Die krassen Stecher von bento, BYou und ze.tt

Warum nicht alles so schlecht ist, wie berichtet

Philipp Steuer
10 min readOct 7, 2015

Ach du scheiße. Gestern brannte gefühlt den halben Tag lang die deutsche Webosphäre. Ein 18 Jähriger hatte die Klinge herausgeholt und den Jugendableger von Spiegel Online namens bento rasiert. Oder besser in den Arsch gefickt, um bei der Wortwahl des DWDL Artikels zu bleiben. Eines muss man Miguel R. aus A. lassen: Schreiben kann er. Und die angesprochene Problematik besteht definitiv. Bei seinem Rant vermisse ich jedoch wirkliche Lösungsansätze. Die Aussage “Wir brauchen kein „heute+“ und auch kein bento” klingt ein bisschen so:

Da ich ebenfalls zur Zielgruppe gehöre und ein Freund von Lösungen bin, habe ich nachfolgend meine Gedanken zur Thematik zusammengefasst. Lieber Jan Delay, ich hoffe, der Artikel gefällt dir ebenfalls, auch wenn ich keine 18 mehr bin.

Das Jahr der Jugendportale

2015 ist das Jahr der Jugendportale. Anfang Juli startete Zeit Online das Jugendportal ze.tt. Wenigen Wochen später zog Bild am 1. September mit BYou nach und ich stelle gerade fest, dass man den Kollegen nicht mal eine eigene Domain spendiert hat. Egal. Am 01. Oktober kam dann auch noch Spiegel Online mit bento um die Ecke, dass das Dreigestirn der deutschen Jugendportale komplettierte.

Die Zielgruppe

Die Definition der Zielgruppe ist bei der ganzen Streitthematik ein Problem. Wenn ich “jüngere Generation” lese, denke ich an meine kleine 15 jährige Schwester. Damit wäre ich raus. Doch wie ich diesem Artikel hier entnehme, möchte beispielsweise bento eher die Menschen zwischen 18 und 30 Jahren ansprechen. Damit bin ich hingegen wieder voll drin. Ze.tt will die Personen zwischen erstem Schulabschluss bis ersten Jobwechsel erreichen. Und BYou setzt auf die Leser zwischen 14–18, also direkte Konkurrenz für Bravo & Co.

Wie wir sehen, definieren alle drei Portale ihre Zielgruppe komplett anders und man kann — mit diesem Wissen — die Angebote viel besser bewerten.

Das bin ich

Da ich nachfolgend ein paar Dinge kritisieren werde, möchte ich euch vorher kurz ein paar Informationen zu meiner Person geben, damit ihr die Aussagen auch besser einordnen könnt.

Ich bin Baujahr 90 und werde Ende Oktober 25. Ich gehöre damit ebenfalls zur Zielgruppe der “Jugendportale” und freue mich durch die Betitelung genau so sehr, wie wenn ich im Supermarkt Bier kaufe und an der Kasse nach meinem Ausweis gefragt werde.

Ich habe Online-Redakteur studiert und 2014 für einige Zeit das Nachrichten & Informationsnetzwerk von Mediakraft geleitet, inklusive dem seit letzter Woche leider eingestellten Kanal Was Geht Ab?!.

Ich bin also nicht nur Zielgruppe, sondern kenne mich auch mit der Thematik Nachrichten für “junge Menschen” aus. Mein eigener YouTube Kanal ist ebenfalls Spielwiese zum Testen von Inhalten.

Soweit dazu.

Die Portale im Überblick

BYou

BYou ist bunt und total crazy. Das ist zumindest der Eindruck, den man mir vermittelt möchte. Direkt als Erstes fällt mir der Artikel “Instagram | Darum darf man keine Nippel posten” ins Auge. Ich kenne die Antwort, schaue mir aber dennoch an, wie der Autor die Thematik vermittelt.

Der erste Absatz sagt alles:

Die Foto-App „Instagram“ erlaubt keine Fotos, auf denen weibliche Brustwarzen zu sehen sind. Wer Fotos von seinen Brüsten postet, wird zensiert. 😵 Trotz weltweiten Protesten äußerte sich Instagram nie offiziell zum Thema… Bis jetzt!

