Die ziemlich kafkaeske Geschichte der Löschung meines Twitteraccounts.

Sebastian Baumer
9 min readMay 15, 2019

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Ich bin leider etwas ratlos.

Seit nun beinahe vier Wochen ist mein seit zehn Jahren täglich aktiver Twitteraccount @noemata mit fast 4000 Followern gesperrt. Die Sperrung kam plötzlich, ohne Vorwarnung, ohne Angabe von Gründen und ohne dass ich die Möglichkeit habe, ihr vernünftig zu widersprechen, aber dafür mit wechselnden Verweisen auf nicht näher erläuterte, abstrakte Regelverstöße, wenn ich mich durch den zugehörigen Formular-Dschungel hangle und um Klärung bitte.

Mein Foto- bzw. Projekt-Account @_intotheforest, der im wesentlichen aus reinen Naturfotos besteht, wurde in dem Zuge gleich mit „entsorgt“, als wäre es nicht der Rede wert, wenn man gleich zwei Accounts löscht oder ganz normal, gleich den Business-Account einer Person zusätzlich zu blocken.

Ein Schuldspruch ohne Begründung, ohne Richter und ohne menschliche Ansprechpartner

Bis heute kann und konnte ich nicht genau herausfinden, was mir eigentlich vorgeworfen wird bzw. was ich falsch gemacht haben könnte, um es zu aufzulösen oder zu korrigieren, auch einen menschlichen Ansprechpartner zu der Geschichte habe ich trotz zahlreicher Kontaktversuche und Hilferufe an @TwitterDE und @Twittersupport bis heute nicht.

Twitter ist für mich komplett unerreichbar und präsentiert sich als gesichtsloser Konzern — außer über ein sperriges Appeal-Formular, das einige Tage später eine von außen betrachtet automatisiert scheinende Antwort zurücksendet, kann ich keinen Kontakt aufnehmen. Auch diverse Tweets von Freunden und Bekannten über Twitter selbst zu dem Thema blieben ignoriert. Twitter schweigt bislang eisern oder nimmt meinen Protest vielleicht auch gar nicht war (ich bin möglicherweise nicht „prominent“ genug, um überhaupt auf dem Radar zu erscheinen) und hält meine Accounts und meine Kontakte, meine Texte, meine Fotos weiterhin weggesperrt. Zehn Jahre Arbeit in die Tonne.

Der ganze Vorgang wirkt auf mich sehr kafkaesk, aber auch wie reine Willkür von Seiten der Plattform Twitter.

Mein Account, wie er von außen jetzt aussieht.

Spurensuche nach den Gründen

Was aber könnte ich denn nun eigentlich „verbrochen“ haben? Warum löscht Twitter plötzlich und ohne Warnung ein hochaktives und vernetztes Mitglied der Community, das seit Jahren auf der Plattform aktiv ist?

Ich habe auf verschiedenen Wegen versucht, das herauszufinden, unter anderem Widerspruch gegen die Sperrungen eingelegt, aber auch noch einmal den kompletten Ablauf der Geschichte genau durchdacht und überlegt, welche meiner Tweets vielleicht problematisch gewesen sein könnten auf Basis der verschiedenen, abstrakten Regelverweise und sonstigen Hinweise, die ich (auch von Bekannten — auf diesen Wege nochmal Danke dafür) bekommen habe. Das Ergebnis dieser Überlegungen und Recherchen lässt leider viele, viele Fragen offen.

Die Algorithmustheorie und der Spam

Die ganze Geschichte fing damit an, dass mein (relativ neuer) Photoprojekt-Account @_intotheforest plötzlich „eingeschränkt“ war. Eine Meldung informierte mich darüber, dass der Account angeblich „verdächtiges automatisiertes Verhalten“ aufzeige und ich nun eine Telefon-Nummer angeben sollte, um den Account wieder zu „entsperren“ (was ich getan habe). Kaum eine Stunde danach folgte dann die komplette Sperrung meiner beider Accounts.

Habe ich also „automatisiertes Verhalten“ gezeigt? Was bedeutet das überhaupt? Vermutlich handelt es sich bei der Sperre für “automatisiertes Verhalten” um eine technische Sicherheitsmassnahme gegen Spammer und Bots auf Twitter. Wer zu aktiv ist oder zu viele Interaktionen hat, gerade als neuer Account, wird erst einmal auf „verdächtig“ gestellt und muss sich erklären. Grundsätzlich ist das kein Fehler, Twitter ist tatsächlich voll mit Spambots und Maßnahmen gegen diese sind zu begrüßen. Problematisch wird es dann, wenn Algorithmen selbstständig Accounts weglöschen, die eigentlich nicht darunter fallen.

