Aktuelle Aufnahme aus dem Sauerland bei Brilon

Was wir aus der Corona-Pandemie für den Kampf gegen den Klimawandel lernen können

Ole Wintermann
8 min readJul 10, 2020

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Die Corona-Krise ist im Gegensatz zu den Eindrücken, die manche CDU- und FDP-Politiker in einigen Bundesländern mit ihren Einwürfen erwecken wollen, noch lange nicht vorbei. Dennoch ist es vielleicht Zeit für ein kleines Zwischenfazit gerade mit Blick auf die Frage, was wir aus den bisherigen Krisenmonaten für den Kampf gegen die Erderhitzung lernen können.

Anfang April hatten sich Tilo Jung und Maja Göpel bei #Jungundlive über die anstehenden Herausforderungen an die Gesellschaft, die sich aus Corona ergeben, unterhalten. Ich fand dieses Gespräch, das immerhin 1,5h dauerte, sehr inspirierend und lehrreich; inspirierend, weil Maja Göpel durch die Brille der Transformationsforscherin auf damals anstehenden Erwartungen an den erwarteten zukünftigen Wandel geschaut hat und lehrreich, weil gleichzeitig der Blick zurück auf die damaligen Erwartungen die Analyse des Gesagten ex post zulässt. Und es zeigt sich 3 Monate später, dass das mit Blick auf systemische Pfadabhängigkeiten Gesagte weitestgehend (ich habe jedenfalls nichts Gegenteiliges erkennen können) eingetreten ist.

Nach dem Anschauen des Videos hat sich bei mir ein Eindruck verstärkt, der sich in den letzten Wochen bereits ansatzweise herausgebildet hatte: Wie wollen wir angesichts der politökonomischen Logik, die wir auch aktuell wieder in der Debatte zur #Maskenpflicht beobachten und die zu einem großen Teil im Mindset eines großen Teils der Bevölkerung mit einer vermeintlichen “Freiheit”-Debatte verknüpft ist, jemals dauerhaft und nachhaltig gegen den #Klimawandel vorgehen?

Das Zwischenfazit aus 4 Monaten #Corona-Krise — mit Blick auf die Implikationen für den Kampf gegen den Klimawandel — teilt sich aus meiner Sicht auf auf verschiedene Ebenen.

Wissenschaft macht den Unterschied

Regierungen, die sich an etablierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Verbreitung von Viren von Mensch zu Mensch und auf epidemiologischer Ebene orientiert haben und ihr Gesundheitssystem zentral koordinierend darauf vorbereitet haben, hatten in ihren Ländern weniger Todesfälle zu beklagen. Populistische Staatenlenker in den USA und Brasilien (und anderen Ländern), die sich entweder diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber gesperrt haben oder aber versucht haben, durch Intransparenz über die Todesfallzahlen den Misserfolg ihrer Anti-Corona-Politik zu verschleiern, haben (bisher!) deutlich höhere Fallzahlen zu verantworten als Staatenlenker, die sich von der Wissenschaft haben leiten lassen. Schweden stellt hierbei eine Ausnahme dar, hat die Regierung doch auf die Wissenschaft gehört. Gleichzeitig war aber hier wie auch in UK das Prinzip der nationalen Herdenimmunität von Anfang an eine wissenschaftliche Minderheitenposition.

Vielleicht wäre es ja möglich, dass diese Orientierung an wissenschaftlichen Erkenntnissen in den Kampf gegen den Klimawandel hinübergerettet wird? Die von Seiten speziell mancher CDU- und FDP-Regionalgrößen in unserem Lande immer wieder geäußerte Kritik an der #Maskenpflicht (und vormals den Ladenschließungen) lässt mich daran jedoch zweifeln (obgleich beim Thema Klimawandel der wissenschaftliche globale Konsens ja sehr viel ausgeprägter ist als bei der Corona-Thematik). Dabei sollten wir nicht vergessen, dass diese Regionalpolitiker nicht im politisch leeren Raum zu diesen Aussagen gelangen, sondern natürlich damit ihre Zielgruppe bedienen wollen. Und damit kommen wir zur zweiten Baustelle.

