Notizen zur Einordnung der Forderungen von „Seebrücke“

  1. Der Ausgangspunkt: Sterben im Mittelmeer und Kriminalisierung von Solidarität.

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit Tausender von Menschen, die internationalen Seenotrettungsgesetze, die Pflicht zur Hilfeleistung, die UN-Charta der Menschenrechte, die Genfer Konventionen wurden durch EU-Staaten gebrochen, Solidaritätsinitiativen wie die zivile Seenotrettung kriminalisiert. Die Folge davon: Eine steigende Anzahl von Toten im Mittelmeer.

Deutschland- und europaweit hat sich in Reaktion darauf eine Bewegung gebildet, die die Forderung nach sicheren Einreisewegen und offenen Grenzen stellt und sich mit den Hilfsorganisationen solidarisiert.

Das ist äußerst erfreulich. Allerdings scheint es notwendig, dass diese Bewegung eine dezidiertere Stoßrichtung gewinnt.

2. Der unmittelbare Kontext: Rechtsruck und Instrumentalisierung der Migrationsthematik für Machtkämpfe

Diese Bewegung reagiert dabei unmittelbar auch auf Entwicklungen der Politik, die mit dem allgemeinen Rechtsruck in den EU-Staaten einhergehen. Sie will der gegenwärtigen Diskurshoheit der Rechten in die Quere kommen.

Rechte Kräfte stilisieren die Migrationsfrage zu einer Bedrohung für die soziale Ordnung: in der öffentlichen Debatte scheint es, als gäbe es nichts Dringenderes zu diskutieren. Die unbestimmte und gefährliche Figur des Migranten ist wahrscheinlich eine der stärksten Repräsentationen, die in der politischen Kommunikation der letzten Jahrzenten konstruiert wurden — während Migrant*innen in der Wirklichkeit keinen Zugang zum Raum der Politik haben, ist deren Repräsentation allgegenwärtig. Die neuen rechten Akteure öffnen sich durch die geschürte Angst eine Marktlücke und können sich als finale Löser des „Problems“ inszenieren. Die Antworten, die dabei gegeben werden, sind repressiver und polizeilicher Natur: abschotten, abschieben, kriminalisieren. (Auch) dadurch schaffen es neue rechte Gruppierungen, deutlich an Macht zu gewinnen. Wo sie an die Macht gekommen sind (Österreich, Italien, Ungarn), dient die Dämonisierung von Migrant*innen dazu, von anderen Aufgaben und ihrem Versagen abzulenken, wenn nicht von jeglichem Erfolgsnachweis in anderen Bereichen zu entbinden. Nebenbei dient die Dämonisierung von Migrant*innen als Prämisse um nationalistische, chauvinistische und völkische Ideologien zu reaktivieren, die die neuen rechten Parteien als Fachexperten bedienen und die schließlich auf Rassismus hinauslaufen.

Und doch wird den Rechten hinterhergerannt. Das Ergebnis ist eine Stärkung der Position der Rechtsextremen. So formulieren Pichl und Buckl: „Die aktuell beschlossenen Maßnahmen […] reihen sich aber doch in die Logik der Lager ein. Vor allem aber konstituiert das politische Grenzspektakel der vergangenen Wochen die Figur der „Anderen“, die interniert werden müssen, rechtlos sind und deren Leben nicht zählt. Dieser diskursive Rechtsruck dürfte nachhaltige Auswirkungen auf die europäischen Gesellschaften haben und die extreme Rechte auf lange Sicht stärken. Denn eine Politik, die rhetorisch auf Abwertung und Entmenschlichung setzt, verändert die Grundlagen des alltäglichen Zusammenlebens und wird den Rassismus in der EU verstärken.“[1]

Demgegenüber gilt es erstmal klarzustellen, dass es keine sonderliche Emergenzsituation für die europäischen Staaten gibt. 85 % der Menschen auf der Flucht erreichen sogenannte „Entwicklungsländer“ — es kommt nicht „die ganze Welt“ nach Europa; die Anzahl der ankommenden Menschen könnte bei entsprechender Organisation problemlos im bestehenden sozialen System integriert werden und würde — aus der Perspektive der gegebenen Gesellschaft — langfristig eine Ressource bilden. Engpässe sind selbstgemacht. Konflikte gewollt oder imaginiert.

