Innovation = Probleme + Lösungen

Steht’n Unternehmen irgendwo inner Landschaft…

Michael Kirmes
10 min readJan 15, 2018

Three Lenses of Human-Centered Design

In praktisch jedem unserer Design-Thinking-Workshops und Seminare taucht an irgendeiner Stelle folgende Slide auf, um den Design-Thinking-Ansatz im allgemeinen Innovationsumfeld zu verorten:

Ein definierendes Merkmal von Design Thinking ist, dass es mit Empathie am Menschen ansetzt, und an der Frage, was Menschen sich überhaupt wünschen. Die beiden anderen Aspekte — Was ist technisch machbar? Was ist finanzierbar bzw. rentabel? — werden zunächst zurückgestellt und erst betrachtet, wenn das für Menschen zu lösende Problem bestimmt ist. Erfüllt eine Lösung alle drei Anforderungen, ist sie also wünschbar, machbar und finanzierbar, dann handelt es sich um eine echte Design-Innovation mit hohen Chancen auf Erfolg.

Diese Darstellung ist auch bekannt als IDEOs “Three Lenses of Human-Centered Design und weit verbreitet. Weil sie so leicht verständlich ist, binde ich Variationen inzwischen auch in Workshops ein, in denen es gar nicht um Design Thinking oder Human-Centered Design geht.

Der Spezialfall “Nerd-Centered-Design” (Lösungen sind besonders gewünscht, wenn sie cutting-edge-Technologie verwenden)

Als Ökonom fand ich das Modell allerdings schnell problematisch. Denn Profitabilität ergibt sich genau aus dem Unterschied zwischen Zahlungsbereitschaft der Konsumenten und den Kosten. “Zahlungsbereitschaft” ist gewissermaßen Ökonomen-Jargon für “Wünschbarkeit”, und Kosten sind im Wesentlichen determiniert von der existierenden bzw. eingesetzten Technologie (umgekehrt könnte man sagen, dass Machbarkeit in der Regel eine Frage von Bezahlbarkeit ist: Ökonomen sprechen nicht von “unmöglich” sondern nur von “prohibitiv teuer” oder von “unendlichen Kosten”).

Das bedeutet nicht, dass die Frage nach Profitabilität sich nicht stellt: Für eine erfolgreiche Innovation muss Profitabilität natürlich gewährleistet sein. Aber wenn eine Innovation mehr kostet, als Menschen bereit sind, dafür zu bezahlen, können wir nicht an der “Ökonomik” schrauben, sondern müssen entweder Kosten senken (also die Technologie wechseln oder ihre Effizienz steigern) oder die Zahlungsbereitschaft erhöhen (clevere Vermarktung, zusätzliche Features, zahlungskräftigere Zielgruppe). Unser Produkt muss also entweder machbarer oder wünschbarer werden.

Der Problem-Lösung-Raum

Diese ökonomische Betrachtung ist hilfreich, weil sie den Raum, in dem wir nach innovativen Geschäftsideen suchen müssen, um eine Dimension reduziert:

Gegeben ein menschliches Bedürfnis, das wir erfüllen wollen (mit einer zugehörigen Zahlungsbereitschaft) suchen wir nach einer Technologie, die dieses Bedürfnis möglichst gut erfüllen kann (und weniger kostet als ebenjene Zahlungsbereitschaft). Zu einem bestehenden Problem suchen wir eine Lösung, zur Nachfrage ein Angebot. Die entstehende Innovation ist market-pulled.

Haben wir umgekehrt eine neue Technologie, die wir vermarkten wollen (mit bestimmten Kosten), suchen wir ein Bedürfnis, das mit dieser Technologie besonders gut erlöst werden kann (und für das eine Zahlungsbereitschaft besteht, die höher ist als die Kosten). Zur Lösung suchen wir ein Problem, zum Angebot eine Nachfrage. Die entstehende Innovation ist technology-pushed.

Wenn Profitabilität gewissermaßen als Grundziel vorausgesetzt ist (wie es in der Ökonomik üblicherweise geschieht), wird das Finden einer Innovation also zu einer Matching-Aufgabe zwischen Angebot und Nachfrage bzw. zwischen Lösung und Problem.

Jerry Neumann, Venture Capitalist und Entrepreneurship-Professor an der Columbia University, wendet in einem etwas anderen Gesamtzusammenhang das evolutionsbiologische Modell einer Fitness-Landscape auf diese Suche nach Innovationen an:

Imagine a two-dimensional space of possible companies where the x-axis is technology and the y-axis is the problem being solved. Each (x,y) point has a value we can call ‘fitness’: how valuable a company using that technology for that problem is. If the fitness is noted on the z-axis, this is called a ‘fitness landscape.’ An entrepreneur searches the fitness landscape for a good idea, iterating along the x and y dimensions, looking for a peak in the z-axis: “is there a problem this technology can solve better?” or “is there a technology that can be used to solve this problem better?”

