Staatenverantwortlichkeit für die Folterung von Julian Assange

Ansprache von Nils Melzer, UN Sonderberichterstatter für Folter, Deutscher Bundestag, Berlin, 27. November 2019

Nils Melzer
8 min readDec 16, 2019

Sehr geehrte Damen und Herren,

Herzlichen Dank für die Einladung, an dieser Veranstaltung im deutschen Bundestag teilzunehmen und meinen Beitrag dazu zu leisten. Ich denke, die Frage nach der Verantwortlichkeit für die psychologische Folterung von Julian Assange muss in zwei Teilen beantwortet werden, wobei sich eine erste Phase auf den Zeitraum seines diplomatischen Asyls in der ecuadorianischen Botschaft in London bezieht und die zweite auf die Zeit seit seiner Inhaftierung durch Grossbritannien.

Erste Phase: Politische Verfolgung und Botschaftsasyl

Ich habe Herrn Assange bekanntlich mit meinem Ärzteteam am 9. Mai 2019 im Hochsicherheitsgefängnis von Belmarsh besucht. Das war etwa drei, vier Wochen nach seiner Festnahme am 11. April, und wir stellten fest, in einer dreistündigen medizinischen Untersuchung und einer zusätzlichen einstündigen Unterredung mit mir, dass er alle Symptome zeigte, welche typisch sind für Personen, die über längere Zeit psychologischer Folter ausgesetzt waren. Das waren sehr ernste Symptome, die bereits auch physisch, neurologisch und kognitiv messbar waren.

Wir mussten uns also fragen, was die Ursachen für diese Symptome waren. Dieser Mann war während mehr als sechs Jahren in einem äusserst kontrollierten Umfeld innerhalb der ecuadorianischen Botschaft festgehalten worden. Man konnte also mit hoher Sicherheit feststellen, welche Faktoren diese Symptome ausgelöst haben konnten, weil er ja nur den sehr begrenzten Einflüssen dieser Umgebung ausgesetzt war. Diese Umgebung war vor allem von vier Staaten kreiert worden. An erster Stelle müssen hier die USA genannt werden, die von Anfang an die Auslieferung von Julian Assange erreichen wollten, auch wenn sie die diese Absicht natürlich nicht publik machten. Julian Assange hatte jedoch stets gesagt, seine grosse Angst sei, in die USA ausgeliefert und dann dort in einem Schauprozess zu höchstwahrscheinlich lebenslanger Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt zu werden, dem sogenannten „Supermax“-Regime, das von mir und auch von meinen Mandatsvorgängern durchwegs als unmenschlich klassifiziert worden ist. Assange’s Befürchtungen wurden ihm stets als «Paranoia» vorgeworfen und lächerlich gemacht, doch an dem Tag, als er zum ersten Mal den Fuss aus der ecuadorianischen Botschaft setzte, überreichten die USA dem Vereinigten Königreich innerhalb einer Stunde das Auslieferungsgesuch. Assange war also keineswegs «paranoid» gewesen, sondern schätzte seine Situation und die Bedrohung, der er ausgesetzt war, sehr realistisch ein. Die ständig drohende Auslieferung an die USA und die nachfolgend zu erwartenden, schweren Verletzungen von Assange’s Menschenrechten sind das Grundbedrohungsszenario, welches sich von Anfang an und bis heute durch den gesamten Fall zieht.

