{not*lösung}
8 min readJul 17, 2018

[Unser Kommentar zum Motto vom 1.Mai 2018 des DGBs]

Solidarität. Vielfalt. Gerechtigkeit — Nicht in diesen Verhältnissen

Der DGB ruft zu einem 1. Mai der Gerechtigkeit, Vielfalt und Solidarität auf ohne die Verhältnisse in Frage zu stellen. In diesen Verhältnissen sind nur Karikaturen davon möglich.

.Solidarität

Von welcher Solidarität ist hier die Rede? Solidarität mit und unter wem?

Die Perspektive der Solidarität kann nicht die des eigenen Landes sein. Diese Solidarität endet früh oder spät damit, im Wachsen des Standorts ihr höchstes Gut zu entdecken: Das wirtschaftliche Wachstum wird zur Voraussetzung für die angestrebte Verbesserung der Arbeitsbedingungen (eventuell auch zum Preis einer angeblich momentanen Verschlechterung). Das ist es auch in der Tat in der gegebenen Ordnung der Sachen. Reformistische Politik, die keine Veränderung des Ganzen anstrebt, kann nicht anders als in Standort-kategorien denken. „Die heutige Gewerkschaft hat gelernt und anerkannt, dass Kapitalisten mit der Arbeit Gewinn machen müssen, weil es sonst keinen Lohn gibt. Deshalb tritt sie inzwischen offensiv für das nationale Wirtschaftswachstum ein. Für die heutige Gewerkschaft heißt solidarisch zusammenstehen: Ganz im Sinne der Standortkonkurrenz müssen sich die deutschen Arbeiter gegen andere Nationen […]“ (*). Ein Kampf für die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im eigenen Land riskiert immer, diese zum Nachteil der Arbeiter*innen in anderen Länder zu erlangen; eine Perspektive, die sich auf die Arbeiter*innen im eigenen Land ausrichtet, wird früher oder später sich fragen müssen, ob Migrant*innen doch nicht schädlich für die Interessen der Arbeiter*innen sein könnten, bzw., wie man aus ihnen Profit für den Standort schlagen kann. Diese Logik muss früher oder später (in der deutschen Geschichte: sehr früh!) sich fragen, ob „ihre“ Arbeiter*innen nicht doch vom nächsten Krieg profitieren könnten.

Solidarität geht dagegen nur internationalistisch. Solidarität heißt hier Parteilichkeit mit denen, die am stärksten die zerstörenden Konsequenzen des Kapitalismus erfahren und darin dessen Absurdität am deutlichsten aufzeigen. Nur diese Solidarität erkennt wie der Kapitalismus wirklich tickt: Weil, trotz allem, wir in unseren Regionen relativ verschont sind. Aber auch weil der global gewordene Kapitalismus, der die ganze Welt durchdrungen hat und nach seinem Bedarf organisiert, nur in einem globalen Zusammenhang in seiner Funktionsweise erkannt werden kann. Erst eine internationalistische Solidarität zeigt uns, welche Kämpfe zu kämpfen sind und gibt uns neue Verbündete.

Internationalistische Solidarität geht aber zuletzt nur anti-national. Das Konstrukt der Nation muss entkräftet werden. Immer wieder dient es zur Verengung der Solidarität auf nationalem Horizont, und bereitet innerhalb eines Landes den Schritt dafür, um in eine Partnerschaft mit den Herrschenden zu gehen. Seit immer dient Nation als „Gottheit“, der man sich fleißig zu unterwerfen hat, um die Spannungen im eigenen Land zu stillen und Frust und Wut auf andere zu verlagern, als Prinzip der Einheit nach innen und der Konkurrenz nach außen. Wird die nationale Perspektive nicht überwunden, ist nicht nur Solidarität, sondern auch der Kampf der Arbeiter*innen unmöglich. Solange der Mythos „Nation“ lebt, ist die Versuchung, die „soziale Frage“ nationalistisch zu lösen, lebendig — auch links.

