wir sind frei

Oliver Westphal
8 min readApr 12, 2020

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In einer liberalen Gesellschaft ist das Leben nicht vorherbestimmt. Bei Abwesenheit von äußeren Zwängen ist es einem jeden Einzelnen freigestellt, Entscheidungen zu treffen und über das eigene Handeln vernunftgeleitet zu bestimmen.

Der existentialistische Philosoph Sartre verwandte in diesem Zusammenhang folgende Allegorie: So wie ein Maler auf einer Leinwand Pinselstrich für Pinselstrich ein Meisterwerk zu erschaffen vermag, wäre es demnach einem jeden Menschen möglich, Entscheidung für Entscheidung, Handlung für Handlung sein eigenes Leben zu gestalten. Und so wie die Fähigkeiten eines Malers die Qualität seiner Werke determiniert, so bestimmen auch die erworbenen Fähigkeiten über das Handlungsvermögen eines jeden Individuums und damit maßgeblich über dessen Leben.

Diese recht idealistische Auffassung des Freiheitsbegriffs erscheint jedoch bei flüchtiger Betrachtung etwas realitätsfern. Unterschlägt dies nicht die Einschränkung von Freiheitsgraden, die im alltäglichen Erleben bestehen?

<Der Mensch wird frei geboren und überall liegt er in Ketten.>

Rousseau, 1762

Das Leben ist kein utopisches Elysium in dem Menschen uneingeschränkt ihre Wünsche erfüllen können. Die Einbindung in gesellschaftliche Strukturen und soziale Kontexte geht mit Rollenerwartungen, Verantwortung und Verpflichtungen einher. Beispielhaft können in diesem Zusammenhang die beruflichen Aufgaben, die Verantwortung als Vater oder Mutter oder als Freund eines hilfebedürftigen Menschen angeführt werden. Darüber hinaus können Restriktionen bestehen, die das Handlungsvermögen begrenzen können, wie finanzielle oder gesundheitliche Einschränkungen, fehlende Chancengerechtigkeit, Diskriminierung etc.

Bleibt Freiheit somit ein unerreichbares Ideal, das nur für Lebenskünstler oder Menschen mit finanzieller Unabhängigkeit zu existieren vermag?

Dem ist zu widersprechen. Die vorangegangene Argumentation vermag es nicht, Sartres Position zu widerlegen.

Situationen sind in aller Regel hinsichtlich unseres Agierens oder Reagierens nicht determiniert. Vielmehr bestehen umfassende Freiheitsgrade in der Ausgestaltung unseres Handelns. Gleichwohl definieren Rollenerwartungen, das Streben nach Wirksamkeit, Beachtung von Konventionen etc. oftmals die Leitplanken des als sinnvoll Erachteten.

Auch unter noch so widrigen Umständen kann sich jeder geistig Gesunde in einer liberalen Gesellschaft frei entscheiden und das eigene Handeln selbstbestimmt festlegen. Auch wenn man sich in Kontexten wiederfindet, die mit teilweise unliebsamen Verpflichtungen einhergehen, so hat man sich für diese Kontexte in aller Regel zu einem früheren Zeitpunkt bewusst entschieden und entscheidet sich immer wieder aus Neue, die damit verbundenen Tätigkeiten auszuführen.

Die Grenzen des eigenen Handelns liegen vielmehr eher im eigenen Handlungsvermögen begründet.

„Das Können ist des Dürfens Maß“ ist ein Leitsatz, der mir aus dem Outdoor-Sport vertraut ist. Das eigene Risiko steuert man dabei durch eine realistische Einschätzung des eigenen Vermögens selber. Beim Mountainbiken kann man einen felsigen oder verwurzelten Singletrail in der Geschwindigkeit fahren, die einem die eigene Erfahrung und Technik ermöglichen. Wer seine Grenzen nicht kennt, geht über diese leicht hinaus und wird unweigerlich stürzen. Dies kann übertragen werden auf andere Lebensbereiche: Letztlich bestimmt über das eigene Handlungsvermögen maßgeblich das eigene Können.

