Was ist dieses „unendlich“?

Quasar
4 min readAug 21, 2021

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In der Umgangssprache tauchen gelegentlich Aussagen wie „unendliches Leid“, „unendliche Weiten“, „unendlich lange“ und Ähnliches auf. Obwohl diese nicht wörtlich zu verstehen sind, werfen sie bei mir zumindest die ein oder andere Frage zum Umgang mit diesem Wort auf oder lassen mich zusammenzucken. Schließlich kann man Leid spezifizieren, denn es endet irgendwann, räumliche Ausdehnung ist ebenso begrenzt, selbst mit 93 Milliarden Lichtjahren und auch die Zeit in unserer Spezies ist endlich.

Also, wie groß ist dieses „unendlich“ eigentlich?

Zahlen sind schon eine feine Sache. Wir können mit ihnen rechnen und sie erlauben uns, Dinge in Relation zu setzen. Bis zu einem gewissen Punkt sind diese Zahlen auch noch vorstellbar. Das ändert sich jedoch recht schnell mit größeren Zahlen.

Betrachten wir Zahlen bis 1000, haben wir vermutlich eine Vorstellung davon, was diese bedeuten. Tausend Liter Wasser sind ein Kubikmeter, also ein Würfel mit einer Kantenlänge eines Meters. Eine Million bekommen wir im Normalfall auch noch hin und als Milliardär ist man wohlmöglich nicht in der Lage, diesen Betrag jemals auszugeben. Regierungen und Volkswirtschaften denken gerne in noch größeren Dimensionen. Deutschland hat ein BIP von etwa 3 Billionen Euro, also 3 Millionen Millionen, die Welt etwa 87 Billionen. Es geht aber noch größer.

Viel, viel größer.

Machen wir einen Ausflug.

Zehn hoch neun ist eine Eins mit neun Nullen, also eine Milliarde, das heißt etwa zwei hoch 30. Unsere Computer kennen nur die zwei möglichen Werte 0 und 1 zur Darstellung von Zahlen. Bis vor ein paar Jahren waren Computer mit 32-Bit Betriebssystemen ausgestattet und waren so in der Lage, etwa 4 Milliarden (=2*2*2³⁰) Zahlen darzustellen (dies ist im Übrigen auch die maximale Anzahl der möglichen IP Adressen mit IPv4). Mittlerweile sind wir bei 64-Bit Systemen angekommen, die mit etwa 18 Trillionen Zahlen (=(2⁴)*(2³⁰)*(2³⁰)~18*10¹⁸) rechnen können.

Bei IPv6 werden die Identifikationsadressen für Computer mit bis zu 128 Bit codiert. Jedes Bit kann wieder die Werte 0 oder 1 annehmen und ergibt so eine Anzahl von 2¹²⁸ (~10³⁶) verfügbaren IP-Adressen, also eine Eins mit 36 Nullen. Damit könnte man wahrscheinlich jedem Sandkorn auf der Welt eine eigene IP-Adresse zuweisen… Ist das jetzt schon unendlich, nur weil wir uns nicht vorstellen können, wie groß diese Zahl ist? Wohl kaum, schließlich ist diese Zahl immer noch endlich, und obwohl es uns schwerfällt, sie aufzuschreiben, existiert zumindest eine Schreibweise — die Potenzschreibweise — die es uns in diesem Fall erlaubt, die Zahl darzustellen. Die Zahl ist zwar unvorstellbar groß, aber endlich.

Wie auch immer. Es gibt Zahlen, die so dermaßen groß sind, dass sie jeglichen Rahmen der Vorstellungskraft sprengen. Zahlen, bei denen die Potenzschreibweise nicht mehr ausreicht, um sie darzustellen. Zahlen, bei denen wir Potenztürme in der Höhe von 2¹²⁸ oder Ähnlichem bauen. Betrachtet man beispielsweise nur die Zahl 3^(3³)~7,5 Billionen, so könnte man behaupten, dass diese eher zu den kleineren Vertretern der natürlichen Zahlen gehört. Iterativ bauen wir nun verschiedene Vertreter der natürlichen Zahlen nach der rekursiven Berechnungsvorschrift für die Graham’s Zahl. Es ist weder zielführend, Zahlen dieser Größe ausschreiben zu wollen, noch mit dem Versuch eines intuitiven Verständnisses sämtliche mathematischen Definitionen auszuhebeln, um zu beschreiben, wie diese Zahl aufgebaut ist. Allerdings produziert bereits die erste Iteration (also die erste der Zahlen, die mit diesem Gesetz gebaut wird) einen Potenzturm mit 3^(3³) Stufen, also 3^3^3^…, wobei wir 7,5 Billionen Mal die 3 benutzen. Und wir brauchen die 64. Zahl! Alles klar.

Aber all diese Zahlen sind endlich.

Unvorstellbar groß. Aber endlich. Das ist der Punkt.

Und es geht noch größer: TREE(3)

Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie groß TREE(3) ist, ohne sich hier in den Details zu verlieren: Legen wir das kleinstmögliche Medium zu Grunde, das im Universum existiert und gehen wir davon aus, dass wir in jeden dieser kleinen Teile eine Ziffer der Zahl TREE(3) packen, wäre unser Universum mit 93 Milliarden Lichtjahren trotzdem zu klein, um alle Ziffern von TREE(3) aufzunehmen.

Uff. Muss man erst einmal sacken lassen.

Sind wir jetzt am Ende unserer Reise angekommen? Ist das jetzt „unendlich“, nur weil wir nicht wissen wie wir jemals über diese Zahl denken sollten?

Nein. Sicher nicht. Diese Zahl ist zwar unvorstellbar groß, gigantisch größer als alles andere Bekannte. Aber endlich.

Unendlich ist noch viel größer. Größer als Graham’s Zahl G_64, größer als TREE(3), größer als SCG(13), größer als die Loader Funktion, größer als Rado’s Sigma Funktion Σ(n), größer als die Xi Funktion Ξ(n), größer als Rayo’s Zahl, ja sogar größer als die siebte Fish Zahl. All dies sind Zahlen. Unvorstellbar, gigantisch riesige Zahlen. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass diese Zahlen zwecks ihres Zahlseins endlich sind.

Unendlich ist größer als all dies. Viel, viel, viel größer!

Endlichkeit kann beliebig groß werden, ist aber immer noch eine Zahl, unabhängig davon, ob wir sie darstellen können, oder nicht. Unendlich ist keine Zahl. Ich wiederhole mich hier gerne, weil das so wichtig ist: Unendlich ist keine Zahl. Dies ist auch ein Grund, warum Zahlen nie „gleich“ unendlich sein können, sondern lediglich unendlich approximieren.

Unendlichkeit ist gefährlich. Ich hoffe, dass ich ein bisschen sensibler für den Begriff „unendlich“ und dessen wahre Bedeutung machen konnte. Reden wir bei objektiver Endlichkeit vielleicht besser von „beliebig“ und nicht direkt von „unendlich“.

In diesem Sinne. Bleibt gesund.

Ich bin raus.

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