Nicole Kolisch
4 min readSep 18, 2015

Manche Sätze fühlen sich an wie Säure. Du spürst es, sobald der Satz ausgesprochen ist: Ein Tropfen auf deiner Seele. Ohne Eile, aber beharrlich frisst er sich ein.
Er hat Zeit. Bleibt dein Leben lang da, lauernd im Brandloch und bereit, dich anzuspringen, wenn du Schwäche zeigst.
Emmentalerseele, denkst du.

Klar merkst du dir die guten Sätze auch. Und die praktischen. “Jedes Geschirr hat eine Rückseite” hat die Mama gesagt, als sie der 8jährigen Nicole Geschirrwaschen beigebracht hat. Der pickt, der Satz. Geht nie mehr weg.
“Du bist wunderschön, wenn du kommst” hat auch einer gesagt. Satz fürs Ewigkeitsschatzkisterl. Aber das ist es ja: The Good and The Useful ätzen keine Löcher. Das tun nur The Ugly.
Besonders Ugly sind die Ungerechten. Heute gab’s einen Neuzugang.

WGKK, 7:30 Uhr

“Der Krankenstand ist schon recht lang” bemerkt die Kontrollfrau mit einem Blick auf meine Akte. “Ich glaub nicht, dass ich das noch viel länger aushalten kann.”

Ich bin so baff, dass ich gar nix sag.
Aufprall des Tropfens in drei, zwei, eins… pshhhhhhhhhhhh!

Ok, durchatmen. Ich bin hier ein mal pro Monat zur Kontrolle. Immer bei der/dem gerade Diensthabenden. Durchschnittliche Gesprächsdauer: 5 Minuten. Die Kontrollfrau mit der lustigen Brille hatte ich noch nie, daher schließ ich mal aus, dass es sich um meine Person handelt, die sie nicht mehr länger aushalten kann. Weil 5 Minuten hält man mich wohl aus.

Es handelt sich also um meinen Krankenstand, den sie nicht aushält. Die Arme.
Zugegeben, ich bin nur deshalb in Krankenstand, um sie zu ärgern.

Ich habe mich immer durch Arbeit definiert. Ich leiste, also bin ich. Die 60 bis 80 Stundenwoche hat mich nie gestört. Im Gegenteil: War’s einmal weniger, wurde ich oft unruhig und hab mir ein Zusatzprojekt gesucht, dass ich noch reinquetschen konnte. Ein Perfektionismus-Tick war hier eine große Hilfe. Vier Stunden Schlaf pro Nacht waren mir nie zu wenig. Seit 2010 war das mein durchschnittliches Schlafpensum und ich war stolz drauf. Das tägliche Mantra: “Ich kann das.”

Familie stand immer auf Platz 8. Soziale Kontakte auf 9. Die Gesundheit auf 10. Die Plätze 1 bis 7 waren für die Arbeit reserviert. Überstunden hab ich nie aufgeschrieben, weil sie mir eh niemand geglaubt (geschweige denn bezahlt) hätte. Außerdem wollte ich keine Zeit für so administratives Zeugs vergeuden, es musste ja ein Projekt fertiggestellt werden.
Kollegen, die Mittagspause hielten, fand ich alien. “Du wolltest doch vor vier Stunden aufs Klo gehen”, bemerkte mein Schreibtischnachbar. Äh ja. Stimmt. Das war sich noch nicht ausgegangen…

Und ich habe das geliebt. Ich hatte das Gefühl, etwas zu erschaffen, wie ein großartiges Weihnachtsgeschenk, das man akribisch für seine Lieben bastelt. Meine Lieben waren die Leser. Und Weihnachten war 365 Tage im Jahr. Happy me.
Der Zusammenbruch hat dann niemanden überrascht. Außer mir, denn ich war ja glücklich.

Die Frau mit der lustigen Brille findet den Krankenstand zu lang. Sie droht, mich wieder arbeiten zu schicken. Es klingt wie ein Versprechen. “Ich glaub nicht, dass ich das noch viel länger aushalten kann” ist nämlich ein Satz, der mir gehört, nicht ihr. Deshalb brennt’s auch so, die Säure.

