Aufstieg ins Ungewisse: Eine Reise zum Lenin Peak und darüber hinaus
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Abenteuerlust
Letzten Herbst blätterte ich durch einen Expeditionsbericht im SAC-Magazin und erwähnte beiläufig gegenüber meiner lieben Frau, wie unglaublich es wäre, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Eigentlich hatte ich mich bereits damit abgefunden, dass solche Abenteuer mit einer Familie nahezu unmöglich sind — und dann ist man entweder zu alt oder es fehlt an Zeit und Geld. Zu meiner Überraschung schlug sie vor, ob ich das nicht auf meinen nächsten Geburtstag machen möchte — Sie würde dieses Vorhaben voll und ganz unterstützen. Als mir klar wurde, dass sie es ernst meinte, sprachen wir darüber und ich begann, die Möglichkeiten zu erkunden.
Nach gründlicher Recherche, einigen E-Mails und Telefonaten sowie einer sorgfältigen Budgetplanung entschied ich mich, an einer Expedition im Pamir-Gebirge teilzunehmen, um den Lenin Peak (Ibn Sina) zu besteigen — einen atemberaubenden 7'134 Meter hohen Gipfel im Pamir-Gebirge, an der Grenze zwischen Kirgisistan und Tadschikistan.
Die Reaktionen von Freunden und Familie reichten von „Warum lässt sie dich das machen?“ und „Das würde ich nicht mal machen, wenn man mir dafür Geld bietet!“ bis hin zu „Du bist verrückt!“ und „Wow, HAMMER! Ich würde am liebsten mitkommen!“. Aber so richtig wollte niemand mitkommen.
Die Vorbereitung war an sich schon ein grossartiges Erlebnis. So habe ich unzählige Stunden, Tage und Monate der Recherche nach der notwendigen Ausrüstung gewidmet. Ich stellte Listen zusammen, verglich Ausrüstungspreise und -gewichte und besuchte zahlreiche Geschäfte und Online-Shops, um sicherzustellen, dass ich die bestmögliche Ausrüstung hatte (was sich später als gut investiertes Geld und Zeit herausstellte!). Hochgebirgsbergsteigen ist nicht günstig — es sei denn, man hat das Können und das Glück, Sponsoren zu finden.
Mit meiner Erfahrung beim Besteigen einiger 4'000er Gipfel in den Alpen und regelmässigen Bergläufen intensivierte ich mein Training und lief wöchentlich zwischen 20 und 40 Kilometern, um mich auf das Abenteuer vorzubereiten. Ich war bereit.
Die Reise beginnt
Die Expedition beginnt mit der Ankunft in Osh, Kirgistan, gefolgt von einem Transfer zum Basislager auf 3'600 Metern. Die ersten Tage stehen im Zeichen der Akklimatisierung mit Wanderungen zu nahegelegenen Gipfeln und Graten. Der Aufstieg beginnt dann offiziell am fünften Tag mit dem Umzug zum Camp 1 auf 4'400 Metern, gefolgt von schrittweisen Aufstiegen zu höheren Lagern. Nach mehreren Tagen der Akklimatisierung und Vorbereitung versucht man den Gipfel ungefähr am 17. Tag zu besteigen, um nach dem 7'134 Meter hohen Gipfel zurück zum Camp 3 und weiter abzusteigen. Die Expedition endet mit der Rückkehr nach Osh.
Gefahren und Idioten
Wenn man ‚Lenin Peak‘ googelt, stellt man auf den ersten Blick fest, dass er trotz seiner beeindruckenden Höhe als einer der leichteren und zugänglicheren 7‘000er gilt. Dies lockt sowohl erfahrene Bergsteiger als auch ehrgeizige Amateure aus der ganzen Welt an. Aber auch viele völlig unvorbereitete „Touristen“, die dort oben wirklich nichts verloren haben, es sei denn, sie wollen den Darwin Award gewinnen.
Let me be clear: Es gibt keine leichten und zugänglichen 7'000er. Keinen einzigen. Es ist schwierig, an genaue Daten zu kommen, doch wird die Erfolgsquote für den Aufstieg auf den Lenin Peak auf irgendwo zwischen 15 % und 25 % geschätzt — abhängig von der Jahreszeit und den Wetterbedingungen. Während meiner Zeit dort hätte ich diese Zahl sogar noch niedriger geschätzt, aber die Bedingungen waren alles andere als ideal.
Bergliteratur, Dokumentarfilme und Berichte nennen häufig ähnliche Gründe, warum Menschen in den Bergen ums Leben kommen:
- Unterschätzte Wetterbedingungen: Beobachte den Himmel, hol dir regelmässig Updates und sprich mit Bergführern und erfahrenen Bergsteigern.
