Nudge: Innovationsschubs

Nudging im Was und Wie von Innovation

Michael Kirmes
8 min readJan 29, 2018

“Nudge” (engl. für Stups oder Schubs) ist der Titel des Buches des Verhaltensökonomen Richard Thaler und des Rechtswissenschaftlers Cass Sunstein, das verspricht, uns zu besseren Entscheidungen über unsere Gesundheit, unsere Finanzen und allgemein unser Glück zu führen. Letzte Woche war ich in England, um an der University of Lancaster einen Vortrag über den Einsatz von Nudges im Innovationsbereich zu halten. In Großbritannien ist das Nudging durch die erfolgreiche Arbeit des Behavioural Insights Teams relativ bekannt, aber durch den Nobelpreis in Economics für Richard Thaler im letzten Jahr erlangt es auch in Deutschland zunehmend Bekanntheit. Als Verhaltensökonom beschäftige ich mich mit Nudging bereits seit 2009, und habe bereits 2010 auf einer Konferenz über Paternalismus einen Fachvortrag über den Einsatz von Nudges in Unternehmen gehalten. In diesem Artikel beschäftige ich mich insbesondere mit dem Einsatz von Nudging für die Entwicklung von Innovationen.

In London hatte ich außerdem Gelegenheit, mich mit David Halpern, dem Leiter des Behavioural Insights Team und Autor des Buches “Inside the Nudge Unit” zu unterhalten.

Intro: Was ist Nudging?

Ursprünglich, nämlich schon 2003, stand das Konzept noch unter dem Namen “Libertärer Paternalismus”. Das Verkaufsargument wird hier besser deutlich: Die Idee verspricht, den Grundwert der Libertären, dass niemand in seiner Freiheit eingeschränkt werden darf, mit dem Ziel des Paternalismus zu vereinen, Menschen vor schlechten Entscheidungen zu bewahren. Also: bessere Entscheidungen herbeiführen, ohne zu bevormunden.

Diese paradoxe Vereinigung wird dadurch möglich, dass Menschen nur beschränkt rational entscheiden, sich nämlich von der choice architecture, also der Gestaltung von Entscheidungssituationen, beeinflussen lassen. Die Art der Formulierung oder Darstellung, implizite (falsche) Annahmen über das Verhalten anderer, die Vorauswahl oder sogar nur die Reihenfolge von Optionen, Faulheit, Langeweile oder Gier führen zu Entscheidungen, die Menschen zwar aus freien Stücken fällen, aber später bereuen (oder im Vorfeld zu vermeiden wünschen würden). Wenn Menschen in diesen Situationen aber von der choice architecture so oder so beeinflusst werden (ob sie nun bewusst oder unbewusst gewählt ist), wäre es dann nicht besser, die choice architecture zu suchen, die zu einem Ergebnis führt, mit dem die Menschen auch langfristig glücklich sind? Natürlich soll dabei weiterhin vermieden werden, dass die Entscheidung durch eine Veränderung echter Entscheidungskriterien, also substantielle Strafen oder Belohnungen oder gar das Ausschließen von Optionen, beeinflusst wird (nur die choice architecture, nicht aber die choice selbst soll verändert werden).

Die Bezeichnung als “Libertärer Paternalismus” sorgte anfangs für Aufmerksamkeit, allerdings auch für heftige ideologische Debatten insbesondere bei den freiheitsliebenden Libertären. Das Rebranding zum freundlicher klingenden “Nudge” war vielleicht ein ebensolcher, um eine durch Lagerdenken beeinflusste Bewertung des Konzepts zu vermeiden. Die Idee hat seitdem auf jeden Fall viele Regierungschefs überzeugt: David Cameron und Barack Obama haben Nudge-Kommissionen eingeführt, auch in Dänemark, Singapur und Australien werden selbstverständlich Nudges ausprobiert, und sogar Angela Merkel hat — ohne jedoch direkt von Nudging zu sprechen — in der letzten Legislaturperiode vier Wissenschaftler für eine Projektgruppe “Wirksam Regieren” eingestellt.