Ich finde dieses Modell sehr interessant, um über Innovationen nachzudenken, aber ich denke ja auch gerne entlang von Koordinaten-Achsen. Ich versuche mich deshalb zunächst an einer etwas eingängigeren Erklärung der Idee.

Ein effektiver (aber absurder) Weg der Innovationsfindung

Stellen wir uns zunächst vor, wir wollten systematisch alle denkbaren Problem-Lösungs-Paare sammeln. Um den Wahnsinn etwas zu begrenzen, beschränken wir uns auf die Lebensmittelbranche, aber das Feld möglicher Innovationen ist natürlich eigentlich nicht durch Branchengrenzen limitiert.

Wir schreiben zunächst alle Bedürfnisse, die Menschen an die Lebensmittelbranche richten, in die Zeilen einer großen Excel-Tabelle:

Eine leere Exceltabelle hat 1.048.576 Zeilen. Los gehts!

Am besten ordnen wir diese Tabelle noch, sodass Bedürfnisse in einem engen Sinnzusammenhang untereinander stehen (also z.B. “lange halten” und “nicht verdorben sein”).

Geschafft? Dann wird es jetzt etwas schwieriger. Alle Ideen, wie man irgendeins dieser Bedürfnisse möglicherweise erfüllen könnte, kommen jetzt in die Spalten. (Hier darf man ruhig etwas outside-the-box-kreativ sein, und sich auch von anderen Branchen Lösungen abgucken.)

Die Spalten gehen bis XFD. Immer diese römischen Zahlen.

Auch das sollten wir natürlich noch nach Sinnzusammenhang sortieren.

Und dann kommt der etwas aufwändige Teil: Nachdem wir alle Probleme und alle Lösungen gesammelt haben, müssen für jedes Problem alle Lösungen danach bewertet werden, wie gut sie es zu lösen vermögen. Wir tragen also Werte für den Problem-Solution-Fit ein. [Deshalb nennt sich das Konstrukt eine Fitness-Landscape. Etwas ökonomischer könnten wir hier überlegen, wie hoch wohl die Zahlungsbereitschaft von jemandem wäre, der das entsprechende Bedürfnis hat, wenn wir ihm die verschiedenen Lösungen präsentieren. Oder gleich aus Zahlungsbereitschaft und Kosten den Profit berechnen. Neumann nutzt, als Venture Capitalist, sogar gleich den Wert eines Unternehmens, das mit der jeweiligen Lösung das jeweilige Problem zu lösen versucht. Marktforschung und Gespräche mit Experten vom jeweiligen Fach wären sicher in jedem Fall hilfreich.]

Ich vermute, durch künstliche Zusatzstoffe und Genmanipulation kann man den Nährwert von Lebensmitteln erhöhen. Mit Verpackung aus Pappe kann man auch ein bisschen Hunger stillen, und Plastikverpackung ist da immer noch etwas besser als gar keine Verpackung. Beim Rest sehe ich keinen direkten Zusammenhang zum Hunger. Aber ich habe auch keine Marktforscher oder Experten befragt.

Wenn unsere Tabelle fertig ist, können wir zur besseren visuellen Verdeutlichung auf jede Tabellenzelle einen kleinen Turm bauen (z.B. aus Centstücken), der in der Höhe dem Wert der Zelle entspricht, und wir erhalten eben eine Problemlösungs-Landschaft mit Bergen und Tälern (das setzt voraus, dass die Ordnung nach Sinnzusammenhang auch ähnliche Werte für den Problem-Solution-Fit impliziert):

Danke, Wikimedia!

Für ein bestimmtes Problem können wir jetzt also einfach die entsprechende Problemzeile raussuchen, und diese dann von links nach rechts durchgehen und den höchsten Wert/Turm finden: dort ist der Problem-Solution-Fit am besten, diese Innovation also am vielversprechendsten. Für eine bestimmte Technologie nehmen wir die Lösungsspalte und suchen dort die Zeile mit dem höchsten Wert/Turm für den interessantesten Marktbereich.

