Ein Manifest der Menschenrechte

Brandschrift mit vier Thesen über den Umgang der deutschen Medien mit Menschenrechtsthemen

These 1: Menschenrechtsorganisationen finden in den deutschen Medien kein Gehör

Alle Menschenrechtsorganisationen kämpfen mit demselben Problem: die klassischen Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit versagen ihnen unter der Hand. Pressemitteilungen werden nicht gelesen, hartnäckiges „Lobbying“ versandet im Nichts, sogar Interventionen in den Chefredaktionen führen nur zu Verlegenheitsgesten.
Die Berichterstattung über die Belange und Interessen von Krieg, Hunger und Verfolgung betroffener Menschen findet im besten Falle noch an der Medienperipherie statt. Journalistinnen und Journalisten erstatten ihrer Gesellschaft keinen Bericht mehr. Dadurch wird eine ganze Gesellschaft in den Zustand von Ahnungslosigkeit versetzt.

Beispiel: Am 7. Januar 2010 warnten 140 Menschenrechts- und Hilfsorganisationen vor einem Krieg im Süden Sudans. Am selben Tag vermeldete die UNO ein Massaker an 139 Zivilisten in einem Dorf im Südsudan. Die klassischen Muster für eine breit gefächerte Medienberichterstattung waren gegeben. Die deutsche Presse reagierte mehrheitlich mit Schweigen. Die Öffentlichkeitsarbeit von 140 Hilfsorganisationen konnte nichts ausrichten gegen die Selektionskriterien der deutschen Medien. — Darauf müssen wir reagieren.

These 2: Berichterstattung ist die mündigste Form der Erziehung

Im selben Moment, in dem sich ein bis dato gänzlich unbekannter Fußballspieler der Nationalmannschaft im Herbst 2009 vor einen Zug wirft, verhaften Fahnder des BKA sozusagen im Schatten Ignace Murwanashyaka. Der Fall ist spektakulär: Murwanashyaka war Chef ruandischer Paramilitärs im Kongo. Er organisierte und steuerte die FDLR, so der Name der Truppen, von Mannheim aus. Jahrelang. Die deutschen Behörden versuchten, ihn wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsbestimmungsrecht dranzukriegen. Das ist so, wie wenn man einem Mörder den Prozess wegen unbezahlter Abfallgebühren machen wollte.

Die Geschichte des Fußballspielers landet auf den Titelseiten, der tote Nationaltorwart wird posthum zur Galionsfigur Deutschlands verklärt. Berichte über die erste Festnahme eines auf deutschem Staatsgebiet gefassten internationalen Kriegsverbrechers, nach den Bestimmungen des Völkerrechts, landete im hinteren Teil der Zeitungen. Fernsehsender zogen erst Monate später nach und mussten alle Aufnahmen aus dem Kongo mit „Archiv“ überschreiben. Weder Justiz noch Journalisten haben die Ungeheuerlichkeit genozidaler Kriegsführung wirklich verstanden. Im Kongo sind in den vergangenen dreizehn Jahren mindestens fünf Millionen Menschen gestorben. UNO, Human Rights Watch und Amnesty International warnten die Behörden ab 2001. Aber die Justiz interessierte sich nicht für Ignace Murwanashyaka. Und die Medien, die auf die Behörden hätten Druck ausüben können, auch nicht.
Nicht die Boulevardmedien sind das Problem. Die „seriösen“ Medien haben jedes Maß für ausgewogene Berichterstattung verloren. Sie berichten über 13 Tote in Fort Hood, nicht aber über 138 Tote in Guinea (Massaker vom 28. September 2009). Sie berichten über fünf Opfer der Schweinegrippe, nicht aber über 50.000 Tote, die die weltweit grassierende „Hungergrippe“ Tag für Tag fordert. Unnötig Gestorbene. Wir hätten ihren Tod verhindern können. Die medialen Auswahlkriterien kommen in den Augen aller, die sich für die Menschenrechte einsetzen, einer Kriegserklärung gleich.