Anti-Nudge der Londoner Underground

Der Begriff choice architecture kommt nicht von ungefähr. Viele der ursprünglichen Beispiele für Nudges kommen aus dem Bereich der Gestaltung öffentlicher Räume: Linienmarkierungen auf dem Fußboden lenken am Lift vorbei zur Treppe und stupsen uns zum einfachen Fitness-Workout. Farbige Fußpuren verlocken uns dazu, Müll in den Mülleimer anstatt auf die Straße zur werfen. Und eine aufs Urinal aufgemalte Fliege bietet ein interessantes Ziel und verhindert so Spritzer auf die Fliesen.

Aber auch regulatorische Standards sind wichtige choice architectures. Wenn Menschen schwierige Entscheidungen vor sich herschieben, entscheidet eine Default-Regel, welche Option bis zur Entscheidung als geltend angenommen wird. Werden Menschen standardmäßig in einen günstigen Rentensparplan eingeschrieben, bis sie aktiv widersprechen bzw. einen anderen Plan wählen, oder treten sie dem Rentenprogramm erst bei, wenn sie sich aktiv für einen bestimmten Plan entschieden haben (und verpassen in der Zwischenzeit mögliche Wertsteigerungen)? Gelten Organe eines Verstorbenen, der zu Lebzeiten keine eigene Entscheidung zu diesem Thema geäußert hat, als gespendet und können so einem anderen Menschen das Leben retten, oder gehören sie weiterhin dem Verstorbenen und sollten mit ihm bestattet werden? Das sind schwierige Fragen, aber es nicht möglich, in diesen Fällen als Gesetzgeber eine Entscheidung ernsthaft zu vermeiden. Ein passives Beibehalten des Status Quo beeinflusst ebenso wie eine aktive Gestaltung der choice architecture jeden Tag die “Entscheidung” unzähliger Bürger, die selbst keine aktive Wahl getroffen haben.

Ein Großteil der regulatorischen Nudges, wie der OECD-Report „Behavioral Insights und Public Policy“ zeigt, geht allerdings tatsächlich mehr in die Richtung „Wirksam Regieren.“ Es geht viel um die Optimierung der Ansprache von Bürgern im Schriftverkehr und bei Aufmerksamkeits-Kampagnen, um das jeweilige Ziel der Kommunikation in mehr Fällen auch zu erreichen. Allgemeine Stoßrichtung: mehr Checklisten, simple Fact-Sheets, einfache Sprache, Verständnis für Probleme und Informationen über das Verhalten anderer Menschen mit ähnlichen Charakteristika.

WAS: Nudging als Human-Centered Design

Thaler und Sunstein sahen sich anfangs in ihrem wissenschaftlichen Umfeld mit der Aufgabe konfrontiert, libertäre Ökonomen und Rechtswissenschaftler davon zu überzeugen, dass der bei diesen Gruppen beliebte caveat emptor-Ansatz („Der Käufer muss Acht geben“) zur Regulierung nicht ausreicht, weil Menschen Informationen oftmals nicht zu vernünftigen Entscheidungen weiterverarbeiten können. In der Politik war das Revolutionäre an ihrem Ansatz stattdessen vielmehr die Nutzung von psychologischen Erkenntnissen, wissenschaftlichen Experimenten und randomisierten, kontrollierten A/B-Tests zur Verbesserung bestehender Prozesse und Regelungen.

In der Wirtschaft hingegen ist die Analyse von Daten für die effektive Ansprache von Kunden nichts Neues. Menschliche Schwächen beim Treffen von Entscheidungen werden im Marketing schon seit Jahrzehnten ausgenutzt, um Kunden zum Kauf der eigenen Produkte zu verleiten. Insbesondere die großen Player der New Economy nutzen die Möglichkeiten der individualisierten Ansprache und ihren großen Datenschatz sehr effektiv, um immer neue Wege zu finden, ihr Produkt attraktiver zu gestalten.