3. Die Situation beim Namen nennen: Ein Massaker — aus rassistischen Gründen

Wenn es eine Krise gibt — dann ist es eine humanitäre Krise. Das Sterben im Mittelmeer nimmt die Dimensionen eines Genozids an. “Das ist ein starkes Wort, aber wie soll man denn sonst die Beseitigung von tausenden Individuen auf rassistischer Grundlage bezeichnen, die hier in Kauf genommen, vorausgesehen und schließlich doch durch Unterlassung organisiert wird?“.[2] Da die Gründe, weshalb Menschen sich in die Gefahr der Flucht begeben müssen, eng mit dem Reichtum und dem Erfolg unserer Staaten verbunden sind, ist dieses Sterben nicht nur einer verweigerten Hilfeleistung geschuldet. Es ist ein aktives „Sterbenlassen“. Die Legitimation dieses Sterbenlassens gründet auf einer Grenzziehung, einer „Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss“ (Foucault), die Rassismus genannt werden kann.[3]

Dabei handelt es sich „einen schleichenden Genozid, der nicht in einem abgeschlossenen Territorium stattfindet, sondern in dem Grenzraum zwischen den Staaten“.[4] Da diese Grenze im Meer verläuft, ist sie und ihre Konsequenz weniger sichtbar und die Verantwortung für das Sterben kann nicht einem bestimmten Staat zugeschrieben werden.

Würde nicht für Aufmerksamkeit durch Aktivist*innen gesorgt, würde die Tragödie unbeachtet bleiben.

4. Menschenrechte über Bord, Menschenrechte immer prekär. Menschenrecht als Programm und Leitbild

Dass diese Lage hingenommen wird, bedeutet eine Krise der humanistischen Werte und Prinzipien, auf die sich unsere liberalen Demokratien berufen, und die im Begriff des universalen Menschenrechts ihren Kern haben.

a) Zum einen situiert sich diese Krise im Rahmen des Rechtsruckes. „Wir erleben gerade offene Angriffe auf Gleichheit und Freiheit, wie lange nicht. Diese Grundprinzipien der Menschenrechte werden […] angegriffen von Rechtspopulisten in Europa, die einen radikalen Rückfall in einen Nationalismus propagieren, der Rechte nur für Bürger kennt. Aber sie werden auch von staatlichen Notstandsregimen attackiert.

Gegenüber diesem Ansturm muss [man] den erreichten Stand des Menschenrechtsschutzes verteidigen“.[5]

b) Die Krise der Menschenrechte macht aber letztendlich deutlich, dass in unseren Staaten und in dieser Gesellschaftsordnung Menschenrecht, Gleichheit, Freiheit — gar Menschenleben — nur bedingt gesichert werden können. Genauer: Dass unsere Gesellschaften dem Menschenrecht auf vielfacher Weise widersprechen, und strukturelle Ausbeutung und Rassismus nicht nur in Kauf nehmen, sondern auf diesen aufbauen.

- Es gibt zum einen eine Spannung zwischen der Idee der Menschenrechte und dem Nationalstaat. Der moderne Nationalstaat soll die Menschenrechte verwirklichen, tut dies aber in der Form der Bürgerrechte und widerspricht damit dem konstitutiven Universalismus der Menschenrechte. „In der Figur des Flüchtlings kommt diese Spannung am deutlichsten zum Ausdruck“. [6]

- Zum essentiellen Zweck der Nationalstaaten gehört es, für die bestmöglichen Bedingungen für die Kapitalakkumulation auf ihrem Territorium zu sorgen. Das ist gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sie etwa als Rechts- und Sozialstaat funktionieren. Alles andere — also auch die Verwirklichung von Menschenrecht — ist diesem Zweck subordiniert und von diesem Zweck abhängig — für diesen Zweck opferbar. Wohlwollend gesagt, sind die liberalen Nationalstaaten selbstwidersprüchliche Formationen, die ihren eigenen Prämissen widersprechen müssen.