Große Ziele lassen sich nur mit einer starken inneren Motivation erreichen. Ausgetretene Lebenswege sind in der Regel komfortabel zu gehen. Auf diesen Wegen ordnet sich allerdings oftmals vieles dem Primat der Sicherheitsorientierung unter. Im Ergebnis führen solche Pfade selten zur Realisierung persönlicher Ziele. Pionierarbeit ist an anderer Stelle zu leisten. Individuelle Wege neu zu erschließen bedarf erheblich mehr Aufwand. Diese persönlichen Ziele müssen dabei nicht zwangsläufig mit den von breiten Teilen der Gesellschaft als erstrebsam anerkannten Zielen korrespondieren.

Reinhold Messner bezeichnet sich selbst augenzwinkernd gerne als „Eroberer des Nutzlosen“. Dies ist nicht unbedingt Ausdruck von Bescheidenheit, sondern vielmehr eine reflexive Anerkennung der Tatsache, dass das Besteigen eines Berges aus gesellschaftlicher Perspektive bedeutungslos ist. Wenngleich das Beispiel hinken mag, da außergewöhnliche Erstbesteigungen in der Alpin-Szene und in der Weltöffentlichkeit mit Interesse verfolgt werden, so vermag es trotzdem folgendes zu verdeutlichen: Die Bedeutung, die ein Ziel hat, liegt in uns und nicht im außen.

Um Freiheit zu entfalten, bedarf es zunächst einer Klarheit über die eigenen Willensziele. Sokrates postulierte hierzu: “Ein Leben, das nicht kritisch untersucht wird, ist es nicht wert, gelebt zu werden.” Wenngleich dieses Urteil harsch und zynisch anmuten mag, so enthält es doch eine wertvolle Möglichkeit zur Interpretation: Es ist an uns, ein erfülltes Leben zu führen, das reich an Sinn ist.

Die Festlegung persönlicher Ziele führt in Abhängigkeit zu den Ausgangsbedingungen und der individuellen Ausrichtung zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Für jeden Menschen sind andere Aspekte des Lebens bedeutungsvoll. Eine metrische Erfassbarkeit der Zielerreichung dürfte dabei nur in den seltensten Fällen möglich sein. Der Frankfurter Philosoph Martin Seel hat in diesem Zusammenhang eine schöne Formulierung gefunden: „Der messbare Teil der Welt ist nicht die Welt. Es ist der messbare Teil der Welt.“ Bedeutungsvolle Ziele jenseits des beruflichen oder sportlichen Erfolgs, jenseits des finanziellen Reichtums etc. können im persönlichen Bereich liegen. So kann man sich bspw. darum bemühen, wesentliche Sinnfragen für sich selbst zu beantworten und in diesem Sinne tätig zu werden, sich mit seinen Fähigkeiten in die Gesellschaft einzubringen oder andere Menschen zu unterstützen.

Aus der Freiheit erwächst Verantwortung für das eigene Handeln.

Wir können für unser Handeln nicht andere Menschen oder die äußeren Umstände verantwortlich machen. Soziale Prägung, persönliche Erfahrungen und genetische Dispositionen wirken auf die Herausbildung von Charakterzügen ein oder können diese sogar determinieren. Und unter Umständen sind zur Realisierung persönlicher Willensziele zudem erhebliche Widerstände zu überwinden. Dennoch gilt, dass ein jeder Mensch in einer liberalen Gesellschaft sich frei entscheiden kann, wie er sein Handeln gestaltet.

Trotz Abwesenheit äußerer Zwänge gibt es jedoch eine Vielzahl von Faktoren, die auf die Freiheitsgrade des Einzelnen Einfluss nehmen. Einerseits gibt es sinnvolle Begrenzungen des Handlungsvermögens: Das ethisch vertretbare Ausmaß der persönlichen Freiheit endet an der Grenze der freien Entfaltung anderer Personen. Diesbezüglich sichern Gesetze den Einzelnen ab und verhindern, dass Einzelne Ihre Freiheit zu Lasten von anderen ausleben.

Darüber hinaus gibt es weitere Faktoren, die auf unser Verhalten einwirken können. Hierzu zählen kulturelle Hegemonien und Traditionen, Dynamiken in peer groups, hierarchische Strukturen und gesellschaftliche Konventionen. Diese stellen keine harten Grenzen für das eigene Handlungsvermögen dar, sind jedoch dennoch ausgesprochen wirkmächtig.