.Vielfalt

Ist Vielfalt kompatibel mit der Welt, wie sie gerade ist? In Wahrheit, wohl kaum.

Eine gewisse Vielfalt scheint aber gerade der Welt des Kapitals eigen zu sein. Sie wird zugelassen, gefördert oder sogar aktiv hervorgebracht.

(a) Es gibt eine ungeheure Vielfalt an Dingen, die man sich kaufen darf. Nicht nur Sachen, die man haben kann, sondern auch Sachen, durch die man etwas sein kann: Sportkurse, Mitgliedschaften, Studiengänge, Tattoos, Szenenzugehörigkeit: Man darf vieles sein. Diese Vielfalt, sich Sachen ganz individuell zu wünschen, wird zugelassen. Es wird sogar gratuliert, wenn jemand ein ganz neues Bedürfnis ins Spiel bringt oder einen neuen Stil erfindet. Aber steht hinter dieser Vielfalt nicht eine größere Eintönigkeit? Eigentlich wird nur eines zugelassen: Dass man konsumieren darf. Dafür darf man vielfältige Bedürfnisse haben, vieles sein oder sein wollen. Diese Vielfalt ist aber längst nicht für alle zugänglich: Man muss auch die Mittel haben, um sich diese Vielfalt leisten zu können.

(b) Aber auch die vielen Bedürfnisse sind selten Ausdruck freier Individualität. Die meisten der unterschiedlichen Bedürfnisse hängen davon ab, dass Menschen nicht gleichen Zugang zu dieser Welt haben — deshalb gibt es Bedürfnis an dem, was einem mangelt. Das, was in Wahrheit eine Minderung und Verletzung ist, wird aber gerne als Vielfalt verpackt: Jede*r ist anders, deshalb brauchen wir einen Markt, in dem jede*r die Möglichkeit hat, sich mit den Anderen zu ergänzen.

© Noch eine andere Vielfalt wird produziert: Die, die daraus resultiert, dass Menschen unterschiedlich geformt werden, je nach der Rolle, die sie in der kapitalistischen Ordnung einnehmen sollen. Je nach Rolle sind die Bildungsmöglichkeiten, der Zugang zu technischen oder medizinischen Mitteln, die (erwünschten) Denkweisen, sogar die Weise, mit dem eigenen Körper, mit der eigenen Sexualität usw. umzugehen, unterschiedlich. Die einen werden zu einem Leben an den Rändern der Welt gezwungen, damit beschäftigt, Rohstoffe zu befördern und Restprodukte zu konsumieren; die anderen, am anderen Ende der Kette, sind von der Arbeit freigesetzt und mit allen Mittel ausgestattet, um die besseren Produkte zu konsumieren. Dazwischen sind unzählige Nuancen. Diese Vielfalt wird etwa schon in der Schule gefördert: Jeder soll seine „natürlichen“ Fähigkeiten kultivieren — um diese auf bester Weise in den Dienst der Verwertungskette zu stellen. Auch hier gilt: Die Vielfalt ist in Wahrheit reduzierbar auf einen Terminus: Die große Struktur der kapitalistischen Verwertungskette.

Vielfalt ist aber etwas anderes: es ist die Möglichkeit, treu den eigenen Wünschen, der eigenen Geschichte, dem eigenen Leben zu gestalten — und die Andersheit der Anderen achten und ihr begegnen zu können. Vielfalt kann nur dann wirklich sein, wenn es für alle die Möglichkeit gibt, ihre Differenz auszuleben. Das heißt: wenn es für die Vielen und Vielfältigen eine Welt gibt, die für alle als Lebens- und Begegnungsraum dient und die Mittel zur Verfügung stellt, um die eigene Individualität leben zu lassen. Das ist aber gerade nicht der Fall. Eine Welt gibt es jetzt nur für Geld und Kapital: diese können sich frei bewegen, diese kriegen es hin, jede Mauer zu sprengen. Für Menschen ist es eine Welt der Mauern, der Zäune, der tödlichen Meere.