Mein Foto-Account @_intotheforest hat sehr viele Likes bekommen, direkt von Anfang an und relativ viele Follower. Das war möglicherweise verdächtig. Natürlich habe ich von meinem Facebook-Account und von meinem Hauptaccount auf das Projekt verwiesen. Ist das „automatisiert“? Ich habe alles händisch gepostet. Hat ein Algorithmus hier zugeschlagen und mir den Account automatisch gelöscht und alle damit verknüpften Accounts gleich mit?

Das war meine erste Theorie. Oder so bin ich zumindest in die Mühlen dieser Geschichte geraten. Doch das Absurditätslevel sollte in den kommenden Wochen noch deutlich höher werden.

Der Hinweis auf “promoted Violence”

Ich habe in den folgenden Tagen (und nachdem ich das Formular überhaupt erst entdecken konnte, denn es ist gut versteckt) Widerspruch gegen die Sperrung eingelegt, bezüglich meines Hauptaccounts @noemata. Es war ja auch alles nur ein Irrtum und ein eindeutiges Missverständnis, so zumindest dachte ich. Das Ganze würde sich schnell klären und aus der Welt räumen lassen.

Umso merkwürdiger wurde es, als die Tage und Wochen vergingen, ohne dass ich eine Antwort von Twitter bekam. Es dauerte schließlich deutlich mehr als zwei Wochen, bis mein “Appeal” gegen die Sperrung überhaupt bearbeitet wurde — und die Antwort, als sie endlich kam, war lediglich eine kurze, scheinbar teilautomatisierte Notiz in zwei Sätzen, die überhaupt nicht auf meinen relativ ausführlichen Appeal einging (in dem ich natürlich gegen die Behauptung argumentiert hatte, ich würde “automatisiertes Verhalten” zeigen): Nun hieß es, mein Account würde “violence promoten” und wäre deswegen gesperrt worden. Keine näheren Erklärungen, keine Hinweise, keine weiteren Kontaktmöglichkeiten.

Ich fiel aus den Wolken. Nachdem gerade noch von automatisiertem Verhalten die Rede gewesen war, etwas, das sich leicht aufklären lässt, wurde ich nun per Erlaß von einer anonymen Instanz ohne weitere Begründung und ohne Verteidigungsmöglichkeit zum Gewalttäter erklärt (“we have determined”).

Ausgerechnet ich, ein komplett harmloser, relativ unpolitischer Account mit echtem Namen und vollständiger Identität, der vorwiegend literarisch und einzelgängerisch vor sich hinschreibt und sich nur sehr selten in Debatten und Streitigkeiten einmischt, wurde plötzlich zum Hasstwitterer erklärt, der sperrwürdig ist? Kann das wirklich wahr sein, wenn zur gleichen Zeit auf Twitter permanent tausende anonyme Nazi-, Trollaccounts und Sifftwitterer weiter unbehelligt ihr Unwesen treiben und User belästigen? Es kann offenbar.

Mir wurde ziemlich schnell klar, dass das Ganze nun deutlich komplizierter werden würde. Wie genau sollte ich mich nun verteidigen (vorausgesetzt, ich würde überhaupt einen Weg finden, Twitter zu kontaktieren, außer über irgendwelche versteckten Formulare, die an Hilfs-Praktikanten weitergeleitet werden, die in Großraumbüros den ganzen Tag mit jeweils ein paar Klicks solche Fälle am Fließband bearbeiten)? Ich habe insgesamt zweiundzwanzigtausend (!!) Tweets in allen Lebenslagen und Situationen geschrieben und meine Tweets sind sehr oft mehrdeutig, selbstironisch, sarkastisch und doppelsinnig. Ich weiß nicht, welche meiner Tweets von Twitter warum als “violent” eingestuft wurden, denn darauf habe ich keinerlei Hinweis bekommen. Soll ich mich nun an alle meine 22.000 Tweets erinnern und jeden einzelnen mit dem jeweiligen Kontext und der Situation, in der der Tweet entstanden ist, erläutern? Ein komplett unmögliches Unterfangen.

Oder doch nicht näher definiertes „abusive Behaviour“?

Vollends absurd würde mein Fall dann in der letzten Woche: Nachdem ich mich zum zweiten Mal durch den Formular-Dschungel gehangelt hatte, dieses Mal bezüglich @_intotheforest, bekam ich wenige Tage später die Auskunft, dass der Account die Regeln gegen „managing multiple accounts for abusive behaviour“ verletze. Zur deutlichen Klarheit: Wir reden an dieser Stelle von einem Account, der ausschließlich Fotos aus dem Wald veröffentlichte.