Der ursprünglichen Definition des Nudging folgend ist die Besonderheit dieses Ansatzes in der Wirtschaft wiederum ein anderer als in der Wissenschaft und der Politik: langfristige Interessen der Menschen sollen in den Vordergrund gestellt werden, und zwar insbesondere dann, wenn Menschen durch ihre beschränkte Rationalität diese langfristigen Interessen kurzfristig nicht immer aus freien Stücken selbst wählen, also dann, wenn man ihre beschränkte Rationalität stattdessen auch für schnelle Profite ausnutzen könnte.

Damit ist Nudging eine spezielle Form des Human-Centered Designs. Es geht primär darum, Menschen dabei zu unterstützen, typisch menschliche Probleme zu vermeiden. Der Umsatz wird nicht durch Manipulation gesteigert, sondern dadurch, dass ein gutes Produkt, das Probleme löst, Fans findet und sich gegen die Konkurrenz durchsetzt. Viele Menschen wollen gerne regelmäßiger Sport treiben, gesünder essen, früher schlafen, mehr lesen, Sprachen lernen, für ihr Alter vorsorgen, sich ehrenamtlich engagieren und so weiter. Angebote gibt es in all diesen Bereichen zahlreiche. Aber der menschliche Wille ist schwach. Wer es schafft, Menschen die Entscheidung leichter zu machen und ihnen hilft, bei ihren Plänen am Ball zu bleiben, hat nicht nur treue Kunden gewonnen, sondern auch deren Lebenszufriedenheit und Selbstbild verbessert.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Behavior Change for Good-Initiative, ein massives amerikanisches Forschungsprojekt zahlreicher namhafter Verhaltensforscher die sich mit eben diesem Problem der Entscheidungs-Beihilfe beschäftigen, keine Schwierigkeiten hatte, namhafte Partner ins Boot zu holen: unter anderem den Bio-Supermarkt Whole Foods, die Bank of America, Weight Watchers, die Drogeriekette CVS, die öffentlichen Schulen New Yorks und 24 Hour Fitness. Sie alle erhoffen sich nicht nur neue Erkenntnisse aus dem Projekt, sondern am besten gleich neue Ansätze für Produkte, Dienstleistungen und Programme.

Da es sich bei den Entscheidungsproblemen beschränkter Rationalität um ein relativ begrenztes Problemfeld handelt, ist — anders als etwa beim ebenfalls human-centered Design Thinking — auch der Lösungsraum überschaubarer. Ist in einem bestimmten Fall identifiziert, welche konkreten psychologischen Phänomene es Menschen schwer machen, die richtige Entscheidung zu treffen, kann man sich bei der Ideenfindung an den Lösungen orientieren, die in anderen Bereichen für das gleiche Phänomen erfolgreich getestet wurden. Noch allgemeiner gibt es einfache Faustregeln nach Akronymen wie N-U-D-G-E-S (iNcentives, Understand mappings, Defaults, Give feedback, Expect error, Structure complex choices) oder gar E-A-S-T (Easy, Attractive, Social, Timely).

Sind potenzielle Nudge-Lösungen identifiziert, unterscheidet sich das Nudging — schon aufgrund seines wissenschaftlichen Ursprungs — auch nicht von anderen Methoden wie Design Thinking, Lean Innovation oder Design Sprints: es muss getestet werden. Der Vorteil hier: Nudges sind als “kleine Schubser”, als bloße Umstellung in der Gestaltung einer Entscheidung, oftmals nicht mit großem Aufwand verbunden.

WIE: Nudging für Unternehmenskultur

Kunden sind natürlich nicht die einzigen Menschen, denen Unternehmen zu besseren Entscheidungen verhelfen können. Tatsächlich enthält das Nudge-Buch eine ganze Reihe von Beispielen, bei denen Unternehmen ihre Mitarbeiter anstupsen. Schon im ursprünglichen Artikel über Libertären Paternalismus fand sich das Beispiel einer Cafeteria, in der die Ordnung der Speisen die Wahl der Mittagsgäste beeinflusst. Sollen möglichst gesunde Angebote prominent platziert werden, oder ungesunde? Auch der bereits behandelte Rentensparplan ist als Initiative eines Unternehmens für seine Mitarbeiter denkbar.