Gleichzeitig situiert sich die Kriminalisierung von Solidaritätspraxen (und mit Blick etwa auf Bayern auch der Solidaritätsbekundungen) im Rahmen einer immer offeneren autoritären Umformung der liberalen Demokratien, die meistens im Namen der „Sicherheit“ vorangetrieben wird und eine Einschränkung der Rechte zum Inhalt hat. Viele Formen des politischen Ausdrucks der Zivilgesellschaft werden präventiv unterbunden oder unter Verdacht gestellt. Der status quo darf nicht angefochten werden. Im Sicherheitsstaat sind die Bürger*innen immer weniger als politische Subjekte zugelassen. Damit wird schon das selbstverständliche, Solidarität, zum potentiell subversiven Akt. Wichtig ist zu beobachten: Es gibt eine Gemeinschaft zwischen der Vorenthaltung von Rechten gegenüber Migrant*innen und dem Abbau der Freiheitsrechte.

Es folgt: Strikt genommen kann die Universalität der Menschenrechte nicht in einer Welt der Nationalstaaten und der kapitalistischen Verwertung geachtet werden. „An die Menschlichkeit der EU zu appellieren und ihre ideologischen Widersprüche aufzuzeigen, kann als kurzfristige Taktik funktionieren und legitim sein, eine weiterführende Strategie stellt es jedoch nicht dar. Eine wirklich universalistische humanistische Bewegung kann und darf sich also nicht auf die Forderung nach sicheren Flucht- und Migrationswegen in „den Westen“ beschränken.“[7]

Deshalb heißt an der Logik der Menschenrechte festzuhalten, zu wissen, dass diese nicht mit der moralischen Forderung ausreichend gesichert sind. Im Gegenteil: Die bloße Forderung kann zur Legitimierung ihr widersprechender Verhältnisse dienen. Es ist wohl kein Zufall, dass ein gewisser Humanitarismus („Willkommenskultur“) die neoliberale governance von Migrationen begleitet und flankiert. Der Universalismus der Menschenrechte wird häufig von jeglichem konkreten Inhalt getrennt, man begnügt sich mit der formalen Behauptung — man empört sich angesichts der formalen Leugnung. Vor allem: ein verkürzter Bezug auf Menschenrechte blendet die gesellschaftlichen Strukturen aus und leitet eine Fetischisierung des Status quo ein. Das Risiko besteht darin, dass eine „humanitäre“ Logik eine politische Logik mit einer bloß moralischen ersetzt: Dann geht es nicht mehr um Kampf für die Bestimmung und Verwirklichung von Rechten, für Gerechtigkeit, gegen Ausbeutung und Unterdrückung — sondern um Mitleid, Empörung, Solidarität.

Vielmehr soll die Idee universaler Menschenrechte als operative Leitidee dienen, die eine Aufgabe benennt und einen Bruch mit den bestehenden Verhältnissen einfordert, sofern diese Menschenrecht für alle verletzen. Die Maxime, nach der alle Menschen frei und gleich an Würde und an Rechten geboren sind, verlangt, dass alle Privilegien, die auf zufälligen oder ethisch irrelevanten Eigenschaften basieren, abgeschafft werden. Sie entlarvt die scheinbare Selbstverständlichkeit von Migrationskontrollen als eine weitere, willkürliche und nicht zu rechtfertigende Hierarchisierung von Menschen.

5. Analyse und Kritik der globalen Verhältnisse als notwendiger Schritt

Es ist kohärent, wenn der moralisch-humanistische Appell mit einer luziden Analyse der bestehenden Verhältnisse und mit einem weitergreifenden politisch-emanzipatorischen Ansatz verbunden wird. (Andernfalls bleibt der Vorwurf des Idealismus durch rechte „Pragmatiker“ nicht gänzlich unberechtigt).

