Nina Diercks
8 min readFeb 21, 2016

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#Clausnitz #Kaltland — Wir müssen aufstehen. Jetzt!

Was in Clausnitz passiert ist, muss wohl nicht mehr an dieser Stelle wiederholt werden. Es geht auch nicht um Clausnitz, den Ort. Es geht darum, wofür Clausnitz steht. Es geht um #Kaltland. Es geht um Heidenau, Freital und all die anderen Orte, die zu einem Synomym der Menschenverachtung und des Hasses geworden sind.. Einem Hass, der sich auf Facebook und Twitter fortsetzt. Der sich in den jeweiligen Filterblasen verstärkt. Der offensichtlich Menschen glauben macht, sie seien mit ihren Ansichten, dass „das Dreckspack am Besten in Plastiksäcken zurück in ihre Heimat“ geschickt , „das Gesindel angezündet“ oder „an der Grenze erschossen“ werden sollte, in der Mehrheit. Weiter wird diese Haltung dadurch bestärkt, dass Polizisten, Repräsentanten des Rechtsstaates, scheinbar diese Meinungen teilen — einen anderen Schluss lässt der Umgang der Polizisten mit den Kindern, den vom pöbelnden Mob in Clausnitz zutiefst verängstigten Kindern, kaum zu.

Mir war vorgestern schon übel. Zu diesem Zeitpunkt twitterte ich zur Ansage der Polizei Sachsen*, dass die Vorgänge in Clausnitz „ausgewertet“ würden:

Gestern wurde mir dann noch schlechter. Es zeigte sich dann, dass dieser Befürchtung nicht grundlos war:

Die Pressekonferenz der zuständigen Polizeidirektion in Chemnitz ließ mich dann endgültig entsetzt zurück. Der Tenor lautet in etwa „Die Flüchtlinge sind schuld. Die haben provoziert. Der unmittelbare Zwang war verhältnismäßig“. Nun ist auch mir klar, dass die Arbeit der Polizei wahrlich nicht immer einfach ist. Dass es schwierig ist, mit nur wenigen Polizisten einem Mob gegenüber zu stehen. Dass es angebracht sein kann, hier in dieser Situation die bedrohten Menschen schnell aus der Bedrohungslage zu holen — ergo, aus dem Bus zu nehmen und in die Unterkunft zu bringen. Es bleiben gerade in diesem konkreten Fall jedoch mehr als nur Zweifel, dass dies die (rechtfertigenden) Gründe für das rabiate Vorgehen der Polizei vor Ort waren. Es handelte sich in dem Bus um verängstigte Menschen und vor allem: Kinder! Dass sich hier die Polizeidirektion noch dazu hinreißen lässt, von „es werden Ermittlungen gegen die Flüchtlinge eingeleitet“ zu faseln, ist einfach nur absurd. Der Eindruck, dass Sachsen institutionell rechts-national unterwandert ist, lässt sich kaum mehr abschütteln. Es würde mich — leider — nicht mehr verwundern, wenn als nächstes herauskäme, dass der zuständige Dienststellenleiter für Clausnitz NPD-Mitglied ist und der Körper mit SS-Runden bedeckte (Man achte auf den Konjunktiv II). Leider würde es auch nicht mehr verwundern, wenn danach genau nichts passierte. Es scheint in Sachsen (und so fürchterlich vielen anderen Orten) schlicht zum guten Ton zu gehören, rechts zu sein.

Und wer diese „politische Ansicht“ nicht teilt, der nun ja, klar, ist Teil der #Lügenpresse.

Ich wünsche von Herzen, dass es sich hierbei um einen Satirekanal handelt. Und weiß doch, das ist es nicht.

Mir macht das Angst. Wiederholt sich Geschichte?

Mit macht das alles Angst. So unendliche Angst. War es so in den 1930er Jahren? Wiederholt sich die Geschichte?

Dazu etwas Persönliches. Ich bin Sozialdemokratin. Im Herzen schon lange. Doch vor über drei Jahren trat ich endlich in die Partei ein. Nicht, weil ich alles toll finde, was die dicke, alte Tante SPD so macht. Aber eben doch eine ganze Menge. Und weil immer nur meckern ja auch nichts nützt. Vor drei Jahren kam ich also mit diesem Büchlein nach Hause.

Meine Tochter fragte mich, was das sei. Ich erklärte es ihr. Und ich erklärte ihr auch, dass es einmal Zeiten in Deutschland gab, in denen man wegen des Besitzes eines solchen Buches und der damit verbundenen sozial-demokratischen Überzeugungen verfolgt, in Lager gesteckt und gar umgebracht werden konnte. Meine Tochter bekam Angst. Ich versicherte ihr aus vollstem Herzen, dass diese Zeiten vorbei seien. Dass wir in einer starken Demokratie mit einem starken Rechtsstaat leben würden, in dem dies nicht mehr vorkomme und aufgrund unserer Geschichte sowie der damit verbundenen Erinnerungen nie mehr vorkommen könne.