The eye

Der Autor Julien Smith bezeichnet einige der vorgenannten Aspekte als „the eye“. Unsichtbar und dennoch omnipräsent ist es in unserem Unterbewusstsein verortet und blickt mit kaltem, urteilenden Blick auf unser Denken und Handeln.

Die Existenz dieses „internen Auges“ kann auf das Verhalten begrenzend einwirken, seine Macht ist jedoch nicht absolut. Sofern man ein anderes Verhalten als sinnvoller erachtet, so ist es möglich seine Handlungen anders auszurichten. Im Einzelfall mag dies jedoch eines gewissen Trainings sowie der Erlangung von Souveränität gegenüber imaginierten oder tatsächlichen Bewertungen von außen bedürfen.

In diesem Zusammenhang kommt jedoch auch dem Streben nach Anerkennung, Wertschätzung durch Andere, Eingebundenheit in soziale Gruppen, Akzeptanz durch peers etc. eine wichtige Rolle zu.

<No man is an island. No one is self-sufficient; everyone relies on others.>

John Donne

Evolutionär gesehen war die Zugehörigkeit zu Gruppen für Menschen historisch über die längste Zeit der Menschheit von existentieller Bedeutung. Ein Ausschluss aus der Gruppe ging früher mit vielfach erschwerten Lebensbedingungen oder sogar dem Entzug der Lebensgrundlage einher. Der Zusammenhalt, der Schutz und das Zusammenwirken der Gruppe sicherte die Ermöglichung von Leben unter schwierigen Bedingungen.

Dies besteht in unserer industrialisierten Welt in modernen Zivilgesellschaften in dieser Form nicht mehr. Weiterhin bedarf es eines Einkommens um gesellschaftlich umfänglich partizipieren zu können, wirklich existenzgefährdend ist das Leben jedoch auch nicht außerhalb gesellschaftlicher Gruppierungen. Der Mensch ist jedoch ein soziales Wesen, ein erfülltes Leben lässt sich nur eingebunden in Beziehungen führen. Diese können dazu beitragen, das Leben zu bereichern und wertvoll machen.

Ist unsere Freiheit gefährdet?

Die Freiheit die wir in europäischen, liberalen Gesellschaften genießen ist das Ergebnis revolutionärer Bürgerbewegungen, jahrhundertelanger Veränderungen und der Demokratisierung von Machtstrukturen auf politischer Ebene. Meinungsfreiheit, allgemeines Wahlrecht, freie Berufswahl, Religionsfreiheit etc. sind für uns selbstverständlich — wenngleich sie es historisch gesehen über den weitaus größeren Teil der Menschheitsgeschichte nicht waren. Wir sollten uns des Privilegs bewusst werden, in Freiheit leben zu können. Für diese sollten wir eintreten und diese auch verteidigen.

Aber gibt es gegenwärtig denn überhaupt Bedrohungen für unsere Freiheitsrechte? Ein erneuter Krieg in Zentral-Europa ist aktuell sehr unwahrscheinlich. Angesichts der weitestgehenden Aufhebung einstmals bipolarer Machtstrukturen und Feindbilder ist die Bedrohung diesbezüglich als gering einzustufen. Bedrohungen unserer Freiheit betreffen eher unser Recht auf informationelle Selbstbestimmung — also das Recht darauf, dass personengebundene Daten nur zweckbestimmt gespeichert und verarbeitet werden und dies lediglich mit unserer expliziten Einwilligung geschieht.

Die Datenschutzrechte in Europa gelten hinsichtlich des Verbraucherschutzes als weltweiter Benchmark. Dennoch ist man ständig versucht, den Zugriff auf persönliche Informationen Dritten gegenüber zu gestatten, um Apps überhaupt nutzen zu können. Daten sind der neue Rohstoff des digitalen Zeitalters, aus denen werthaltige Profile zur zielgruppengerechten Bewerbung erstellt werden können. Die Wahlfreiheit, in welchem Ausmaß man personenbezogene Daten für Dritte nutzbar macht, scheint bei uns zu liegen. Es spielen jedoch nicht alle nach den gesetzlichen Regeln. Skandale von Social Media Plattformen und Geheimdiensten legten offen, welcher Missbrauch von Daten hinter den Kulissen von einigen der Akteure vollzogen wird.