Diese Analyse „soll die Prozesse der Flucht und Migration sowie deren politische Regulationen konsequent als ›systemische‹ Fragen kapitalistischer und rassistischer Reproduktionsverhältnisse“ interpretieren. [8] Migrationen und Grenzregime werden in eine weitreichende Gesellschaftsanalyse eingeordnet.

a) Zuerst stellt sich die Frage nach den Fluchtursachen. Bestimmte Wirtschaftspolitiken (land grabbing, Freihandel, Waffenexporte u.a.) und die damit verbundenen Kriege und ökologischen Katastrophen tragen direkt dazu bei, dass Menschen sich zum Weggehen entscheiden (müssen).[9]

b) Diese Politiken dürfen nicht isoliert von ihrem systemischen Kontext betrachtet werden. Sie sind Weisen, in denen auf die dauerhafte Überakkumulationskrise reagiert wird und das Ausbrechen einer zerstörenden Krise in den Länder des „Nordens“ abgewehrt wird. „Würde man der kapitalistischen Weltwirtschaft heute all jene Verwertungsmöglichkeiten entziehen, die mittelbar Fluchtursachen produzieren, würde dies die strukturelle Krise der gegenwärtigen Formation dramatisch verschärfen.“ [10] (Gleichzeitig wäre zu bedenken, dass die kapitalistische Wirtschaft immer eines „Außen“ bedarf, wo ursprüngliche Akkumulation und Extraktion stattfindet und das als Absatzmarkt dient. Dieses Außen ist stets notwendig, um auf Krisen zu reagieren, als „Ort“ in dem die Konsequenzen der Krisen verlagert werden und die Mittel gewonnen werden, um die Wirtschaft wieder in Gang zu setzen: Um neue Umgebung sich als Kapital und Produktionsmittel anzueignen. Bei einer gänzlichen geographischen Durchdringung der Welt, kann diese Reaktion nur in Form einer besonderen Intensivierung der In-Wert-Setzung von Regionen und Subjekten geschehen. Die Minimalform davon ist die der Enteignung: Von Mitteln, von öffentlich zugänglichen Ressourcen, von Umwelt, von Subjektivität. Kurz: Als instabiles System braucht der global gewordene Kapitalismus stets Bereiche, die er „verheizen“ kann, um sich in Gang zu halten).

c) Dem entspricht die Abschottung der reichen Nationen, die dieses ihr notwendiges „Außen“ von sich fern halten müssen. „Die Kosten, Risiken und negativen Folgen des globalen Kapitalismus gehören nach europäischem Verständnis in die globale Peripherie“. Eingerichtet wird ein „System ›globaler Apartheid‹“. Die meisten Menschen sollen in ihren Ursprungsländern verbannt bleiben, es sei denn, ihre Bewegung wird als nützlich eingestuft. Diese soll dann aber auf schärfste reguliert und kontrolliert werden. Es soll verhindert werden, „dass scheiternde und ungleiche Akkumulation und damit verbundene soziale Krisen und Kriege aus peripheren Räumen in den globalen Norden ›überschwappen‹.“

d) „Migrationskontrollen haben also den Effekt, periphere Bevölkerungen zu entmachten, ihre Stellung in den nationalen und internationalen Kräfteverhältnissen massiv zu schwächen — und so ihren subalternen Status zu verewigen.“

e) Gleichzeitig speist sich aus diesen Verhältnissen auch die Strategie von AfD&Co., die konsequent die deutsche Bevölkerung als „Teil eines nationalen Klassenbündnisses, das seinen Angehörigen in Gestalt von Lohnniveau, Infrastruktur und Sozialstaat materielle Vorteile bietet„ betrachtet. Angesichts der Bedrohung/Abschaffung des Sozialstaates, die im neoliberalen Paradigma waltet, wird die nationale Zugehörigkeit zur relativen Absicherung vor sozialem Abstieg erhoben und eine Parteinahme der niedrigeren Klassen für den nationalen wirtschaftlichen Erfolg befördert.

6. Offene Grenzen als unverhandelbare Maxime für emanzipatorische Politik und als Strategie.

Aus diesem Zusammenhang speist sich die „›tiefe Hegemonie von Grenzen‹.“ So wie Staaten werden Grenzen als selbstverständlich betrachtet und als notwendig zur Sicherung des Wohlstandes. Gerade deshalb ist die Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit „nicht nur ethisch geboten, sondern strategisch notwendig“. Sie stellt mit dem gegenwärtigen Grenzregime auch die globalen Verhältnisse in Frage, die dieses Grenzregime verlangen. „Offene Grenzen“ weisen schließlich auf eine Aufhebung der Grenzen hin und auf eine wirtschaftlich-soziale Ordnung, die keiner Grenzen bedarf.

