ausrufezeichen.

Wie oft habe ich schon die Sätze “Was wäre wenn…”, “ich kann nicht aufhören an Dich zu denken”, “ich will Dich…DICH”! gehört. Oder “Du bist eine tolle Frau. War ein Riesenfehler, dass …“ Dieser Nebensatz ließe sich mannigfaltig von “… dass ich Dich habe gehen gelassen” über “…dass ich nicht mutig war” zu “…dass wir uns nicht wiedergesehen haben” fortführen.
Es war ein RIESENFEHLER!
Mag sein. Aber nicht meiner!

Vor ein paar Monaten, Jahren, wäre man wahrscheinlich Freudestrahlend, jauchzend durch die Wohnung gehüpft und hätte ohne mit der Wimper zu zucken, das “letzte Hemd” hergegeben! Nun zuckt man auch…aber unberührt… mit der Schulter. Ja damals hätte man dafür ALLES getan und man hätte sein Glück nicht fassen können. Damals. Als man wildverliebt an “seinem Herzen und an seinen Lippen hing”. Als er trotz Herzklopfens, trotz einzigartigem Gefühl keine Beziehung wollte. Aus Gründen, die keine Gründe waren, sondern vorgeschoben Argumente, Ängste oder “als Briketts” dienten, um unser (Liebes)Feuer am Leben zu halten. Nun nimmt man solche Äußerungen zur Kenntnis….nicht mehr und nicht weniger!

Immer wieder “ploppen” solche Nachrichten auf und ich denke mir “What. The. F***.”

Zumal man immer Gefahr läuft, dass es wieder nur leere Worthülsen sind.
Ich habe schon immer mehr den Taten als den Worten vertraut!

Aber solche reumütigen Sätze kommen meist immer von Zögerlichen, Ängstlichen oder Wortjonglierern, wenn es zu spät ist!

Kennen Sie das?
Ich auch…als man mit 20 die Avancen vom etwas unbeholfenen, nerdigen Kommilitonen ignoriert hat, um Jahre später bei einem zufälligen Treffen dahinzuschmelzen.
Vergeblich. Natürlich!
Oder man als 14jährige, mehr Kind als Frau, für den coolen Jungen mit der blonden Wuschelmähne schwärmte, der sich aber ausschließlich für die gleichaltrigen Lolitas interessierte. Jahrzehnte später war von der wilden Mähne nichts mehr übrig geblieben. Dafür hatte er an Kilos zugelegt, was er an Haaren verloren hatte. Nun war er von einem elektrisiert…
Vergeblich. Natürlich!
Wieder vertont das Lied von den Ärzten das Szenario…
„Und dann tut es dir Leid.
Doch dann ist es zu spät“

Ich komme nicht umhin mich zu fragen: Warum sehen wir nicht, was wir haben, so lange wir es haben und begehren es, wenn es zu spät ist?

Unser aller innerer Hobbypsychologe erahnt vor allem ein Problem: „Wir wertschätzen etwas erst dann, wenn es uns ordentlich was kostet. Dieses Prinzip funktioniert bei Hipster-Shirts leider nicht viel anders als bei Menschen. Nur das, wofür wir zahlen oder kämpfen müssen, begeistert uns so richtig. Etwas hat exakt den Wert, den wir ihm auf Grund privater Parameter beimessen.“

„Zudem ist der Mensch ein Meister der Verdrängung, ja, eine regelrechte Koryphäe auf dem Gebiet der Selbstsabotage. Etwas fühlt sich gut, groß und richtig an? Kann nicht sein. Gleich mal kaputt machen, sich auf bittersüß ziepende Weise ein bisschen schuldig und zugleich bestätigt fühlen.“ Wir finden tausend Gründe dagegen. Und dann kommt noch der menschliche Schutzmechanismus hinzu, dass die Erinnerung alles verklärt, verschönert und idealisiert. Und in miesen Lebenslagen erinnert man sich — besonders der Verlassende — nur an die vergangenen scheinbar schönen Momente. „Insbesondere an das gemütliche Gefühl, rundum geliebt worden zu sein. Er vermisst. Er idealisiert. Er bereut.“
Aber warum jetzt?
Denn in emotionalen Dingen bin ich ein regelrecht offenes Buch, bin ganz klar und jedes Kapitel ist sogar für die Begriffsstutzigen unter uns kommentiert. Es ist nicht so, dass ich mich hinter einer Maske verstecken würde, um sie mir plötzlich vom Gesicht zu reißen und „Ätsch“ zu rufen.

Auch bei der gefühlt hundertsten Nachricht dieser Art, zucke ich immer noch unberührt mit der Schulter. Nicht mal ein hämisches „HA wusste ich es doch“ kommt mir über die Lippen. Kein Gewinnertänzchen. Keine Genugtuung. “ZU SPÄT!“ würde ich gerne laut ausrufen und es „dabei genauso meinen und fühlen wie früher, als die Wunde noch pochte.“

„Und dann tut es dir leid, doch dann ist es zu spät. Zu spät”

Aber der von den Ärzten besungene, im Schmerz einst heiß herbeigesehnte Moment fühlt sich heute leer, kalt, taub an. “Die Genugtuung, deren Vorstellung allein so manche Träne versiegen ließ, glänzt durch Abwesenheit.”

„Zu spät, zu spät, zu spät –
Doch dann ist es zu spät“

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. „Wehe, wer zu spät bereut!“ schrieb William Shakespeare einst. „Wer klug ist, sorgt also dafür, möglichst wenig zu bereuen: Keine verstrichenen Gelegenheiten, keine unerfüllten Träume — und erst Recht keine verpassten Menschen.“ Marc Aurel sagte einst „Man bereut nur das, was man nicht getan hat.“
Wieder ploppt ein Mensch aus der Vergangenheit oder Gegenwart, der lange (zu lange?) gezögert hat, auf. Und der Satz „Du bist wirklich eine erstklassige Frau.“ ertönt und ich antworte nonchalant: „Und Du ein erstklassiger Idiot.“

So klar ich in meiner positiven Gefühlswelt bin, so klar bin ich auch im Gegenteil. Ich gehe für das, was ich empfinde. Wenn etwas vorbei ist, ist es vorbei.
Es ist vorbei. Wirklich. Irreversibel. Vergangenheit! It’s over… OVER! „Es ist ein paradoxes Schicksal, dass romantikinduzierte Reuebekenntnisse oft dann kommen, wenn sie nur noch schulterzuckend, höchstens mit einem halbherzigen” „Och“ kommentiert, zur Kenntnis genommen werden und man sich anschließend seiner Zukunft zuwendet.

Inspiriert und zitiert von Jessica Wagener (schreibt für die “Welt” über die Liebe) und vom Song „Zu Spät“ Die Ärzte

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Alexandra L. Nagel
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