Dazu kam von 2010 bis 2019 das schwedische Verfahren. Wie ich in verschiedenen offiziellen Kommunikationen an die schwedische Regierung und auch anderweitig dargelegt habe, wurde dieses Verfahren in schwerster Weise willkürlich durchgeführt. Es geht hier um eine „Voruntersuchung“ wegen Vergewaltigungsverdachts, die mehr als neun Jahre lang nicht einmal imstande war, genügend Beweismaterial für eine Anklage zusammenzubringen, und die nun nach fast einem Jahrzehnt sang- und klanglos genau aus diesem Grund eingestellt wurde. Dieses Verfahren zwang Julian Assange dazu, in der ecuadorianischen Botschaft Asyl zu beantragen. So wurde er zum politischen Flüchtling in dieser Botschaft, und konnte diese nicht mehr verlassen. Bezeichnenderweise bot er den schwedischen Behörden wiederholt an, dass er nach Schweden kommen und am Strafverfahren teilnehmen würde, wenn er nur die Garantie bekäme, dass er nicht von Schweden nach Amerika weiter ausgeliefert werde. Dies wäre problemlos möglich gewesen, weil das amerikanische Verfahren ja nichts mit dem schwedischen Verfahren zu tun hatte. Schweden weigerte sich jedoch beharrlich, diese Zusicherung zu geben, aus formalistischen Gründen, die mit Blick auf die gängige diplomatische Praxis nicht vertretbar sind. Schweden hat mit der Art und Weise, wie das Verfahren gegen Julian Assange durchgeführt wurde, ganz entscheidend dazu beigetragen, dass er sich nicht mehr aus der Botschaft wagen konnte. Die Briten ihrerseits haben ebenfalls ganz entscheidend mitgewirkt und diese Politik unterstützt. Als die Schweden die Untersuchung 2013 unter Druck ihres Verfassungsgerichtes endlich einstellen wollten, hat die britische Staatsanwaltschaft die Schweden in einer uns heute vorliegenden Korrespondenz dazu ermutigt, dies auf keinen Fall zu tun, und sie dazu aufgefordert, jetzt keine «kalten Füsse» zu bekommen. Wie es scheint, haben die Schweden nun, nach mehr als neun Jahren, endlich eben doch «kalte Füsse» bekommen.

Im Jahr 2017 kam dann noch der Regierungswechsel im Asylgeberland Ecuador hinzu. Der neue Präsident, Moreno, hatte es sich zum Ziel gemacht, sich mit den USA zu versöhnen, und da war die Auslieferung von Assange ganz sicher ein Verhandlungsgegenstand. Ab diesem Datum begann das Mobbing auch innerhalb der Ecuadorianischen Botschaft, wo das Botschafts- und Sicherheitspersonal Julian Assange das Leben zunehmend schwer machte. Wir wissen heute auch bereits sehr viel über die ständige, sehr weitgehende Überwachung, der er innerhalb der Botschaft ausgesetzt war, einschliesslich seiner Privatsphäre, seiner privaten Besuche und seiner Unterredungen mit Anwälten und Ärzten. Es muss hervorgehoben werden, dass unablässige Überwachung 24 Stunden am Tag ein Faktor ist, der in der psychologischen Folter oft ganz gezielt eingesetzt wird, um das Opfer durch systematischen Verweigerung seines Rückzugsraums in eine Art Verfolgungswahn zu treiben, welcher jedoch in Wirklichkeit eben kein Wahn ist, sondern durchaus der Realität entspricht.

Diese vier Staaten, die USA, das Vereinigte Königreich, Ecuador und Schweden, haben alle zu der damaligen Situation beigetragen. Am 11. April 2019 wurden Julian Assange von der ecuadorianischen Regierung dann ohne jedes Rechtsverfahren sowohl das Asyl als auch die Staatsbürgerschaft entzogen, und er wurde den Briten ausgeliefert, was sowohl nach Völkerrecht wie auch nach ecuadorianischem Verfassungsrecht unzulässig ist. Wie wir wissen, wurde er sofort von der britischen Polizei verhaftet, innert Stunden einem britischen Richter vorgeführt und in einem viertelstündigen Verfahren wegen einer Kautionsverletzung aus dem Jahr 2012 schuldig gesprochen, ohne dass ihm auch nur die notwendige Zeit gegeben worden wäre, um sich mit seinem Verteidiger vorzubereiten.