Dabei soll konsequent eine internationalistische Perspektive eingenommen werden, die das Grenzregime als Bestandteil der ›Regulationsweise‹ kapitalistischer Formation begreift, als Instrument um jene Ordnung zu stabilisieren, „die für die große Mehrheit der Menschen — und zwar sowohl im Globalen Süden als auch im Norden — zunehmend negative Konsequenzen hat“.

Es sollte darum gehen, gemeinsame Kämpfe an unterschiedlichen Orten gegen die Absicherungsstrategien dieser Ordnung, die gerade die Gestalt des Neoliberalismus annehmen, anzugehen.

Der Rückzug auf soziale Kämpfe auf nationaler Ebene (wie es neue Rechte aber auch wichtige Teile der Linke fordern) bietet langfristig keine Strategie. Nicht nur verzichtet es auf eine Kritik der Gesamtverhältnisse und deren Krisenhaftigkeit, sondern wäre auf der Länge nicht tragbar.

Die Kämpfe für Arbeiter*innenrechte und Migrant*innenrechte müssten konsequent gemeinsam betrachtet werden. Ist es nicht die Erpressung durch das Grenzregime, die Migrant*innen zu potentiellen Mittel zur Lohnsenkung macht, sofern ihr Aufenthalt an eine Arbeit gebunden ist? Sind es nicht die neoliberalen Austeritätspolitiken, die öffentliche Unterstützung von Geflüchteten zur eventuellen Überforderung öffentlicher Strukturen macht? Sind es nicht dieselben Austeritätspolitiken, die den Sozialstaat gefährden — und nicht Migrant*innen? Ist es nicht die neoliberale Umformung der Arbeit, die Prekarisierung vorantreibt?

7. Das politische Subjektsein von Migrant*innen — Autonomie der Migration und migrantische Selbstorganisation.

Aus diesen Analysen ergibt sich auch: Migrant*innen sollen als Subjekte verstanden werden: Als Subjekte ihrer Migration, als Subjekte politischer Handlungen.

Eine der Ambiguitäten eines bloß humanitären Ansatzes besteht auch darin, dass sie Migrant*innen als Subjekte leugnet und nur als Opfer (Wovon? Eines Schicksales?) betrachtet. Als solche brauchen sie Hilfe und Zuwendung, eventuell Repräsentanz. Als solche können Sie auch leicht in den hiesigen Verwertungslogiken eingeführt werden, ohne allerlei Widerstand. Die „Akkumulation durch Enteignung“, von der bereits die Rede war, vollzieht sich hier als Enteignung der Subjekthaftigkeit von Migrant*innen.

Davon hängt nichts weniger ab, als die Verbindung des Kampfes für Menschenrecht und des Kampfes für eine soziale Transformation: „Nur ein Verständnis von Migration als eigensinniger sozialer Bewegung, die maßgeblich auf strukturelle Widersprüche und politische Dynamiken eines globalen Kapitalismus reagiert, macht es möglich, den Kampf gegen die Unmenschlichkeit von Grenzen nicht isoliert zu betrachten, sondern zu verstehen, dass er erfolgreich letztlich nur als Teilkonflikt einer tiefer greifenden gesellschaftlichen Transformation geführt werden kann.“ [11]

Migrant*innen, die sich in Bewegung setzen, das Grenzregime herausfordern, den Schikanen des Asylsystems sich aussetzen, bilden ipso facto einen Störfaktor für die Selbstverständlichkeit dieser Grenzordnung und stellen sie unmittelbar in Frage.

Indem sie sich in „unserem“ Raum präsent machen, offenbaren sie den Ausschlusscharakter unserer Gesellschaften — und deren Verbrechen am Universalismus, auf den sie meinen sich zu berufen um sich zu legitimieren. Sie zeigen, dass die Aufteilung dieser Welt Milliarden zur Anteillosigkeit zwingt — und fordern implizit eine andere Aufteilung. Sie zeigen die Begrenztheit unserer liberalen Demokratien in ihrem vermeintlichen universalistischen Anspruch, in ihrer Behauptung, die höchste politische Form darzustellen. Die rassistische Narration von Migration, die gerade en vogue ist, ist ein Versuch auf diese Demaskierung zu reagieren. Das, was vorher ausgeschlossen und unsichtbar gemacht wurde und nun sichtbar wird — wird nun dämonisiert, um einen aktiven Ausschluss zu rechtfertigen. Immer schwingt mit: Wir sind die Zivilisierten — sie die Barbaren. Darin werfen unsere demokratischen Staaten ihre Maske weg: sie haben schon immer auf Ausschluss und Ausbeutung basiert.