Libertarismus tritt immer offener zutage und spaltet die Gesellschaft

Der Libertarismus als politisch extreme Ausformung des Liberalismus überhöht die Bedeutung des Einzelnen gegenüber dem Staat. In der Folge geht es den Vertretern dieser politischen Einstellung implizit (nicht unbedingt explizit) in allen relevanten Lebensbereichen um die Überhöhung der eigenen (“Freiheits”-) Werte in Relation zu den Werte der anderen Menschen in der Gesellschaft. Selbst wissenschaftliche Erkenntnisse werden negiert und als Eingriff in die eigene Handlungssouveränität verstanden. Diesen Libertarismus kann man in Deutschland in etlichen politischen Diskursen der vergangenen Jahre beobachten. Egal ob #Tempolimit, #Nichtraucherschutz, #Fleischkonsum, #Flugscham, #Fahrverbote (für Motorradfahrer wie auch Autofahrer) und aktuell die #Maskenpflicht; nachdem schnell erkennbar geworden war, dass gegen wissenschaftliche Erkenntnisse in jedem einzelnen dieser Bereiche argumentativ nicht anzukommen war, wurde entweder versucht, die Wissenschaft mit Unterstützung der rechts-konservativen Printmedien zu diskreditieren oder aber es wurde sich auf die egozentrierte Position zurückgezogen, dass man “sich nichts verbieten lasse”. Gefördert wurde dies stets durch rechtslastige Vertreter der bürgerlichen Parteien, die den an der Wissenschaft orientierten Aussagen der Grünen und der SPD vorwarfen, nur mit “Verboten” regieren zu wollen. Leider aber ist dieser Trend auch international zu beobachten.

Kulturgrenzen dominieren zunehmend nationalstaatliche Grenzen

Dieselbe Argumentation, die deutsche libertäre Vertreter anwenden, um für “Freiheit”, wie sie diese verstehen, einzutreten, kann bei Trump-Anhängern beobachtet werden. Das Tragen einer Maske wird ebenso vehement abgelehnt wie dies in Deutschland bei libertären Vertretern zu beobachten ist. Zugleich wird das Recht auf Tragen einer Waffe in den USA als Ausdruck von “Freiheit” gesehen wie dies in Deutschland von Vertretern des “Freiheit”ansatzes auf deutschen Straßen bezüglich der Ablehnung eines generellen Tempolimits auf Autobahnen angewendet wird. In beiden Fällen werden individuelle Freiheitsrechte an Dinge oder Zustände gebunden. Eigentlich sollten wir sehr viel häufiger und offensiver dieses Verhalten psychologisch analysieren und fragen, welche genau die persönlichen Beweggründe sind, sich von einem Stückchen Stoff in seiner “Freiheit” eingeschränkt zu sehen? Ist es vielleicht die Erfahrung eigener tatsächlicher Unfreiheit in der Jugendzeit oder das fehlende Vorleben von Empathie gegenüber seinen Mitmenschen durch die eigenen Eltern? Oder ist dies Ausdruck des dysfunktionalen Umgangs von Erwachsenen mit unbewältigten Ur- und Existenzängsten (die natürlich mit dem Klimawandel verbunden sind). Entsprechende psychotherapeutische Fachtexte gehen jedenfalls in diese Erklärungsrichtung.

Was daran aber so verstörend ist, ist die Tatsache, dass sich diese kulturellen Teilungen quer durch einen großen Teil der westlich geprägten Ländern zu ziehen scheint. Der deutsche Vertreter des Dogmas der “freien Fahrt für freie Bürger” dürfte, so meine These, zugleich tendenziell (!) auch dem Recht der US-Bürger auf das Tragen einer Waffe zustimmen. Der US-Bürger, der Masken ablehnt, dürfte sicher auch ohne Einschränkung Unterstützung durch seinen deutschen Gegenpart bekommen. Erleben wir damit aber einen neuen kulturellen Cleavage jenseits nationaler Grenzen? Wenn dem so wäre: Welche Bedeutung hätte diese immer wieder zu beobachtende Spaltung auf die Global Governance des Kampfes gegen den Klimawandel? Sind vielleicht gar nicht nationalstaatliche Interessen maßgeblich für die Erfolgslosigkeit der Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel sondern die innerhalb der Regierungen immer wieder auftretenden Gegensätze von “Freiheit” und gesellschaftlicher Verantwortung? (auf der politisch entgegengesetzten Seite tauchen ab und an ähnliche Argumentationsmuster auf, die die Maskenpflicht als Einschränkung der Bürgerrechte betrachten). Wenn sich der Ruf nach “Freiheit” bereits nach 4 Monaten Bahn bricht in Demonstrationen von Verschwörungstheoretikern, dann stellt sich die Frage, wie wir gesellschaftliche mit restriktiven und langfristigen oder zumindest einschneidenden Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel umgehen sollen?