Zweite Phase: Britische Haft und Justizwillkür

Mit der Inhaftierung durch Grossbritannien begann nun die zweite Phase, welche leider genau zu jener dramatischen Verschlechterung von Julian Assange’s Gesundheitszustand geführt hat, welche mein Ärzteteam und ich nach meinem Besuch im Mai vorausgesagt hatten. Wir warnten ausdrücklich, dass Julian Assange’s Gesundheit sowohl psychisch wie auch physisch sehr bald in eine Abwärtsspirale geraten werde, wenn der Druck auf ihn aufrechterhalten, seine Situation nicht verbessert und seiner willkürlichen Behandlung kein Ende gesetzt werde. Am 1. November 2019 habe ich dann schliesslich noch einmal Alarm geschlagen und meiner ernsthaften Sorge Ausdruck verliehen, dass die fortgesetzte Willkür und Misshandlung Julian Assange möglicherweise das Leben kosten könnte.

In diesem Zusammenhang muss unterstrichen werden, dass meine Warnung keinerlei Übertreibung beinhaltet. Psychologische Folter ist eben nicht Folter «light». Psychologische Folter zielt direkt auf die Persönlichkeit eines Menschen und versucht, diesen ganz gezielt zu destabilisieren, indem man seine Umgebung willkürlich gestaltet, alles unvorhersehbar macht, ihn isoliert, ihn seiner sozialen Kontakte beraubt und aller Möglichkeiten, seine Menschenwürde zu erhalten. All das wird dem Folteropfer über längere Zeit systematisch entzogen, bis diese Art von Misshandlung schliesslich zum Kreislaufkollaps führt, zu Nervenzusammenbrüchen, oder zu irreversiblen neurologischen Schäden. Das sind sehr schwerwiegende Formen der Misshandlung, sie werden aber so durchgeführt, dass die einzelnen Bestandteile für sich genommen jeweils fast harmlos aussehen. Im Zusammenspiel und mit zunehmender Dauer entfalten diese jedoch eine wahrhaft mörderische Wirkung.

Das ist es, was mit Julian Assange seit seiner Inhaftierung im Hochsicherheitsgefängnis von Belmarsh geschieht, auch heute noch. Noch am Tag seiner Verhaftung wurde er wegen einer Kautionsverletzung verurteilt, ein Tatbestand, für den in Grossbritannien praktisch niemand ins Gefängnis geht, sondern für den man lediglich eine Busse bekommt. Wenn jemand während der Kautionsverletzung kein Verbrechen begangen hat, geschieht da also nicht viel. Julian Assange wurde jedoch fast zur Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis verurteilt, nämlich zu 50 Wochen Haft, und dies für eine Kautionsverletzung, die er ja gar nicht vermeiden konnte, wenn er den Schutz des ihm von Ecuador angebotenen diplomatischen Asyls annehmen wollte. Die Stellung eines Asylgesuches ist eines der grundlegendsten Menschenrechte jedes politisch Verfolgten. Wenn nun die Erteilung von Botschaftsasyl durch einen UN-Mitgliedstaat zwangsläufig eine Kautionsverletzung in einem der Verfolgerstaaten bedingt, dann ist dies mit Sicherheit ein Strafmilderungsgrund von monumentaler Bedeutung, wenn nicht gar ein Rechtfertigungsgrund. Schon die Tatsache, dass Julian Assange von Grossbritannien hierfür überhaupt zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, ist ein deutlichen Hinweis auf die Willkürlichkeit dieses Verfahrens.