Ich hatte nun also nicht mehr nur einen, sondern gleich zwei „abusive“ Accounts, die außerdem automatisiert Spam verschicken und Gewalt verherrlichen? Mehr noch: Die Accounts wurden laut dieser Formulierung eigens für den Zweck kreiert, nicht näher definierten “Missbrauch” zu betreiben? Ich verstand an diesem Punkt längst nicht mehr, was hier eigentlich passiert.

Dreimal wurde mir in den letzten Wochen von Twitter auf unterschiedlichen Wegen abstrakt gesagt, dass ich gegen irgendwelche Regeln verstoßen hatte, dreimal wurden völlig unterschiedliche Begründungen herangezogen, die Vergehen wurden niemals näher benannt und mir wurde auch keine Option angeboten, aus Twitters Sicht “problematische” Tweets wieder zu entfernen oder Regelbrüche zu unterlassen. Nichts dergleichen geschah, obwohl die Twitter-Regeln, die ich inzwischen komplett gelesen habe (ohne dass es mich schlauer gemacht hätte bezüglich meiner Vergehen), ausdrücklich betonen, dass Accounts erst bei “multiple violations” gesperrt würden. Bei mir war es anders, ich scheine irgendwie unter die Räder geraten zu sein, ohne da wieder herauszukommen. Mein Account war und blieb gesperrt, die Auskunft blieb gleich Null.

Ich bin seither gefangen in einer Schleife, in der ich immer neue, immer absurdere Begründungen kommen. Mein Photoaccount wurde gesperrt, weil der Inhaber Inhaber eines anderen gesperrten Accounts ist, der aus anderen abstrakten Gründen gesperrt wurde. Gesperrt wegen Gesperrt. Und deswegen auch abusive. Klar, oder?

Mein tatsächliches Vergehen: Nonkonformismus.

Die Wahrheit ist vermutlich: Mein (Haupt-)Account passt in keine eindeutige Schublade, was am Ende nicht nur der Grund ist, warum er gelöscht wurde, sondern auch der Grund dafür, dass ich keine Möglichkeit habe, irgendwie breitere Unterstützung außer von ein paar anderen eingeschworenen Langzeit-Twitterern zu erfahren.

Klar hat @noemata regelmäßig abseitige Witze gemacht, sehr surreale sogar. Und obendrauf viele groteske Tweets geschrieben, die gar nicht lustig waren. Natürlich habe ich schwarzen Humor und wirklich seltsame Sachen verfasst. Und für jeden meiner Follower offenkundig war das meiste davon literarisch und nicht wörtlich zu verstehen. Ich habe Lieder über Leichen mit musiktheoretisch passenden Akkordfolgen innerhalb von Tweets komponiert und die Lieder aufgenommen (Birnbaum!), ich habe geschrieben, dass ich geträumt hatte, als Hitler aufzuwachen und es nicht zu merken, ich habe Obstsorten rezensiert, ich habe ironisch geschrieben, dass junge Männer sich lieber umbringen sollten, bevor sie weiße, alte Männer werden, ich habe aus der Perspektive von Gespenstern und Toten getwittert, eklige Insekten photographiert, ich habe sicher auch mal Nazis Krankheiten gewünscht und mich mit Trollen angelegt, Naturlyrik geschrieben, oft betont, wie sehr ich den Film Avatar hasse (sehr!), mich über viele Internet-”Experten” lustig gemacht, mich überhaupt über Vieles lustig gemacht inklusive mir selbst, meine Alpträume dokumentiert und tausende andere Absonderlichkeiten, ich habe kurz gesagt neben vielen anderen Tweets auch wirklich VIELE merkwürdige Tweets geschrieben.

Ich stehe nicht nur dazu, seltsame Tweets geschrieben zu haben, ich stehe dahinter. Mein ganzer Account beruht darauf, seltsam zu sein, das bin ich und das ist meine Persönlichkeit. Ich verstehe mich und mein Schreiben schon immer und ausdrücklich als Kunst und Literatur und erwarte schon, dass man für meine Texte mit zwei Gehirnzellen wenigstens mal halb um die Ecke denkt. Derartige Subtilität geht allerdings höchstwahrscheinlich an einem Internetdienst für Kurznachrichten und seinen Mitarbeitern, dessen User oft eher Selbstdarstellung betreiben oder Schwarz-Weiß-Meinungen raushauen, weit vorbei.