Natürlich war ich mir um Mölln, Rostock-Lichtenhagen und dem Aufflackern der Rechten bewusst, während ich das sagte. Dennoch, mir war mir bei allem schrecklichen Leid und Entsetzen damals ganz abstrakt nicht bange um diesen Rechtsstaat, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, das Grundgesetz, die Grundrechte. All das, woran ich glaube. (Vielleicht war ich auch zu jung, um wirklich Angst zu haben, wer weiß…)

Und jetzt? Jetzt habe ich Angst. Mitte der 90er gab es noch keine sozialen Medien, keine Filterblasen, keine Selbstbestätigung des eigenen Hasses, die und der derart virulent um sich greift.

Dass ich Angst habe, merke ich daran, dass ich auf Facebook und auf Twitter selbst eine Art Selbstzensur betreibe. Ich stehe ziemlich offen im Netz dar. Es ist kein Geheimnis, dass ich Familie habe. Und so beginnt, das Gift zu wirken. Ich bekomme mit, welchen verbalen Angriffen Social Media Leiter wie etwa Torsten Beeck und Journalisten wie etwa Hannah Beitzer oder Hanning Voigts ausgesetzt sind. Sie werden bedroht, ihre Familien werden bedroht. Und ich muss zugeben, dass ich mich inzwischen recht oft frage, ob ich dieses oder jenes so öffentlich posten kann. Oder ob ich damit irgendeinem Irren einen Angriffspunkt biete, der herausfindet, herausfinden kann, wo wir leben, der mich oder meine Familie angreift, und dabei johlt — schließlich sind wir nur parasitäre, vermessene „Gutmenschen“. Die Folge ist, dass ich die Delete-Taste drücke.

Früher, da fragte ich mich, wie es zur Machtergreifung der Nazis kommen konnte. Heute beginne ich zu verstehen.

Ich habe Angst. Aber diese Angst darf nicht um sich greifen, sich keinen Platz nehmen. Gerne würde ich die Angst als irrational bezeichnen, würde ich gerne sagen, es sind nur Lautschreier im Netz. Aber die Lautschreier im Netz, sie zünden in der Realität Flüchtlingsunterkünfte an und Handgranaten. Sie klatschen Beifall, wenn es brennt und behindern die Einsatzkräfte. Erst heute wieder in Bautzen. Ein Wunder ist das wahrlich nicht mehr. Fühlen sie sich doch vom Staat bestätigt. Die Polizei hat gestern doch erst gesagt, dass die Flüchtlinge provoziert hätten. Also sind die selbst schuld!. Die kritischen Berichte zur Pressekonferenz? Alles LÜGENPRESSE!!1!11!

Wir müssen aufstehen. JETZT!

Wir dürfen diese Angst nicht zulassen. Ich nicht. Ihr auch nicht. Wir nicht. Die Wahrheit ist, es sind wenige, die Beifall klatschen. Die „Wir sind das Volk“ brüllen und damit meinen: „Ausländer raus“. Es sind nicht ganz so wenige, die mitgehen aus Protest „gegen das System“. Diese müssen wir abholen. Wir müssen zeigen, dass Demokratie der Weg ist, dass Grundrechte allen zustehen. Dass Menschlichkeit das Antlitz ist, in das alle blicken wollen — auch im eigenen Spiegelbild. Wir müssen Ihnen zeigen, dass wir das System sind, dass sie selbst die Demokratie sind. Wir müssen gerade diesen Mitläufern zeigen, dass wir die Mehrheit sind und dass sie dazugehören!

Unsere Generation soll nicht gefragt werden „Habt ihr nichts gewusst? Warum habt ihr nichts getan?“ Ich will das jedenfalls nicht gefragt werden. Patricia Cammarata alias dasNuf auch nicht. Sie hat ihre Gedanken zu diesem Thema gestern wunderbar in dem Artikel „Ein paar naive Fragen“ wiedergegeben. Sie fragt, was können, was müssen wir tun?

Wir müssen laut sein.

Wir sind entsetzt. Wir sind beschämt. Aber das reicht nicht. Wir müssen handeln. Gerade wir, die wir so viel im Netz sind, müssen mit unseren demokratischen Stimmen lauter werden. Wir müssen eine Präsenz, eine Gegenpräsenz zur digitalen Menschenverachtung, wie sie unter den Hashtags auf Twitter und Facebook wuchert, schaffen. Wir müssen auch raus aus unseren eigenen Filterblasen. Wir müssen so laut sein, dass uns die Mitläufer hören. Dass sie sich fragen, ob ihr Weltbild wirklich so klar ist. Wir müssen Zweifel sähen. Zweifel für Demokratie und Menschenrechte.