Dauerhafte politische Maßnahmen sind politökonomisch immer schwerer umzusetzen

Im Falle von Corona sprechen wir in Deutschland von einem Zeitraum von 6 Wochen (plus/minus 2 Wochen), in dem strengere Lockdown-Vorschriften galten. Die Maskenpflicht setzte erst später ein. In beiden Fällen gab es aber bereits nach ca. 6 Wochen die ersten Regionalpolitiker, die sich mit der Forderung nach einer Lockerung in beiden Fällen in populistischer und antiwissenschaftlicher Weise in ihrer Zielgruppe beliebt machen wollten. Politökonomisch ist das vollkommen nachvollziehbar. Wir können von Glück sprechen, dass es angesichts der Dringlichkeit auch stets aktuelle wissenschaftliche Studien gab, die genau vor solchen Lockerungen warnten. Die Mehrheit der Bürger (im Falle der Maskenpflicht nur noch eine knappe Mehrheit) schloss sich dem Rat der Wissenschaft an. Es ging aber gerade einmal um einen Zeitraum von 6 Wochen.

Der Kampf gegen den Klimawandel wird Jahrzehnte dauern. Die negativen Folgen falscher Maßnahmen (wie im Falle von Corona der Lockerung der Maskenpflicht) sind nicht nach 2 Wochen sondern vielleicht erst 20 Jahren erkennbar. Wie soll Politik unter diesen politökonomisch denkbar schwierigsten Umständen überhaupt funktionieren? Im Falle des Kohlekompromisses reichte der Hinweis auf den Verlust von 20.000 Arbeitsplätzen, um in der Folge einen “Kompromiss” zu verabschieden, der — indirekt — das Leben von 82 Millionen Menschen in diesem Land weiter gefährden könnte und die nächsten beiden Generationen finanziell extrem belasten wird. Konstruktive und wissenschaftlich fundierte politische Aktivitäten können ganz einfach durch populistische und unwissenschaftliche Argumentationslogiken, die inzwischen in Teilen der bürgerlichen Parteienlandschaft 1:1 von der AfD übernommen worden sind, ausgehebelt werden. Es ist aber nicht nur die Negation von Wissenschaft als Basis von Politik; hinzu kommt die Unfähigkeit, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse auch in einem systemischen Kontext zu interpretieren und zu verstehen.

Wir bräuchten mehr systemisches Denken — wir bekommen mehr Populismus

Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatten wir so viele Daten bzw. Informationen über unsere Umwelt, über unser eigenes Verhalten zur Verfügung. Die Fähigkeit, diese Datenmengen sinnvoll zu interpretieren und nutzbar zu machen, hängt aber nicht nur von der technisch-digitalen Kompetenz ab (Stichwort Data Science). Vielmehr geht es auch darum, im wissenschaftlichen Bereich interdisziplinärer zu forschen und zusammen zu arbeiten. Wieso schafft es beispielsweise die Volkswirtschaftslehre bis heute nicht, erstens menschliches Verhalten als Basis der Betrachtung volkswirtschaftlicher Entwicklungen empirisch ausreichend zu berücksichtigen (die Behavioral Economics haben bis heute keinen wirklichen Widerhall in den Modellen der Mainstream-VWL gefunden) und zweitens nicht, die Relevanz anderer Fachrichtungen wie z.B. der Klimawissenschaft oder Umweltforschung anzuerkennen und in die eigenen Berechnungen mit einzubeziehen. Es kann doch nicht sein, dass Umweltverschmutzung, die durch einen Ölunfall auf dem Meer entstanden ist, nach wie vor als BIP-steigernd betrachtet wird, dass die durch steigende Temperaturen gestiegene Nachfrage nach Hausklimatechnik volkswirtschaftlich als wohlfahrtssteigernd verbucht wird. Wissenschaft muss sich an dieser Stelle fragen lassen, ob nicht eine eigene Filterbubble zu einer gewissen Selbstisolation gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen geführt hat. Anders ist es nicht zu erklären, dass Ökonomen mehrheitlich bis heute die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen nicht in volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen einfließen lassen.