Ich kann mir leider viel zu gut vorstellen, wie ein amerikanischer Praktikant ratlos vor meinen Tweets sitzt und innerhalb weniger Minuten entscheiden muss (und mehr Zeit haben Supportmitarbeiter für sowas nicht), ob mein Account ok ist oder ob ich doch gelöscht werden sollte, weil das nicht den Regeln entspricht. Vermutlich hat er mich vorsorglich mal gelöscht. Es sitzen ja schon genug deutsch sprechende User ratlos vor meinen Tweets. Selbst ich sitze oft ratlos vor meinen Tweets.

Je länger ich gesperrt bin, desto mehr glaube ich, dass mein Account halt einfach etwas zu exzentrisch war für eine Internetplattform, deren Korridor für zulässige Meinungsäußerungen nach sich ständig ändernden, internen Regeln immer kleiner wird. Mein Vergehen ist wahrscheinlich Nonkonformismus und seltsamer Humor, der auf Abuse-Mitarbeiter traf, die irgendwelche Checklisten abarbeiten von Accounts, die bestimmte Wörter verwenden. Es muss entweder das sein oder irgendjemand bei @TwitterDE kann mich partout persönlich nicht leiden. Alle anderen Erklärungen scheiden aus. Mein Account ist offensichtlich meistens neutral, hält sich aus Debatten raus, ist schon gar nicht gewalttätig und auch sonst ziemlich harmlos.

Umso schlimmer ist es, dass ich bei Twitter niemanden persönlich erreichen kann, dass es für mich keinen menschlichen Ansprechpartner gibt, keine Kontaktmöglichkeiten. Es gibt nur das Formular, das in einem Satz eine vorformulierte Antwort zurückwirft, die irgendjemand irgendwo angeklickt hat: Automatisiertes Verhalten, Violence, Abusive Behaviour.

Was ich daraus lernen muss.

Ich sehe inzwischen ein, dass ich in den letzten Jahren (vor allem nach 2015) einen großen Fehler gemacht habe: Der Fehler war, vor allem und mehr und mehr schwerpunktmäßig auf eine einzelne Plattform zu setzen, was mein Schreiben, meine Fotografie und meine ganze Internetaktivität angeht, nämlich Twitter.

Ich habe ich mich mit meiner hohen Aktivität auf dieser Plattform extrem von ihr abhängig gemacht. Ich habe mich auf Twitter zehn Jahre um originelle Inhalte bemüht, versucht, interessante Sachen zu machen, an der Formulierung jedes einzelnen Tweets stundenlang gefeilt, statt auf Twitter vor allem das zu verlinken, was sie ich anderswo produziere. Die Quittung für diese Dummheit bekomme ich jetzt. Ich hätte diese Energie dringend in mein eigenes Blog oder eigene Plattformen investieren sollen, statt meine Inhalte auf den Server eines gesichtslosen, amerikanischen Konzerns hochzuladen.

Twitter war mein Notizbuch, mein Schreibort, meine Ablage für Gedanken und sogar für Fotos aus dem Alltag. Ich habe auf Twitter sehr, sehr viel gemacht und sehr persönliche Dinge geteilt, mir persönlich wichtige Kurztexte geschrieben, sogar kleinere Kunstprojekte direkt in Twitter-Threads gemacht. Jeden Tag. All das wurde mir von einem Moment auf den anderen nicht nur gelöscht, sondern mir wurde auch meine öffentliche Stimme genommen, der Kanal, über den ich mich als Künstler und politisch geäußert habe. Ich komme mir zensiert vor, von einer Maschine halbautomatisch aussortiert. Willkommen in der Zukunft.

Und was nun?

Was kann ich nun noch tun? Leider offenbar nur wenig, abgesehen davon, diesen Artikel zu schreiben und zu hoffen, dass ihn ein paar Leute lesen oder verlinken oder ein paar mehr Leute @TwitterDE oder @twittersupport anschreiben und auf meinen Fall verweisen. Dranbleiben werde ich an der Geschichte in jedem Fall, vielleicht finde ich ja noch den ein oder anderen Ansatzpunkt — vielleicht auch über einen Leser — ich bin unter anderem hier und per Facebook erreichbar.

Noch habe ich Hoffnung, dass irgendjemand bei Twitter den Fehler erkennt oder dass plötzlich doch noch ein paar prominentere Accounts sich für mich aussprechen, aber bis da hin: Danke, dass Du zehn Jahre meiner Arbeit, Fotos und Notizen kommentarlos depubliziert und gelöscht hast, Twitter. Das werde ich nicht vergessen.

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Sebastian Baumer

Text, Voodoo und Photographie. Frag @noemata auf Twitter per Reply oder DM.