Hier wird extra noch mal Instagram erklärt — aha, es ist eine App! — und im Text wird mit Emojis gearbeitet 😵. Die angepeilte Zielgruppe ist mit 14–18 sehr jung, doch ob die “Komm ich erklär dir die Welt”-Ansprache ankommt… fraglich.

Fazit: für mich als fast 25 Jährigen komplett uninteressant.

ze.tt

Die Aufmachung von ze.tt ist da schon viel angenehmer für mich. Modern, nicht überfüllt und die Texte gut lesbar. Die Themenbandbreite reicht von “Hund, Hahn und Papagei: Death-Metal-Bands lassen ihre Haustiere singen” über “Warum sich Gleichberechtigung lohnt — für alle” bis hin zu „Humans of New York: Flüchtlinge erzählen ihre Geschichten”. Thematisch also eine große Hafenrundfahrt und passend zur angepeilten Zielgruppe.

Inhaltlich sind die Texte auf Augenhöhe geschrieben und es gibt auch keine Crazy-Schmazy-Wannabe-Ansprache. Das gefällt mir. Aber: Inhaltlich unterscheidet sich das Ganze kaum von den Artikeln auf der Mutterseite von Zeit Online. Ja, es ist ein bisschen bunter und die Startseite bietet den ein oder anderen Lacher. Das war es dann aber auch schon.

Fazit: Gefühlstechnisch wird mir hier — rein von der Abgrenzung von Zeit Online her — weder Fisch noch Fleisch serviert.

bento

Als ich den Namen bento las, bekam ich direkt Hunger. Ich vermute hier übrigens immer noch ein verstecktes Product Placement von Bento Box. Vorweg muss man fairerweise sagen: Das Portal ist noch keine Woche alt. Da kann und wird noch viel passieren. Mit der angepeilten Zielgruppe von 18 bis 30 Jahren müsste mich die Seite ja komplett an den Eiern haben.

Hat sie auch. Ein bisschen. Bento ist ziemlich bildlastig und eine Mischung aus Buzzfeed, NEON Magazin und Vice. Nach dem Verriss von Miguel könnte man meinen, dass jeder Artikel möglichst viele Anglizismen enthält und man versucht, so cool wie möglich zu sein. Bullshit.

Ich lese als Erstes einen Artikel über japanische Studenten, die gegen die Regierung protestieren. Als Japan-Fan für mich sehr interessant. Das Thema “Wie ich Darstellerin in einem feministischen Porno wurde” finde ich auch ganz nett.

Fazit: Im Gegensatz zu ze.tt sehe ich hier schon eine Abgrenzung zum Teil sehr langatmigen und konservativen Spiegel Online Angebot. Doch hier ist auch eindeutig mehr Trash und Content dabei, der gerade so meine Aufmerksamkeitsspanne von 5 Sekunden füllt. Definitiv ist bento nicht so schlecht, wie von DWDL behauptet.

Wenige kennen sie

Im Rahmen meiner Überlegungen wollte ich gerne von meinen Followern wissen, ob sie die drei Portale kennen. Ich startete eine Umfrage auf Twitter:

Insgesamt haben die Umfrage (Stand jetzt) 865 Menschen ausgefüllt. 708 davon haben noch nie etwas von einer der drei Seiten gehört. Bento hat nach einer Woche mit 85 Personen die größte Bekanntheit, danach folgen ze.tt und BYou. Ich lasse an dieser Stelle jeden selbst beurteilen, inwiefern die Zahlen repräsentativ sind. Die Rohergebnisse können bei mir jederzeit angefragt werden.

Probleme + Lösungen

Nachdem ich alle Portale analysiert und auf die Zielgruppe hingewiesen habe, möchte ich nachfolgend den Problemen direkt meine Lösungen gegenüberstellen.

Problem 1: Die Ansprache

Es ist ein bisschen schwierig, auf einen Blick herauszufinden, wen man jetzt genau ansprechen möchte. Spricht man von “jüngerer Generation”, denke nicht nur ich an die Menschen unter 16. Die möchten ze.tt und bento nach eigenen Aussagen jedoch gar nicht haben. BYou schon. Das ist zum Beispiel für einen jungen Mediendienst-Praktikanten sehr verwirrend, denn er hat gar nicht die Zeit, sich so sehr mit der Materie zu beschäftigen, wie ich.