Crosslauf in der Problemlösungs-Landschaft

Die Absurdität der vorangegangenen Übung zeigt, dass natürlich niemand tatsächlich so Innovation betreibt. Für ein gegebenes Problem betrachten wir niemals alle möglichen Lösungen, sondern nutzen intuitive Filter, und betrachten nur solche Lösungen, die naheliegend das Problem auch zu lösen vermögen. Gleiches gilt für gegebene Lösungen, die ein Problem suchen. Wir betrachten die Problemlösungs-Landschaft nicht auf einer topografischen Landkarte, nicht mal aus der Vogelperspektive, sondern von unserer eigenen Position in der Landschaft. Ein bestehendes Unternehmen hat bereits eine bestimmte Lösung (oder mehrere) für ein bestimmtes Problem (oder mehrere). Um von dieser Position aus zu neuen, profitableren Höhen zu kommen, ist es naheliegend, zu gucken, in welcher Richtung es nach oben geht. Gibt es in der Nähe eine bessere Lösung für das Problem, das wir bereits bedienen? Oder ein anderes Bedürfnis, für das unsere Lösung noch besser geeignet ist? Durch die Sortierung nach Sinnzusammenhängen bedeutet “in der Nähe”, dass wir uns dabei auch inhaltlich nicht weit von unserem Ursprungsort entfernen.

Das ist auch eigentlich nicht verkehrt. Erschwerend kommt nämlich dazu, dass die Landschaft nicht beständig ist. Jede Veränderung von Angebot (Technologie, Kosten) und Nachfrage (Wünschbarkeit, Zahlungsbereitschaft) beeinflusst die Topografie des Geländes. Außerdem vergrößert sich die Landschaft um neue Technologien und möglicherweise auch neue Bedürfnisse. Im direkten Umfeld kann man das beobachten, und entsprechend reagieren. Änderungen an Bedürfnissen oder Lösungen, die weiter weg von der eigenen Position liegen, sind hingegen aus der Ferne nur sichtbar, wenn sie das Landschaftsbild enorm verändern (wenn also z.B. eine neue Blockchain-Bergkette auftaucht).

Der oben verlinkte Artikel von Jeremy Neumann befasst sich mit disruptiven Innovationen in dieser Problemslösungs-Landschaft — allerdings nach der ursprünglichen, technischen und recht engen Definition von Disruption, wie sie Clayton Christensen in The Innovator’s Dilemma formuliert hat. Ich kann das Anliegen nachfühlen, mit technischen Begriffen sauber umzugehen, aber Disruption ist — leider — inzwischen zum Buzzword geworden, welches simpel das Phänomen beschreibt, dass viele Branchen von Newcomern (Startups oder Außenseiter wie der ehemalige Buchhändler Amazon) völlig umgekrempelt werden. Disruptoren dieser Art nutzen meist den Vorteil, dass sie in diesem Modell nicht bereits irgendwo in dieser Landschaft stehen. Sie stehen am Rand, vielleicht bei einem bestimmten Bedürfnis, vielleicht bei einer bestimmten Technologie, und können von dort viel besser überblicken, wo der höchste Punkt in ihrer Sichtlinie liegt, den es sich zu erklimmen lohnt.

Design Thinking findet Probleme

Design Thinking hat den Ruf (und auch den Anspruch), outside-the-box-Ideen und -Innovationen zu Tage zu fördern. Zudem verläuft der Design-Thinking-Prozess in einem Doppel-Diamanten, nach dem man sich zuerst auf die Suche nach dem richtigen Problem macht, und dann auf die Suche nach der richtigen Lösung (jeweils indem erst ganz viele Möglichkeiten betrachtet und diese dann wieder auf vielversprechende Kandidaten reduziert werden).

Ebenfalls aus unseren Design-Thinking-Workshops: Der Prozess, mit dem Problem-Lösung-Doppel-Diamanten im Hintergrund

Gelingt es durch Design Thinking damit, genau die Vogelperspektive auf die Problemlösungs-Landschaft einzunehmen, die Unternehmen üblicherweise von ihrer eigenen Warte aus nicht einnehmen können?

Die erste Hälfte des Prozesses, die Problemfindung, beschäftigt sich mit Hilfe von Methoden wie Interviews, Shadowing, Mystery Shopping, Immersion, Customer Journey, Storyboards, Empathy Maps und Personas mit den Bedürfnissen des Benutzers. Im Bild der Problemlösungs-Landschaft betrachtet Design Thinking sehr detailliert die Spalte der potenziellen Bedürfnisse, mit dem Ziel dafür zu sorgen, dass eine zu entwickelnde Innovation sich auf jeden Fall um das richtige Bedürfnis kümmert. Das heißt zunächst, kein nicht vorhandenes Bedürfnis zu bedienen, bzw. — ökonomisch betrachtet— kein Bedürfnis mit einer nur sehr geringen Gesamt-Zahlungsbereitschaft. Darüber hinaus identifiziert Design Thinking Zeilen, in denen bisher keine wirklich zufriedenstellenden Lösungen am Markt vorhanden sind, wo sich also trotz hoher Gipfel noch kein Unternehmen befindet.