Aber auch im Unternehmensalltag selbst, nicht nur in den Mittagspausen oder bei der Altersvorsorge, gibt es genügend Situationen wo Mitarbeiter gerne anders handeln würden, aber diese Entscheidungen nicht unbedingt leicht gemacht werden. Eine offenere, kreativere, agilere Unternehmenskultur wird sowohl von Führungskräften wie auch von Mitarbeitern gewünscht, scheitert aber zu oft an der Umsetzung, denn es reicht nicht, gemeinsam die neue Innovationskultur zu verkünden. Kultur besteht aus vielen einzelnen, wiederkehrenden Entscheidungen und bei diesen kann Nudging ebenfalls helfen.

Als “Regierung” des Unternehmens hat das Management ähnlich umfassende Möglichkeiten zur Gestaltung von choice architectures, auch hier insbesondere bei der Architektur. Viele Unternehmen bauen sich spezielle Workshop-Räume mit bunten Hockern und weißen Wänden, um die Kreativität anzuregen. Das ist nicht verkehrt, aber Kreativität kommt nicht wie auf Knopfdruck beim Betreten eines solchen Raums, sondern speist sich aus ungeplanten Begegnungen, unerwarteten Erkenntnissen und unerforschten Verbindungen in unserem Alltag. Das Facebook-Headquarter ist deshalb so gestaltet, dass sich Mitarbeiter immer wieder zufällig auf dem Flur (oder dem weitläufigen Dachgarten) begegnen und solchen Begegnungen dann auch Raum gegeben wird. Mit ähnlichen Gedanken platzierte Steve Jobs zu seiner Zeit bei Pixar die Toiletten und das Café in der Lobby mitten im Gebäude, sodass es einen natürlichen, zufälligen Treffpunkt für Mitarbeiter gab. Auch Defaults können entscheidend sein. Werden für die wöchentliche Lagebesprechung üblicherweise 20, 30 oder 60 Minuten veranschlagt? Gibt es Stühle oder Stehtische? Ist das Meeting der erste Termin am Morgen oder findet es erst nach dem Mittagessen statt?

Auch als Angestellter kann man mit einfachen Nudges experimentieren, um die eigene Unternehmenskultur zu verändern — vorausgesetzt, solche Experimente sind im Unternehmen generell möglich. Bei Google begannen einige Programmierer, Best Practices, Tipps und neue Vereinbarungen guten Codens & Testens in den Toiletten aufzuhängen — der beste Ort um sicher zu gehen, dass sie gelesen werden. In unserem eigenen Unternehmen haben wir eine Tafel installiert, auf der die vergangene Zeit seit dem letzten Sharing-Meeting angezeigt wird, ähnlich den Anzeigen für arbeitsunfallfreie Tage. So wird das Teilen neuer Erkenntnisse und Erlebnisse, das uns zwar allen wichtig ist, aber im Alltag oft zu wenig Zeit findet, visuell immer wieder mahnend ins Gedächtnis gerufen. Wichtig ist natürlich auch hier die Bereitschaft, Dinge erst einmal auszuprobieren und zu sehen, was funktioniert — und was nicht.

Am 7. März biete ich mit meiner Kollegin Simone Lombard in Frankfurt ein Seminar zum Thema Nudging für Innovationen an. Wir werden dort gemeinsam mit den Teilnehmern anhand von konkreten Beispielen und zielführenden Methoden eigene einfache Produkte, Services und Unternehmenskultur-Nudges entwickeln. Anmelden dafür kann man sich bei Zukunftsinstitut Workshop hier:

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Michael Kirmes

Workshop creator by day, innovation researcher by night. Behavioral Economist by training. I work for @ziWorkshop, but express my own views here.