Ich blieb Ich — Statt Berlin die Schweiz

Patrick Hummel
8 min readAug 8, 2018

--

Es gibt diesen einen Moment, in dem man sich fragt:
Wie fange ich nur diesen Text an?

Den meisten wird dieses Gefühl bestimmt abhanden gekommen sein, schreiben wir heute doch lange und strukturierte Texte nur in der Schule oder im Studium, es sei denn wir haben Schreiben zu unserem Beruf gemacht oder machen es seltenerweise trotzdem, wie in diesem Fall.

Es geht in diesem Text wieder um das Auswandern. Aber eher weniger um den Prozess und die Schweiz selber, sondern um mich als Person, was sich geändert hat, was eben nicht und welche Vorstellungen ich damals mit in dieses Abenteuer nahm. Heute weiß ich, es ist wie alles zuvor: kaum kontrollierbar und unvorhersehbar.

In die Schweiz kam ich mit einem neuen Job. Kommunikationsdesigner für ein KMU in St. Gallen. Eine vielseitige Aufgabe, da mit meiner Berufsbezeichnung hier genauso wenig angefangen werden konnte wie an vielen anderen Orten im deutschsprachigen Raum. Irgendwie blieb ich deshalb die erste Zeit viel mit der Internetseite in Verbundenheit, was ja an sich nicht komplett verkehrt war, aber falsch ausgelegt wurde. Texte und Technisches waren meine Aufgabe, also eher die Aufgabe von Copywritern, Textern oder Frontend Developer. Ich erkämpfte mir ein Mitspracherecht in der Gestaltung der digitalen Medien und versuchte ein konsistentes Markenbild zu etablieren. Es gelang mir.

Blick aus dem Büro bei schönem Wetter — kann man schon mal abgelenkt sein…

Irgendwie bestand mein Alltag bald nur noch aus der Arbeit und zu Beginn war es auch schwierig technischen Sitzungen mit Begriffen aus der Baubranche auf unterschiedlichen Schweizer Dialekten zu folgen. Eines allein war schon Neuland, aber eine neue Sprache, mit einem neuen Fachbereich in den schwierigsten Prozessen der Software: schien unmöglich. Also mit Kopfschmerzen ins Bett — ich kannte ja auch noch nicht so viele Leute. Das konnte ich auch nicht groß ändern, da ich bis Ende November auch den Halbzeit-Berliner widerspiegelte und nicht oft präsent war. Manche Leser werden sich aus den Beiträgen aus den Flugzeugen erinnern… eine sehr stressige Zeit.

Das Jahr endete mit meinem Geschenk für den bestandenen Bachelor, der Reise in die Vereinigten Staaten und zu meiner Familie nach Brasilien. Irgendwie habe ich diese beiden Momente viel zu wenig aufgenommen und für mich verarbeitet — die Zeit verging wieder sehr schnell und unnötige Diskussionen und Ungereimtheiten waren Teil meines eigentlich erholungsfördernden Urlaubs.

Minha familia & New York City

Das neue Jahr hingegen begann mit Kälte — im Beruf mit viel Arbeit, im Privaten mit viel Umbruch. Ich zog endgültig um und holte mein Hab und Gut aus Berlin. Ich wurde krank und erinnerte mich ironischerweise an meinen Umzug in die Deutsche Hauptstadt, den ich ebenfalls schlecht verdaute. Und nun ja, da war dann auf einmal mein komplettes Leben in St. Gallen. Also fast, denn die Erinnerungen und ein Stück Identität ließ ich zurück. Und wieder fragte ich mich, was denn mit mir sei. Was war ich in diesem Auswandern? Was war mein Ziel, was wollte ich denn sehnlichst und was spornte mich an? Die Antwort war zu Beginn Frieden. Endlich mal ein paar Dinge die funktionierten und liefen, aber irgendwie stellte sich heraus, dass das nicht mein Wille war.