Was glaubt sie denn, die Funsn? Natürlich will ich arbeiten gehen. Aber derzeit besteht meine 24/7 Hackn darin, mich selbst am Arbeiten zu hindern. Das ist schwer, wenn man eins nie gelernt hat: loslassen.

Ich scheitere täglich. Aber ich werde besser. Und das ist vielleicht die anstrengendste Arbeit, die ich je hatte. Übrigens: “Ich kann das” ist immer noch mein Mantra.
“Das ist das falsche Mantra”, kritisert mein Ex-Chef. “Dein Mantra muss sein: Das ist halt jetzt einfach so.” Er kennt mich zu gut. Aber “Ich kann das” bringt mich derzeit durch den Tag. Und es zeigt Erfolge.

“Ich kann das” bedeutet, dass ich inzwischen alleine auf die Straße gehen kann, ohne Panikattacken. Dass ich mich dabei nicht mehr an der Hausmauer entlanghanteln muss. Und wenn ich trotzdem noch umfalle dabei, kann ich selber wieder aufstehen. Ich muss nicht mehr weinen nach vier Stufen. Wobei, bereits das Weinen nach vier Stufen war ein geiler Fortschritt, weil es hat bedeutet: Hey, du kannst vier Stufen! Du bist voll die coole Sau!
(Die coole Sau wohnt übrigens im letzten Stock eines aufzugfreien Altbaus. Und inzwischen kommt sie wieder selber in die Wohnung. Größter Triumph des Sommers.)
Überhaupt voll auf der Siegerstraße unterwegs: Ich kann mir Zahnpasta auf die Zahnbürste geben und treffe beim ersten Versuch! (Ich schweige jetzt mal darüber, wie das in der ärgsten Zitterphase war.)

Immer noch ein Kind der Leistungsgesellschaft. (You can take Nicole out of work but you can’t take work out of Nicole.) Bloß dass sich das mit der Leistung derzeit anders definiert. Leistung heißt Zahnbürste. Und Stufen. Ich kann das.

Ich fahre Autobus und Straßenbahn. Ich kann das. U-Bahn geht noch nicht ohne Hyperventillieren. Das ist mein nächstes “Projekt”.
Ich treffe Menschen. Zu viele sind unheimlich, aber kleine Gruppen sind ok. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein… “Was machst du eigentlich die ganze Zeit?” fragt ein Arbeitskollege. Ich weiß keine Antwort. Ich murmle “Nicht viel.” Dabei hab ich das Gefühl, dass ich noch nie so viel gemacht hab: ich binde mir die Schuhe zu, ich räume den Geschirrspüler aus. Das sind die kleinen Mount Everest Besteigungen des Alltags. Im Juni konnte mein Post-Zusammenbruchs-Hirn weder lesen, noch fernsehen. Ich schaff jetzt beides. Nur ganze Filme halt ich nicht durch. (Konzentration is a Hund.)

Ich bemüh mich, eine brauchbare Mama zu sein. Die Kinder hatten mich lang genug nicht. Erst war ich in der Arbeit verschollen, dann in dieser komischen Paralleldimension, die sich Burn-Out nennt. Jetzt versuch ich, für sie da zu sein. Am Abend wein ich dann. Ich habe die Tendenz, mich zu übernehmen.

Stimme der Vernunft: “Muffins backen, Nicole? Are you fucking serious?” — “Ich kann das. Ich kann das.” — “Sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte…”
Ja eh. Das muss ich noch lernen, das mit dem Nicht-Leisten. Lieber würd ich leisten. Wäre einfacher. “Natürlich gehen Sie nicht arbeiten!”, sagt meine Ärztin, “Sie haben 90 Prozent Rückfallsrisiko!”

Ist noch ein langer Weg. Und es gibt Rückschläge. Aber ich lerne.
Und ich merke: den Säuretropfen hab ich durch Schreiben neutralisiert. Voll die Siegerin.

Nicole Kolisch

Was mit Medien. Aber hier nur privat. Move along, nothing to see!