Lösung: Noch besser kommunizieren, wen man ansprechen möchte. Zielgruppendefinitionen wie “Generation Hashtag” sind einfach viel zu schwammig. Außerdem immer auf Augenhöhe bleiben. Niemand mag es, belehrt zu werden.

Problem 2: Lahme Inhalte

Wie ich oben bereits erwähnte, ist mir persönlich ze.tt viel zu nah an Zeit Online angelehnt. Und diese Seite hat schon öfter dafür gesorgt, dass mir bei langatmigen Artikeln die Füße eingeschlafen sind. BYou hingegen ist derart leichte Kost, dass ich beim Lesen der Artikel nebenbei problemlos Chinesisch lernen könnte. Das spricht mich nicht an, für die ganz jungen YouTube-Fans dürfte es reichen. Und bento liegt aktuell dazwischen. Ein bisschen Bildung hier, ein bisschen Haha (kein Witz, so heißt die Kategorie wirklich) da.

Lösung: Die drei Portale sehen sich selbst alle als experimentelle Content-Wiese. Ja gut, dann zeigt mir das auch. Ich wünsche mir mehr Überraschungen. Mehr Originalität. Klarkann man bei Vice und Buzzfeed gucken. Aber man darf dabei nicht vergessen, die eigene Handschrift mit in die Inhalte einzubringen. Nur so schafft man es, einen Mehrwert zu bieten, der die Leser wiederkommen lässt.

Problem 3: Kaum Videos

Was mir auffällt: Die Angebote setzen aktuell noch sehr wenige bis gar keine Videos ein. Dabei sind Videos eine tolle Möglichkeit, schnell und einfach Informationen zu übermitteln. Buzzfeed macht es vor. Business Insider ist ebenfalls ein gutes Beispiel für den perfekten Einsatz von Bewegtbild. Videos werden einfach gerne geteilt und bieten vor allem für die Jugendportale ein immenses Potenzial.

Ze.tt hat das bereits bewiesen. Das Video “50 Friseure schneiden 300 Flüchtlingen die Haare” hat 1,974,175 Views, knapp 30.000 Likes und wurde mehr als 13.000 Mal geteilt. Diese Zahlen erreichen auch deutsche YouTube Stars nur mit Mühe und Not. Auch die Videos “Ich bin schwarz — und schwul” sowie “Flüchtlinge schlafen auf der Straße” konnten 40–50k Aufrufe generieren.

Mehr Überzeugungsarbeit muss ich nicht leisten. Bento hat ebenfalls schon eigene Videos am Start. Zum Beispiel das hier von Tarik Tesfu. Er ist übrigens auch im verlinkten Video “Ich bin schwarz — und schwul” von ze.tt zu sehen. Der doppelte Jugendportal Tarik also.

Die Botschaft selbst ist super, das Video aber spricht mich nicht an, es ist ein bisschen zu sehr Fernsehen gepaart mit einer Brise YouTube. Das Ergebnis für mich eher meh, aber ich weiß, dass die Verantwortlichen bereits in Kontakt mit weiteren YouTubern sind, um eigene Formate zu entwickeln. Man möchte lernen. Und das ist der entscheidende, gute Punkt.

Lösung: Macht mehr Videos. Welche, die auch ohne Ton funktionieren können. Für den Tipp komme ich in die Hölle: Experimentiert mit hochkant, es gibt da tolle Ansätze. Doch bitte verzichtet auf den TV-typischen Schnitt. Authentizität first. Womit ich beim nächsten Punkt bin.

Problem 4: Keine Persönlichkeiten

Dieser Punkt fällt mir ebenfalls eher negativ auf. Wenn man doch schon eine Spielwiese hat, warum zeigt man nicht offensiver die Gesichter, die für die Inhalte verantwortlich sind? Ich meine: Wenn ich nur Nachrichten lesen wollen würde, dann reicht mir Google News.

Was mich überzeugt und fesselt, sind Persönlichkeiten. Ich möchte Menschen sehen, die hinter ihren Artikel stehen und eine Meinung vertreten.