Migrant*innen zeigen aber auch, dass „die Produktion von Illegalität — dazu bestimmt, zum Spielball politischer Manipulationen zu werden –, nicht ohne ständige Beeinträchtigungen der bürgerlichen Rechte […] sowie nicht ohne ständige Zugeständnisse an den Neofaschismus“[12] (nicht zuletzt: die Stärkung von polizeilicher Gewalt und Willkür) vor sich gehen kann — beides Gefahren, die auch uns angehen. Der Aufbau der Welt als Kontrolldispositiv geht alle an, sowie der Abbau von Recht und Demokratie.

Außerdem leiten Migrant*innen uns an, unserem „politischen Handeln jene transnationale Dimension zu verleihen, die wir für die Entwicklung von Perspektiven sozialen Wandels und eines neuen politischen Zusammenlebens in Zeiten der Globalisierung so sehr brauchen.“[13]

Deshalb will unsere Solidarität eine Solidarität auch mit den Migrant*innen als politische Subjekte sein. Wir wollen — für sie und für uns — Menschenrechte, Demokratie und eine Welt, in der diese möglich sind. Wir bieten ihnen gemeinsame Kämpfe an.

Wir haben von dieser Solidarität selber zu gewinnen. Nicht zuletzt, dass wir selber, im Globalen Norden, zu politischen Subjekten werden.

8. Was diese Bewegung sein könnte

Die Empörung gegen das hingenommene Sterben im Mittelmehr, gegen die Verletzung von Menschenrechten, gegen die Kriminalisierung von Solidarität ist unbedingt notwendig und gesund — muss aber zu mehr werden. Und das kann sie.

Sie kann zu einer Kritik jener Verhältnisse und Institutionen avancieren, die diese Situation hervorbringen, die Menschenrecht schließlich außer Kraft setzen und aktiv das Leben von Menschen bedrohen. Sie muss dafür die globalen wirtschaftlich-politischen Verhältnisse und Strukturen in Frage stellen und die Regulations- und Kontrollmechanismen kritisieren, die diese Verhältnisse aufrechterhalten.

Sie kann zu dem Punkt kommen, Migrant*innen als politische Subjekte zu erkennen, als mögliche Verbündete in emanzipatorischen Kämpfe, die eine neuen Sicht auf die Welt, die sich nichts vormacht, ermöglicht und uns von einer gewissen Trägheit erweckt.

Sie kann zu dem Punkt kommen, in Solidaritätsinitiativen politische Akte zu erkennen, die schon auf ein Neues hinarbeiten und einen Bruch vorantreiben. Die gegenwärtig laufende Kriminalisierung könnte zur Erkenntnis führen: In der gegebenen Ordnung ist Menschlichkeit ein Verbrechen — etwas stimmt mit dieser Ordnung nicht.

Sie kann zu dem Punkt kommen, zu erkennen, dass „das Menschenrecht“ nie gegeben ist, sondern gegen menschenverachtende Strukturen erkämpft werden muss.

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[1] Buckl/Pichl, Europa. Die Politik der Lager, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2018/august/europa-die-politik-der-lager).

[2] Etienne Balibar, Die Geschichte wird über uns urteilen, in: Der Freitag (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-geschichte-wird-ueber-uns-urteilen).