Es verging wieder einiges an Zeit. Irgendwann war Ostern vor der Tür und ich fragte mich: wohin? Finanziell war nicht viel möglich und ein alleiniger Ausbruch nach Lissabon wie vor ein paar Jahren keine Option. Und da nun meine Familie und mich auch ein Flug trennte, blieb ich in der schönen Zwinglistrasse. Mein eigenes Zimmer war leider noch nicht fertig, alle Kisten vom Umzug noch verpackt und so wurde dieses Ostern irgendwie etwas traurig. Oder auch nicht ganz: denn ich verdanke es der Cécile, dem Marcel und der Séverine, dass ich mit ihnen und ihren Liebsten diese Zeit verbringen durfte. Ich habe wieder einmal gelernt, dass man oftmals selbst der grösste Feind ist, wenn es um Einsamkeit geht. Egal wie beengend und unwohl das Gefühl im Zug war, zu einer fremden Familie des Partners einer guten Freundin zu fahren — Menschen die Liebe teilen, teilen sie wohl mit allen Menschen die von einem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft gemocht werden. Und ja, so war das wichtigste christliche Fest für mich kein Zeitpunkt der Einsamkeit. Ostermontag machte ich etwas besonderes und fuhr nach Appenzell — also in die Stadt. Ein wunderschöner Ausflug.

In Berlin alles eingepackt — in St. Gallen alles gestrichen und schliesslich eingerichtet

Das Phänomen der Fürsorge von Nicht-Angehörigen, wenn man es so nennen darf, ist mir häufiger schon passiert. Ich dachte zuerst, es liegt an dem Mitleid, dass andere für mich hatten, dass ich allein sei. Und ja, ich gebe zu ich habe diese Wahrnehmung auch unterstrichen. Aber ich glaube ich verstehe allmählich, dass es dabei nicht um Mitleid geht und auch nie ging. Für mich persönlich war es auch nie eine Frage des Stolzes solchen Einladungen abzusagen, aber irgendwie wollte ich nie stören.

Es waren die Familien anderer, nicht meine. Und leider weiß ich auch, wie schnell ich mich in solche Konstrukte “verliebte” und sehr traurig war, wenn sie wieder weg waren oder mir fehlten. Es gibt halt in meinem Leben nicht die Partnerin mit der ich zu den Schwiegereltern verreise um das Wochenende zu verbringe, oder den Geburtstag ihrer Familienmitglieder feiere. Trotzdem bin ich immer sehr glücklich, wenn ich die Freude und das Glück anderer miterleben kann. Ich glaube das kann ich wirklich: mich für andere sehr freuen, auch wenn ich es selbst nicht habe. Ohne Neid oder irgendeinem negativen Gefühl für die anderen.

Zu Beginn dieses Textes schrieb ich über die Schwierigkeit des Schreibens. Nun, allmählich kann ich ja verraten, was mir so schwierig fiel: Darüber zu schreiben, wer ich in der Schweiz sein möchte und ob sich etwas für mich geändert hat. Nun, verrückterweise würde ich sagen, es hat sich nicht vieles geändert. Natürlich sind objektiv die meisten Dinge anders. Anderer Wohnort, andere Währung, anderer Alltag, andere Menschen, andere Speisen — ja eigentlich fast alles. Die Dinge auf die es aber ankommt, das Subjektive, also das was mich bewegt, diese Dinge sind fast wie unverändert.

Menschen um mich — Merci! :*

Zum einen meine Freunde. Etwas um das ich mich sehr gesorgt hatte — zu Unrecht. Ich dachte, dass sich mein menschliches Umfeld sehr verändern würde. Alte Freundschaften sich lösen würden oder stark verändern. Heute weiß ich, die wichtigen hielten und ich bin tatsächlich überwältigt über die Qualität dieser Freundschaften. Es gibt viele Menschen, die mich über die Distanz überwältigt haben. Die an mich denken, die für mich da sind und die häufig vorbeischauen. Einige nutzten schon die Möglichkeit und flogen in die Schweiz um mich zu besuchen. Natürlich hat sich etwas verändert, aber meine bisherigen Freundschaften sind daran gewachsen. Neu sind die neuen Freundschaften, direkt hier in der Schweiz. Menschen die sich um mich hier kümmern, die mir die Last an vielen Stellen abnehmen wollen, die mich in die Schweizer Identität einführen und mich Teil von dieser neuen Gesellschaft werden lassen. Merci vielmals dafür!