Worüber einer Gesellschaft Bericht erstattet wird, ist eine Form der Erziehung. Womöglich die dezenteste. Was lernt ein Jugendlicher über den Wert des Menschen aus der Presse? Was ihm vorgelebt wird, ist dies: dass 13 Tote in Amerika „irgendwie“ mehr wert sind als 130 Tote in Guinea. Dass der Tod eines bis dato völlig unbekannten und unbedeutenden Nationalspielers der Fußballmannschaft „irgendwie“ berichtenswerter ist als der Tod von 100 Menschen am Tag, die vor der „Festung Europa“ ertrinken.
Deutschland ist der drittgrößte Waffenhändler der Welt. Im Wahlkreis des Chefs der CDU/CSU-Bundestagsfraktion befindet sich ein Unternehmen, dass die zweitmeistgebrauchte Waffe nach der Kalaschnikow produziert. „Made in Germany“ bedeutet in den Krisengebieten dieser Welt eben nicht „BMW“ oder „Mercedes“, sondern „G3“: ein deutsches Sturmgewehr.
Die Medien tanzen wie ein afrikanischer Stamm um die Fetische „CDU“ und „SPD“ (die sie mit Politik verwechseln). Politik ist die höchste Form der Kunst, hat Schiller einmal gesagt. Die Politiker dieses Landes sind in ihrem Fetischismus unerträglich: sie opfern sich monatelang für die weltweit 25.000 Angehörigen des Volksstammes „Opel“ auf, anstatt diese Energien in unser aller Zukunft zu investieren.
Lange vor der „Finanzkrise“ sagte ein deutsches Mädchen, gefragt danach, wie sie die Zeit empfinde, in der sie lebe: „Seit ich denken kann, herrscht Krise.“ Uns würden die Gefühle dieses Mädchens heute, drei Jahre und siebzehn Krisen später, interessieren. Die Quittung für diesen Exzess, diese Hysterie, diese journalistische Maß-, Regel- und Verantwortungslosigkeit wird uns alle erreichen, wenn diese Generation politische Entscheidungen zu treffen hat. Eine Aufgabe, die von heutigen Politikern keineswegs beispielhaft vorgelebt wird. Wenn die Jugendlichen des reichsten und mächtigsten Landes der EU, eines Landes, dessen wirtschaftliche Leistung sich seit 1960 verdreifacht hat, überzeugt sind, in einer instabilen ökonomischen, politischen oder mentalen Welt zu leben, worin befinden sich geschätzte drei Milliarden der Weltbevölkerung, die von Hunger, Tod und politischem Wahnsinn verfolgt werden?

These 3: Selbst Tiere werden von Deutschland politisch besser geschützt als Menschen

Es ist eine unausgesprochene Tatsache, dass im Jahre 2010 in Deutschland selbst Tiere politisch besser geschützt werden als Menschen. Es erinnert an den Zoo von Sarajevo, wo während der dreijährigen Belagerung ein Gorilla von einem serbischen Scharfschützen erschossen wurde. Der Tod des Gorillas brachte eine mediale Lawine ins Rollen, die 11.000 Tote Bosnierinnen und Bosnier zuvor nicht in Gang bringen konnten. “Gorilla müsste man sein”, zitiert auch Hans Christoph Buch seinen ruandischen Fahrer 1994. “Heute geht es ihnen besser als uns Menschen; sie leben in Reservaten, sind vor Wilderern geschützt und bekommen regelmäßig zu fressen.“ Dieser Nachrichtenselektionsmechanismus kommt einer Kriegserklärung gleich.
Ein Teil der Schuld liegt in der Natur der Sache: Menschenrechtsverletzungen, bei denen so viel mehr als „Rechte“ verletzt werden, müssen zunächst dokumentiert werden, sich den Weg aus der politischen Zensur bahnen. Danach erschöpfen sich die Kräfte der etablierten Menschenrechtsorganisationen. Amnesty International versendet als Gegenstrategie Briefe aus den reichsten Weltteilen an die Diktatoren der Welt. Human Rights Watch schreibt erstklassige Berichte. Aber keine dieser Organisationen trägt „Wissen“ auf die Strasse. Keine hat es geschafft, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Präzedenzklage einzureichen gegen die EU-Mitgliedsstaaten wegen gezielter Tötungen zur „Sicherung“ der Außengrenzen. Keine Organisation ist auf die Idee gekommen, Rettungsinseln für die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu bauen.

These 4: In Deutschland fehlt ein “Greenpeace” der Menschenrechte

Wenn einen die Nachrichtenselektionsmechanismen anwidern, hat man zwei Möglichkeiten als Menschenrechtler: Entweder weiterhin an den Bildungsauftrag von Journalisten appellieren, dass Menschen tagtäglich sterben, gerade weil wir nichts dagegen unternehmen. Oder die Journalisten bedienen mit Lärm, Sensation und Hysterie. Eine eigentümliche Verbindung, wie sie Greenpeace in den 1990ern für die Umweltthemen erfolgreich vorgelegt hat. Deutschland besitzt heute die umtriebigsten Umwelt- und Tierschützer. Fehlt da nicht etwas?

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