[3] Vgl. Remo Grolimund, Sterben lassen an den Grenzen Europas, In: Geschichte der Gegenwart (https://geschichtedergegenwart.ch/sterben-lassen-an-europas-kuesten/): „Wenn wir mit Foucault unter „Tötung“ ausdrück­lich nicht nur den direkten Mord verstehen, „sondern auch alle Formen des indi­rekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes auslie­fern, für bestimmte Leute das Todes­ri­siko erhöhen oder ganz einfach [die Verfü­gung des] poli­ti­schen Tods, der Vertrei­bung, Abschie­bung usw.“, dann morden unsere Gesell­schaften sogar zuhauf. Gerade jetzt. Europas Politik der Grenz­si­che­rung und Ober­grenzen liefert an seinen Rändern aber­tau­sende Flüch­tende einem massiv erhöhten Todes­ri­siko aus. Syri­sche Kinder ertrinken an Europas Küsten, weil ihren Fami­lien kein sicherer Landweg offen­steht, so dass sie statt­dessen in die Arme von Schlep­pern und auf über­füllte Schlauch­boote getrieben werden. Wer es geschafft hat, strandet im Schlamm von Idomeni: der Kälte, dem Regen, dem Hunger und — es ist nur eine Frage der Zeit — Seuchen ausge­lie­fert. Gegen von der Flucht erschöpfte Menschen reicht die passive Waffen­ge­walt der rasier­mes­ser­scharfen Klingen von Nato-Draht-Verbauungen. Die Legi­ti­ma­tion zum Ster­ben­lassen, die Kraft zum indi­rekten Mord können biopo­li­tisch orien­tierte Gesell­schaften laut Foucault nur finden und aufbringen, indem sie eine Grenze einführen: eine „Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss.“ Foucault nannte diese Zäsur zwischen dem, was leben soll, und dem, was sterben muss, beim Namen. Er nannte sie Rassismus.“

[4] Etienne Balibar, Die Geschichte wird über uns urteilen, in: Der Freitag (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-geschichte-wird-ueber-uns-urteilen).

[5] Vgl. Muggenthaler, Flucht in die Rechtlosigkeit. Menschenrechte zwischen moralischer Phrase und Kompass für politische Praxis. In: LuX 1/16 (https://www.zeitschrift-luxemburg.de/flucht-in-die-rechtlosigkeit/)

[6] Ebd.

[7] LCM,

[8] Vgl. für den ganzen Abschnitt: Fabian Georgi, Offene Grenzen als Utopie und Realpolitik. In Lux 1/16 (https://www.zeitschrift-luxemburg.de/offene-grenzen-als-utopie-und-realpolitik).

[9] Man sollte sich fragen mit dem LCM: „Was ist mit der Situation der arbeitslosen Jugend im Maghreb und der von Weltbank, IWF und Europa geförderten Privatisierungen dort? Was ist mit den Kriegen in Afghanistan, Syrien und Libyen und der Rolle Europas und seiner Verbündeten darin? Was ist mit den Milizen im Kongo, die dort lokale Terrorregime errichten, um Rohstoffe abzubauen und in Richtung Europa, USA und China zu verkaufen? Was ist mit dem Landraub in Sambia, bei dem lokale Kleinbäuer_innen zugunsten europäischer Großkonzerne zwangsenteignet werden? Mit EU-subventionierten Lebensmittelexporten, die andere Kleinbäuer_innen in Ghana ruiniert haben? Mit den industriellen Fischereiflotten auch aus Europa, die das Meer vor West-, Nord- und Ostafrika leer fischen? Oder der Entsorgung europäischen Sondermülls vor der Küste Somalias? Mit dem Süßwasser in Indien, das europäische Konzerne wie Nestlé privatisieren und so der lokalen Bevölkerung entziehen? Was mit der zunehmenden politischen, kulturellen und patriarchalen Unterdrückung und Verfolgung in der Türkei, einem der engsten Verbündeten Deutschlands außerhalb der „westlichen Sphäre“? Was ist mit den türkischen Panzern deutscher Produktion, die gerade durch Kurdistan rollen?“.

[10] Fabian Georgi, Offene Grenzen als Utopie und Realpolitik. In Lux 1/16 (https://www.zeitschrift-luxemburg.de/offene-grenzen-als-utopie-und-realpolitik).

[11] Fabian Georgi, Offene Grenzen als Utopie und Realpolitik. In Lux 1/16 (https://www.zeitschrift-luxemburg.de/offene-grenzen-als-utopie-und-realpolitik).

[12] Balibar, Was wir den Sens-Papiers verdanken, 1997.

[13] Balibar, Was wir den Sans-Papiers verdanken, 1997.

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