Das klappt auf YouTube, Snapchat und Vine so gut. Warum nicht auch auf diesen Portalen? Ich hab mir die Redakteure von ze.tt und bento angesehen. Ich kann mir alle vor der Kamera sehr gut vorstellen. Liebe Redakteure, ihr schreibt doch auch immer so humorvolle Tweets. Warum präsentiert ihr euch dann nicht auch etwas offensiver auf euren Plattformen?

Ja, es gibt das Autorenbild plus Profil. Ja, es gibt das Teambild. Aber da ist noch so viel Platz nach Oben. Natürlich ist es ein bisschen Selbstdarstellung. Aber Selbstdarstellung ist überhaupt nichts Schlimmes, wenn man mit Inhalten glänzt.

Lösung: ZEIGT EUCH MEHR! Wenn ihr mich und andere Leser der “jüngeren Generation” an euch binden möchtet, dann ist das eine super Möglichkeit. Tut mir dabei aber bitte nur einen Gefallen: Zieht euch den Stock aus dem Arsch. Danke ❤!

Problem 5: Wir

Meine Fresse. Was sind wir doch alles für ein herablassender Haufen. Am Beispiel von bento, BYou und ze.tt sieht man doch wieder, wie geil wir uns alle hinter unserem Bildschirm fühlen und wie gerne wir andere beim vermeintlichen Scheitern und Fehler machen auslachen. Ein spitzer Tweet ist schnell geschrieben. Ein launischer Artikel ebenfalls. Urteilen und reden kann jeder. Aber Verbesserungsvorschläge kommen von den wenigstens.

Wir haben vor allem in Deutschland diese ekelhafte Art, neue Dinge direkt zu Beginn zu verteufeln. Dabei sind doch gerade wir diejenigen Menschen, die den digitalen Wandel hierzulande befürworten und als gutes Beispiel vorangehen sollten.

Die Portale sind gerade mal 3 Monate (ze.tt) oder noch keine Woche alt (bento) und dennoch kloppen wir mit großer Schadenfreude darauf rum. Ich verstehe das nicht und werde es auch niemals akzeptieren können.

Kritik an sich ist gut. Es soll und darf auch kritisiert werden. Nur so werden die Angebote besser und die Verantwortlichen der Angebote, mit denen ich gesprochen habe, sind offen für Verbesserungsvorschläge.

Lösung: Chillext mal, ihr Oberlehrer. Hinter den Portalen stecken kluge kreative Köpfe, die -hoffentlich- die Möglichkeit bekommen, ihr Potenzial zu entfalten. Doch das braucht Zeit. Erst nach einem Jahr kann man doch wirklich sagen, ob es funktioniert, oder nicht. Vielleicht auch nach sechs Monaten. Aber doch nicht nach sechs Tagen.

Und nun?

In einem Punkt muss ich Miguel recht geben: Wenn ich ernste News lesen will, werde ich weiter zu [Hier Nachrichtenseite XYZ einfügen] gehen. Und da bleibe ich auch und sehe die Jugendportale nicht als direkte Ablösung für meine Generation.

Das Potenzial der Angebote liegt in den Möglichkeiten, einfach mal komplett zu eskalieren. Stories bringen, die nicht mal die Bild bringt (😃). Da kann es gerne in dem einem Artikel um Titten auf Instagram und in dem anderen um das Safe-Harbor-Abkommen gehen.

Nicht nur für mich als Mitglied der “jüngeren Generation”, sondern auch für “ältere Leser” ist ein bunter Themenmix wichtig, der mich inhaltlich überrascht.

Überraschen könnt ihr mich mit guten Videos. Persönlichkeiten. Neuen Perspektiven. Gerne auch mit einer deutschen (Video)-Reportage über professionelle League of Legends Spieler in Südkorea. Oder auf Snapchat.

Mit Wannabe-Jugendsprech oder Inhalten, die für Amöben geschrieben wurden wird das nicht klappen. Ebenso wenig wie wenn man die Themen der Mutterseiten etwas bunter und “cooler” aufbereitet.

Enttäuscht mich nicht. Überrascht mich lieber.
Dann kann das was Ernstes mit uns werden.

P.S. Und vielleicht mit Miguel auch.

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Philipp Steuer

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