Ein nochmals subtilerer Aspekt der Bedrohung unserer Freiheit betrifft die Bildung von Willenszielen. Descartes führte die Freiheit in ihrer graduellen Entfaltung aus. Demnach wächst die Freiheit mit der Zunahme der geistigen Klarheit über die Willensziele. In Zeiten permanenter Erreichbarkeit und permanenter Verfügbarkeit medialer Inhalte gilt es sich vor Aufmerksamkeitsraub zu schützen. Es bedarf eines gewissen Maßes an Selbstreflexion, Ruhe und Eigenzeit um über persönliche Willensziele und die hierfür erforderlichen Handlungen Klarheit zu erlangen. Dies mag trivial anmuten, dennoch ist es eine alltägliche Herausforderung, einen reflektierten Umgang mit audio-visuellen Medien vorzunehmen. Hier wäre es förderlich, wenn Kindern und Jugendlichen eine entsprechende Medienkompetenz vermittelt würde. Die Entfaltung der Persönlichkeit bedarf eines ereignisreichen Lebens, das bewusst geführt wird — eingebettet in eine virtuelle Filterblase mit einem Minimum an “realen” Erfahrungen ist dies hingegen wohl kaum möglich.

Aufgrund der vorherrschenden Pandemie sieht sich die Politik gegenwärtig der Herausforderung entgegen bei unsicherer Datenlage Freiheitsrechte gegen den Schutz von Risikogruppen abzuwägen und eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu verhindern. Das Ringen um die Entscheidungsfindung zu sinnvollen Maßnahmen führt dabei regional zu teilweise recht unterschiedlichen Ergebnissen. Um die weitere Ausbreitung einzudämmen wurden massive Einschränkungen von Bürgerrechten erlassen, die ihrerseits wiederum mit erheblichen gesellschaftlichen Konsequenzen einhergehen. Eine Rückkehr zu liberaler Normalität ist an den Pandemieverlauf und die Lagebeurteilung geknüpft. Bleibt zu hoffen, dass es alle politischen Instanzen mit Goethe halten, der zu überlegtem Handeln mahnte: “Alles mit Maß und Ziel.”

Résumé

Resümierend bleibt festzuhalten, dass Freiheit ausgesprochen vielschichtig ist. Für jeden bedeutet das Ausleben der persönlichen Freiheit etwas anderes. Gleichwohl gilt allgemein, dass die Eroberung von Handlungsspielräumen auf der Grundlage von Fähigkeiten erlangt werden kann. Die persönliche Entwicklung wird dabei zur Voraussetzung zur Erreichung von Freiheitsgraden. Freiheit ist untrennbar mit Verantwortung verbunden, sowohl dahingehend, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu tragen als auch in der Gerechtwerdung von Verpflichtungen, die mit erlangten Handlungsräumen einhergehen. Freiheit wird damit auch eine Haltung dem Leben gegenüber: Im Bewusstsein der eigenen Willensziele zu stehen, im Bestreben der Erreichung dieser Ziele zu handeln und im Versuch, den daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten immer wieder aufs Neue gerecht zu werden.

Mir ist bewusst, dass dieser Post zu einer Unzeit erscheint: Die Pandemie hält die Welt in Atem. Aber gerade in Zeiten wie diesen ist es vielleicht wertvoll sich einmal mit persönlichen Werten und deren Ausgestaltung auseinanderzusetzen. Und Freiheit lebt man letztlich nicht nur im Außen, sondern auch und insbesondere im Inneren als geistige Haltung.

Diese Ausführungen stellen allenfalls einen von vielen möglichen Ausgangspunkten für Überlegungen zur Freiheit dar. Zwangsläufig wurden dabei viele Aspekte ausgeklammert um eine logische Stringenz zu ermöglichen und das Format zu wahren. Es würde mich freuen, wenn dieser Blog Post zum Nachdenken über den gleichermaßen schillernden wie komplexen Begriff der Freiheit anregt.

Und was bedeutet Freiheit für dich?

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Oliver Westphal

Oliver works in the field of business development in Berlin. In his free time he pursues passion projects as a digital artist www.oliver-westphal-photography.de