Wenn Millionen von Menschen, in „unsere“ Regionen kommen — und noch mehr an den Toren „unserer“ Länder stehen bleiben müssen, dann wird genau das zur Sicht gebracht: Es ist eine Welt, in der Vielfalt nicht sein darf. Diese wird ausgeschlossen und verdrängt — es sei denn sie passt sich an, an die Bedürfnisse von Markt und Produktion. Das heißt: Es sei denn, sie lässt sich von dieser Logik VerEINnahmen und EINordnen. Mit dem skurrilen Paradox: Unsere Gesellschaft lobt sich als willkommensfähig dafür, dass sie die Unterschiede zwischen Menschen, die sie produziert hat, nicht nur erfolgreich verdrängt, sondern noch ein weiteres Mal im Dienste der Kapitalakkumulation setzen kann:

„Eine wirkliche Welt der Männer und Frauen, die auf diesem Planeten leben, existiert heute nicht. Die Welt, die existiert, ist die eine Welt der freien Zirkulation der Waren und Finanzströme… Dass in dieser Welt menschliche Subjekte frei existieren, stimmt nicht. Vor allem haben sie nicht das elementare Recht, sich zu bewegen oder niederzulassen, wo sie wollen. In ihrer überwältigenden Mehrheit haben sie keinen Zugang zu dieser Welt. Sie werden draußen gehalten, dort eingesperrt, wo es für sie kaum Waren gibt und kein Geld…Wir müssen die politische Existenz einer einzigen Welt organisieren. Vor allem müssen wir die Abschaffung der repressiven Gesetze fordern, die zu Mauern, Razzien und Abschiebungen führen und Ausländer*innen der Polizei ausliefern. Wir müssen mit Nachdruck behaupten, dass die Anwesenheit Hunderttausender Menschen ausländischer Herkunft keine Frage der Identität und der Integration ist. Es handelt sich um Proletarier*innen, die uns durch ihr aktives und nomadisches Leben lehren, dass man sich in der Politik, auf die eine Welt der lebendigen Menschen beziehen muss und nicht auf die falsche Welt der getrennten Nationen.“ (**)

Eine Welt der Vielen und Vielfältigen muss aber erst hervorgebracht werden: Es ist eine Welt, die allen und gemeinsam zugänglich ist und somit als EINE Welt zählen kann. Kurz: Eine aufgeteilte Welt macht Vielfalt unmöglich. Erst eine EINE Welt ermöglicht Vielheit. Diese Welt, wie sie ist, produziert eine falsche Vielheit: Sie produziert strukturelle Diskriminierung — und nennt das Vielfalt.

.Gerechtigkeit

Was versteht man meistens unter Gerechtigkeit? Etwas wie: „Dass jedem das seine“ zukommt. Das wird dabei so interpretiert: Jedem nach seiner Leistung, nach seinem Verdienst. Die Welt des Kapitals versteht sich in diesem Sinne als gerecht, zumindest in der Vermittlung der (demokratischen) staatlichen Institutionen, die für diese Gerechtigkeit sorgen. Dabei wird vergessen, dass diese vermeintliche Gerechtigkeit in einem Raum der Ungerechtigkeit stattfindet: Eben in einer Welt, die nicht gleichermaßen allen zugänglich ist — die die meisten dazu verdammt, geringe Leistungen (im Sinne von: Ergebnissen, nicht von Bemühungen!) hervorzubringen.