Darüber hinaus müssen wir gegenüber unseren staatlichen Institutionen laut werden. Kann es sein, dass die Vorkommnisse in Clausnitz rein innerpolizeilich „ausgewertet“ werden? Kann es sein, dass ein Ministerpräsident Tillich zu den Ereignissen in seinem Bundesland „aus terminlichen Gründen“ keine Stellung beziehen kann? Können, dürfen mir mit dem Gefühl eines rechts-institutionellen Problems zurückbleiben? Nein. Wir müssen Finger in die Wunde legen, Aufklärung fordern.

Doch es geht nicht nur im die Aufklärung im Staatswesen. Wir müssen auch die Aufklärung in Schulen und in Jugendclubs fördern und fordern. Präventionsprogramme dürfen nicht weiter zusammengestrichen, müssen wiederbelebt werden. Wir brauchen die Schulen, die Vereine, die Jugendclubs, die Sozialpädagogen.

Früher dachte ich, es wäre genug mit dem Unterrichtsgegenstand „3. Reich“ in Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte und Politik. Ich hatte gelernt, nie zu vergessen. Ich konnte es nicht mehr hören. Heute glaube ich, ich hätte vielleicht sonst nie gelernt, nie zu vergessen. Heute glaube ich, es kann nicht genug davon im Unterricht geben.

Wir müssen uns engagieren.

Wir sind das Volk. Ja, wir. Du und Du und Du da hinten auch. Wir sind alle unterschiedlich. Der eine will die Rechte der Arbeiter in der Digitalisierung stärken. Der nächste die Wirtschaft. Die andere den Klimawandel stoppen. Der vierte möchte ein Grundeinkommen für alle. Die Fünfte eine geregelte Einwanderungspolitik. Die sechste die gleichgeschlechtliche Ehe und das Adoptionsrecht für solche Paare.

Das ist alles gut. Und das Tolle daran ist: Für die eigene Auffassung kann und darf man in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit aller Verve eintreten oder eintreten lassen — letzteres ganz einfach, in dem man seine(n) Repräsentanten/in wählt. (Ja, daher der Name: Repräsentative Demokratie).

Und wem das alles nicht gefällt: Es wird noch toller! Man kann eine eigene Partei gründen. Oder sich als Unabhängiger zur Wahl stellen. Oder sich einfach sonst jenseits der Parteien in Vereinen und Vereinigungen engagieren.

Natürlich, im wahren Leben geht es dann um den Konsens. Und der ist nicht immer leicht zu erreichen. Das Leben und die vielfältigen Herausforderungen vor dem dieses Land steht, sind aber auch nicht leicht, sie sind komplex. Und komplexe Fragestellungen haben keine einfachen Lösungen. Aber jeder kann auf seine Weise mitwirken. Wirklich jeder.

Nochmal: Ja. Ich bin SPD-Mitglied und ich finde, die Worte Willy Brandts (aus seiner Abschiedsrede 1987, abgedruckt im Parteibuch) sind aktueller denn je. Oder wie es ein guter Freund von mir vor zwei Tagen ausdrückte:

Was ist eigentlich eine adäquate Reaktion auf die aktuelle politische Entwicklung? Ich glaube, diese Frage stellen sich der Tage so einige Menschen.

Für mich habe ich einen richtigen Weg gefunden.
Politisches Engagement in einer DEMOKRATISCHEN Partei steht jedem frei. Die Unterstützung einer solchen ist meine angemessene Reaktion.

‪#‎aufstehen ‪#‎wirschaffendas ‪#‎niemandhatgesagtdaseseinfachwird

Aber es ist mir vollkommen gleich, wo jemand seine politische Heimat finden mag, so lange diese mit beiden Beinen fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht.

In diesem Sinne,

gleich wie, gleich wo. Steht auf, seid laut. Seid Demokraten!

*Ich spreche in diesem Artikel viel von der “Polizei Sachsen”. Mir ist vollkommen klar, dass es auch hier ganz sicher viele Beamte gibt, die ihre Arbeit mit festem Blick auf den das Grundgesetz und Maß und Menschlichkeit in aller Professionalität ausüben. Bitte fühlen Sie sich ausdrücklich nicht von diesem Artikel persönlich angesprochen.

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Nina Diercks

Im wahren Leben Rechtsanwältin. Mutter. Ehefrau. Läuferin. D-64-Mitglied. Und mehr. https://diercks-digital-recht.de/impressum