Zum anderen gibt es mein Wesen. Ebenfalls etwas, das sich meiner Meinung nicht geändert hat. Es schwierig von gut oder schlecht zu reden — jeder hat Stärken und Schwächen. Trotzdem beschäftigt es mich, dass ich einige Gedankengänge aus Berlin einfach mitgenommen habe und mit Variablen aus dem jetzigen Leben fülle. Wenn ich diese ausklammere, bleiben im Grunde wieder Zukunftsängste, die Frage nach der Liebe und dem Vertrauen gegenüber besonderen Menschen, der Drang sich selbst zu optimieren, das Bedürfnis die Aufmerksamkeit und die Liebe anderer zu haben und schließlich das Gefühl zu bekämpfen, alleine zu sein obwohl es nicht zutrifft. Vielleicht hat sich der Umgang mit diesen Themen geändert? Offener? Reflexiver? Ich weiß es nicht. Aber diese Gewissheit macht mir etwas Angst, der gleiche Mensch zu sein und das in einem komplett anderen Leben. Zeigt es zum Beispiel, dass es kein Weglaufen von diesen Problemen gibt.

Die Kulisse Schweiz — vielseitig & wunderschön

Wie ein Chamäleon passte ich mich zwar an die neue Kultur an, ersetzte Ausgehen um 1:00 bis zum Sonnenaufgang zu Berliner Techno-Beats mit gemeinschaftlichen Feiern in Schweizer Beizen oder ausgelassenen (für Berliner) früh endenden Apéros, aber die Themen die mich bewegen blieben die gleichen. Besonders groß ist die Frage nach der Zukunft. Natürlich kennt sie keiner. Natürlich haben wir nur begrenzt Einfluss auf diese. Aber nach einem Jahr Schweiz sieht die Bilanz für mich als Designer nicht so aus, wie ich sie erwartet hatte.

Wo bleiben meine Referenzen? Was habe ich als Designer gelernt? Spezialisierung im Bereich User Experience? Wann werde ich genug verdienen um die Schulden aus dem Studium zurückzuzahlen ohne auf alles mögliche im Alltag verzichten zu müssen und gleichzeitig sorgenfrei mal Abends einen Drink trinken zu können?

Fragen, auf die es keine Antwort gibt.
Nach einem Jahr, dass eigentlich die Antwort und Reaktion auf etwas sein sollte, doch etwas verwirrend und ernüchternd.

Nun erkenne ich, dass sich doch etwas verändert. Ein Beispiel: Letzten Donnerstag kam ich ins Krankenhaus wegen Problemen mit dem Magen und der Hitzewelle — wieder war ich danach alleine, zum Glück dieses Mal nicht währenddessen, weil eine tolle Arbeitskollegin alles liegen ließ und mitkam — aber ich konnte mit der Einsamkeit daheim auskommen. Es war natürlich nicht schön, aber die letzten vier Tage nutzte ich zur Erholung und dafür über all das schreiben zu können, was mich bewegt. Das wäre damals in Berlin nicht so gegangen. Ich war für mich, mit meinen Gedanken, meinen Sorgen und meinen Emotionen. Ich erkenne eine Veränderung und meiner Meinung nach ist diese Veränderung ein Erfolg. Mein Zimmer ist gemütlich, endlich fertig eingerichtet und ich fühle mich in diesem neuen Zuhause einfach wohl. Ich fühle mich an diesem Ort wohl. In diesem Land. Und das, kann mir keiner nehmen. Das was hier ist, das habe ich geschafft — nicht allein, sondern mit besonderen Menschen.

Aber ich habe es geschafft.
Und das muss die Motivation für meine Zukunft in der Schweiz sein:
Ich schaffe es.

--

--

Patrick Hummel

Someone that moved from Europe to Brazil, works as a Product Designer at the home of brands at Frontify and that unites his love in caring and acting.