Wenn also in manchen Teilen nicht einmal Wissenschaft, die die Politik berät, fähig ist, interdisziplinär zu forschen, kann man dieses Denken in Systemen bzw. Kontexten wohl kaum von den politischen Entscheidern erwarten. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung “Globale Umweltveränderungen” geht aber im Gegensatz zur VWL diesen interdisziplinären Weg, wenn er schreibt:

“Nur wenn der digitale Wandel und die Transformation zur Nachhaltigkeit konstruktiv verzahnt werden, kann es gelingen, Klima- und Erdsystemschutz sowie menschliche Entwicklung voranzubringen und menschliche Würde erfolgreich zu schützen.”

Der Report ist aus meiner Perspektive ein empfehlens- und lesenswerter Prototyp interdisziplinärer Sichtweisen. Mit Blick auf das altbekannte Silodenken in der Politik und Verwaltung sollte dort vielleicht eine Orientierung an betrieblichen Umbrüchen erfolgen. So wie die digitale neue Arbeitskultur schon in vielen Unternehmen zu einem nachhaltigen Umdenken bezüglich des eigenen Geschäftsmodell und des Verhältnisses zum Kunden geführt hat, können Politik und Verwaltung sicher daraus lernen; im Idealfall hieße das, mit “Arbeiten 4.0” und mit einer Transformation der Verwaltung in Richtung Transparenz und Bürgerpartizipation zu einer nachhaltigen Politik zu gelangen. Diese Möglichkeit ins Auge fassen kann man aber natürlich auch nur dann, wenn man sich schon offen gegenüber Interdisziplinarität zeigt.

Was bedeutet das alles für den Kampf gegen den Klimawandel?

Wir sollten hellhörig sein, wenn es zukünftig darum geht, dass Populismus Klimawandel entweder trotz offensichtlicher Datenlage negiert, ihn kleinreden will (Stichwort: Corona ist eine “kleine Grippe”. Klimawandel gab es “schon immer”.) oder aber simple Antworten auf den Klimawandel geben will (CO2 “düngt” den Wald). Klimawandel muss als systemisches globales Problem verstanden werden, Politik muss nach Wegen suchen, die Komplexität in der Kommunikation glaubwürdig zu reduzieren, wir alle müssen uns darüber Gedanken machen, wie Maßnahmen, die unsere Gesellschaft dauerhaft verändern werden (qualitatives statt quantitatives Wachstum), nicht zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen (die Verschwörungs-Demos gaben uns einen ersten Vorgeschmack von den kommenden Problemen) führen.

Der EU fällt die wichtige Aufgabe zu, sich auf die veränderten Willensbildungsprozesse einzustellen. Das Europäische Parlament und der Europäische Rat sind in ihrer Willensbildung und Entscheidungslogik bisher allein nach nationalen Parteien ausgerichtet. Dies scheint wie oben erwähnt nicht mehr zeitgemäß. Konfliktlinien wie die europäische Flüchtlingspolitik, die Corona-Konjunkturhilfen, Handelskriege mit den USA und der Klimawandel führen immer mehr zu länderübergreifenden Konfliktlinien in der Parteienlandschaft (Negativ-Beispiel “Libertarismus”). Erste europaweite Parteigründungen lassen erahnen, dass nationale Logiken (zum Glück) nicht mehr zeitgemäß sind. Hierbei kann die EU weltweit zum Vorbild für supranationale Antworten auf globale Herausforderungen werden.

Wenn es darum geht, aus der Corona-Pandemie zu lernen, müssen wir uns vor Augen halten: Wir müssen Demokratie und Wissenschaft im Kampf gegen den Klimawandel vor dem gesellschaftszerstörenden Populismus schützen und offen für ihre nachweisbar höheren Lösungskompetenz bezüglich globaler Herausforderungen im Vergleich zu populistischen Regimen eintreten.

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