Aus Zeitgründen können an dieser Stelle nicht alle britischen Verfahrensverletzungen aufgezählt werden, welche sich durch sämtliche Verfahrensschritte ziehen, sowohl im Strafverfahren wegen der Kautionsverletzung, als auch im Auslieferungsverfahren. Wir haben jedoch dokumentierte Interessenkonflikte und offensichtliche Parteilichkeit von Richtern gesehen, einschliesslich Beleidigungen und Beschimpfungen im Gerichtssaal. Auch wurde und wird Julian Assange der Zugang zu seinen Rechtsakten und Anwälten systematisch erschwert oder gar verweigert, so dass er in beiden Verfahren bisher nicht einmal seine eigene Verteidigung vorbereiten konnte und auch weiterhin nicht kann. Wo ist denn da der Rechtsstaat geblieben? Wo sind wir denn angelangt, wenn einem Angeklagten nicht einmal mehr erlaubt wird, seine Anklageschrift zu lesen, bevor er dazu Stellung nehmen muss? Als ich dies erfuhr, traute ich zuerst meinen Augen nicht, und dachte, das könne doch gar nicht sein!

Wie wir es richtig vorausgesagt hatten, musste Julian Assange nur neun Tage nach unserem Besuch in die Krankenabteilung des Gefängnisses überstellt werden. Dort wird er seither in einem sehr strengen Haftregime fast vollkommen isoliert, obwohl er seine Gefängnisstrafe wegen der Kautionsverletzung unterdessen bereits abgesessen hat, und gegenwärtig nur noch in Präventivhaft gehalten wird, zur Fluchtvermeidung während des amerikanischen Auslieferungsverfahrens. Für die Erreichung dieses Zwecks braucht es aber ganz offensichtlich kein Hochsicherheitsgefängnis, und schon gar keine Isolation. Stattdessen würde hierfür ein Hausarrest vollkommen genügen, oder ein ähnliches, offenes Regime, wo er Zugang zu seiner Familie und seinen Anwälten hat, wo er seine Verteidigung vorbereiten kann, und wo er auch mit der Presse korrespondieren kann.

Aber das ist ja genau das, was die involvierten Staaten nicht wollen: Niemand soll den Scheinwerfer auf das richten können, worum es hier wirklich geht. Denn es geht um den Rechtsstaat, es geht um die Demokratie, es geht darum, dass wir es uns schlicht nicht leisten können, dass Staatsmacht unüberwacht bleibt. Das ist ja gerade der Grund, warum wir vor 200 Jahren die Gewaltenteilung eingeführt haben. Und wenn diese Gewaltenteilung in der Praxis nicht mehr funktioniert, dann brauchen wir eben eine unabhängige Presse als «vierte Gewalt» im Staat. Und wenn die Presse diese Überwachungsfunktion nicht mehr wahrnimmt, dann muss eben eine Organisation wie WikiLeaks kommen, um die systemischen Dysfunktionen ans Licht zu ziehen. Es geht hier um ganz wichtige staatspolitische Grundelemente, welche unbedingt geschützt werden müssen.

Besprechung mit dem Auswärtigen Amt

Das Auswärtige Amt der deutschen Bundesregierung ist anlässlich seiner Pressekonferenzen offenbar wiederholt auf meine Berichte im Fall Assange angesprochen und um eine offizielle Stellungnahme gebeten worden. Da ich heute Vormittag von Bundestagsabgeordneten dazu befragt worden bin, möchte ich zum Schluss nicht unerwähnt lassen, dass mich das Auswärtige Amt gestern zu einer Besprechung mit der Menschenrechtsabteilung eingeladen hat. Dieses Treffen hat stattgefunden, war allerdings nicht besonders ergiebig. Man hat mir gesagt, man habe meine Berichte zum Fall Assange nach wie vor nicht gelesen und habe auch keine Zeit dazu. Ich habe dem Auswärtigen Amt deshalb ans Herz gelegt, man möge doch meine Berichte lesen, bevor man sich mit mir darüber unterhalten wolle. Ich hoffe, dass dies nun ernstgenommen wird und auch wirklich stattfindet, denn das ist ja gerade der Zweck meiner Berichte, dass sie eben gelesen werden.

Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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Nils Melzer

United Nations Special Rapporteur on Torture; Professor of International Law; Vice-President of the International Institute of Humanitarian Law