Bei den Bedürfnissen müssen wir uns daher keine Sorgen darüber machen, dass das Design Thinking-Team möglicherweise nicht alle Bedürfnisse bedacht hat, weil es zu sehr in eingefahrenen Denkmustern bleibt. Wir denken uns eben nicht (wie in der Excel-Tabelle) alle möglichen Bedürfnisse aus, sondern wir konsultieren stattdessen einfach ganz viele Menschen, die diese Bedürfnisse tatsächlich haben.

Nachdem ein Bedürfnis und damit eine Zeile ausgewählt und daraus eine Design Challenge formuliert ist, werden Ideen generiert. Dabei können beliebige Brainstorming-Methoden angewendet werden. Nachdem viele Ideen gesammelt sind und eine davon (vorerst) ausgewählt und in Form eines einfachen Prototyps greifbar gemacht worden ist, wird wieder der Kunde gefragt, diesmal als Tester einer möglichen Lösung. Auf diese Weise kann ein konkreter Fitness-Wert für das Problem-Lösungs-Paar gefunden werden. Wäre der Kunde bereit, für dieses Produkt (ausreichend) Geld auszugeben? Und wenn nein, warum nicht? Wir stellen fest, welche anderen Bedürfnisse ebenfalls eine Rolle spielen, und dass unsere Lösung für das gegebene Problem möglicherweise noch nicht die optimale ist. Eventuell gibt es eine bessere Lösung im direkten Umfeld unserer Lösung, oder wir müssen nochmal zurück zur Design Challenge, um die Bedürfnisse besser abzubilden.

… und Lösungen?

Den Kunden in den Mittelpunkt des Prozesses zu stellen bietet einen eleganten Wegweiser für etwa 70% des Innovationsprozesses. Der Kunde bestimmt im Wesentlichen die Sammlung der Bedürfniszeilen, indem er nicht vermutete Bedürfnisse zu erkennen gibt, und andere, vermutete, als offensichtlich irrelevant abtut. Er wählt aus verschiedenen ihm präsentierten Lösungsspalten die beste aus, oder gibt uns zumindest zu verstehen, ob wir die optimale Lösung für sein Bedürfnis gefunden haben oder nicht.

Was der Kunde allerdings nicht vermag, ist den Raum möglicher Lösungen, also die Menge der Lösungsspalten zu definieren. Bei den Lösungen muss man deshalb den mahnenden Zeigefinger heben, doch ja “auf der grünen Wiese” zu konzipieren und outside the box zu denken, ohne Rücksicht auf bereits existierende organisatorische Gegebenheiten. Es gilt: Keine Denkverbote! Kritik kann warten! Quantität vor Qualität! Und man überlässt das Ausfüllen der Spalten eben viel zu oft doch denjenigen, die eigentlich alle bereits mitten in der Problemlösungs-Landschaft sitzen und den Gipfel vor lauter Bergen nicht sehen.

Design Thinking setzt aus diesem Grund auf diverse Teams. Diverse Teams bieten vielfältige Perspektiven und damit eine größere Bandbreite an möglichen Lösungen. Aber in Unternehmen sind diverse Design-Thinking-Teams verständlicherweise dennoch oft alle Mitarbeiter des selben Unternehmens, der selben Branche, an der selben Stelle in der Problemlösungs-Landschaft.

Für mich bedeutet das, dass neben der Kundenperspektive auch die Außenseiterperspektive stärker in den Vordergrund von Design Thinking-Prozessen in Unternehmen gesetzt werden sollte. Im Idealfall werden Experten aus anderen Branchen, die mit ganz anderen Lösungen (üblicherweise an ganz anderen Problemen) arbeiten, in den Prozess miteinbezogen. Wo das nicht in einem formellen Rahmen möglich ist, hilft erwirkte Serendipity: Zufällige (oder auch mit Absicht herbeigeführte) Begegnungen liefern ebenfalls frische Perspektiven. Wie würde mein Metzger das Problem lösen? Oder meine Frisörin? Der Mann am Tisch nebenan in der Eisdiele? Ebenfalls hilfreich: die bewusste Beschäftigung mit den Lösungen ganz anderer Probleme als des eigenen, wobei bewusst bedeutet, aktiv zu versuchen, diese Lösung auf das eigene Problem zu übertragen. Cross-Innovation. Oder Open Innovation. Crowdsourcing. Ideenwettbewerbe. Blegs. Die Anzahl möglicher Lösungen für dieses Problem ist sicherlich viel größer, als ich es überblicken kann.

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Michael Kirmes

Workshop creator by day, innovation researcher by night. Behavioral Economist by training. I work for @ziWorkshop, but express my own views here.