Das sieht man sofort bei der Lohnfrage. Der DGB sagt: „Arbeitgeber, die aus der Tarifbindung flüchten, verweigern gerechte Löhne. Verbietet es ihnen!“. Der DGB fordert nichts anderes, als dass die staatliche Gewalt darauf achtet, dass sich „Arbeitgeber“(!) an Verträge mit den „Arbeitnehmer“ halten. Das wäre Gerecht. Passiert das, sind die Löhne gerecht. Ist eben Lohn nichts anderes als das Ergebnis eines freien Tausches, zwischen „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“, vertraglich festgelegt? Du gehst in eine Verhandlung mit dem Käufer deiner Arbeitskraft ein, es resultiert ein Abkommen. Rechtgemäß. Es stimmt nicht, dass du eventuell ausgebeutet wirst: Es wird dir das abgesprochene gegeben.

Genauer betrachtet aber, kann es keinen „gerechten Lohn“ geben: Lohn ist ungerecht, weil das Lohnsystem per se ungerecht ist. Das Lohnsystem (der freie Tausch zwischen rechtlich gleichgestellten) bedeutet: Weil du nichts anderes, als deine Arbeitskraft (deine Zeit, deinen Körper, deine „Fähigkeiten“) hast, musst du dieses Verkaufen an die (an das), was die Mittel besitz, um damit etwas anfangen zu können — etwas produzieren zu können. Dafür bekommst du das, was genügt, um dich am Leben zu erhalten, dich nicht zur Auflehnung zu führen und morgen wieder zur Arbeit kommen zu lassen. Dieses System ist deshalb möglich, weil die Welt, wie sie organisiert ist, eben strukturell ungerecht ist: Sie gibt den meisten ganz wenig oder gar nichts und setzt sie der Erpressung weniger — genauer: „Der stummen macht der Verhältnisse“ und des Staatsapparats, das diese Verhältnisse beschützt — aus. Das Lohnsystem ist eine gewalttätige Erpressung.

Innerhalb dieser Welt, „Gerechtigkeit“ zu fordern, kann unter Umständen bedeuten, die Logik, die Ungerechtigkeit hervorbringt und erneuert, zu vertuschen und dadurch zu bestätigen. Außerdem: Was innerhalb dieser Welt als mehr Gerechtigkeit für die einen erscheinen wird, kann nur Verlagerung der Konsequenzen der strukturellen Ungerechtigkeit anderswo sein: auf andere Branchen, auf andere Menschen, auf andere Teile unseres Lebens. Das Kapital sucht andere Wege, um das Profit, das er nicht auf deiner Haut macht, wieder einzuholen. Gerechtigkeit für die einen heißt Ungerechtigkeit für die anderen.

Gerechtigkeit ist also für alle oder sie ist nicht Gerechtigkeit — sie ist aber für alle, wenn sie die Strukturen, die Verhältnisse betrifft, die Weise in der diese Welt für die Menschen zugänglich ist und die Begegnung unter Menschen ermöglicht wird. Die Verhältnisse müssen solche sein, die nicht einigen Menschen eine übermacht über andere geben, die diese Welt allen zugänglich machen, damit „jedem das seine“ zukommt.

Wir sind von höchstem Realismus bewegt. Solidarität die nicht global ist, ist ein Trug. Vielfalt, ohne eine Welt, die Vielfalt leben lässt, ohne eine Welt die für alle zugänglich ist, ist eine Lüge. Gerechtigkeit innerhalb struktureller Ungerechtigkeit, ist schlicht keine. Sagt man Gerechtigkeit, Vielfalt und Solidarität, sagt man Kampf für eine Welt, in der Gerechtigkeit, Vielfalt und Solidarität für alle möglich sind — sagt man Kampf der Welt des Kapitals.

Sonst handelt es sich nur um Parolen und Ornamente. Wie es heute der Fall ist.

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(*) Gruppe-K, “Stolz auf 125 Jahre Gewerkschaft? Nieder mit dem Lohnsystem” — http://gruppe-k.org/2016/05/04/stolz-auf-125-jahre-gewerkschaft-nieder-mit-dem-lohnsystem/

(**) A. Badiou, Was heißt Demokratie? Die eine Welt organisieren, https://www.zeitschrift-luxemburg.de/die-eine-welt-organisieren/