- Menschlicher Ehrgeiz: Wissen, wann es Zeit ist, umzukehren, auch wenn es nur 30 Minuten bis zum Gipfel sind. Dein Leben ist wichtiger als der Gipfel!
- Mangelnde Skills: Eine Hochgebirgsexpedition ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zum ersten Mal Steigeisen anzulegen.
- Schlechte Ausrüstung: Die billigen Handschuhe von Decathlon werden auf diesen Höhen nicht ausreichen — Finger und Zehen sind schneller gefroren als man meint.
- Mangelnde körperliche Fitness: Hochgebirgsbergsteigen fordert einen erheblichen Tribut vom Körper. Man muss sich schnell bewegen, um beispielsweise das erhöhte Risiko von Lawinen und Gletscherspalten am Nachmittag (wärmere Temperaturen) zu vermeiden.
Einige dieser «Touristen» (in meiner Heimat, dem Wallis auch „Grampis“ genannt, Führerlose) da oben sorgten dafür, dass sie jedes verdammte Kästchen auf dieser Liste abhakten.
Doch nicht nur mangelnde Erfahrung führt am Lenin Peak zu Tragödien. Der Berg ist auch für seine inhärenten Gefahren berüchtigt, mit Denkmälern im ganzen Tal (ums Basislager), die an mehrere grosse Katastrophen erinnern. Die berüchtigtste ereignete sich im Juli 1990, als eine riesige Lawine am Camp II (etwa 5'300 Meter) 43 Bergsteiger das Leben kostete. Es bleibt eines der tödlichsten Ereignisse in der Geschichte des Bergsteigens und verdeutlicht die Risiken von Hochgebirgsexpeditionen in lawinengefährdeten Gebieten.
Eine weitere Tragödie ereignete sich 1974, als bei einer sowjetischen Expedition acht Bergsteigerinnen während eines heftigen Sturms in der Nähe des Gipfels um’s Leben kamen. Diese Vorfälle unterstreichen die tödlichen Bedingungen am Lenin Peak, wo selbst erfahrene Bergsteiger überwältigt werden können.
Zurück zu meiner Expedition: Nach 28 Stunden ununterbrochener Reise kamen wir im Basislager auf 3’600m an und hatten gerade das Abendessen beendet, als wir den ersten Bericht über zwei Tote hörten — einen türkischen und einen iranischen Bergsteiger, die nicht vom Gletscher zurückgekehrt waren. Ein weiterer Bergsteiger, dem ich begegnete, als er vom Camp III abstieg, hatte acht seiner Finger verloren und seine Nase war schwer verletzt und schlicht brandschwarz.
Während meiner Zeit auf dem Berg ereigneten sich weitere Vorfälle, und am Tag des Gipfelversuchs musste ich sogar an einem verstorbenen Bergsteiger im Schnee vorbeigehen. Zunächst hielt ich den Körper für liegengelassene Kleidung (wer lässt auf ca. 6'800m seine Kleidung liegen?) — ein klares Zeichen dafür, dass mein Gehirn aufgrund der Höhe nicht mehr voll funktionstüchtig war. Auf dem Razdelnaya Peak (6'148m) versuchte ich, einen Stern in den Schnee zu zeichnen. Es brauchte vier Versuche, bis es mir endlich gelang, und als ich dann meiner Frau schreiben wollte, dass ich den Gipfel erreicht hatte, vergass ich den Namen des Gipfels (normalerweise habe ich ein ziemlich gutes Gedächtnis).
Die körperlichen und mentalen Herausforderungen im Hochgebirge sind tiefgreifend. Im Camp III, auf 6'100 Metern Höhe, hat man nur noch etwa 48 % des Sauerstoffs, der auf Meereshöhe verfügbar ist. Auf dem Gipfel sind es nur noch knapp 41 %. Jeder Schritt wird zunehmend schwieriger, und das Atmen fühlt sich an, als würde man rennen, obwohl man nur bergauf läuft.
Akklimatisierung ist entscheidend; der Körper braucht Zeit, um sich an den Sauerstoffmangel und die Druckunterschiede zu gewöhnen. Kopfschmerzen sind häufig (auch bei mir), und solange sie nicht extrem schmerzhaft oder chronisch sind, können sie in der Regel mit frei verkäuflichen Medikamenten wie Aspirin oder Paracetamol behandelt werden.
Temperaturschwankungen stellten eine weitere körperliche Herausforderung dar, mit Werten von -40°C in höheren Lagen bis +40°C in Osh — ein fast 80-Grad-Celsius-Unterschied, der dem Körper erheblich zusetzt.
Trotz des hervorragenden Essens im Basislager und im Camp I verlor ich während des Abenteuers fast 10 % meines Körpergewichts, und ich bin in solider Verfassung und fit gestartet.
Gipfeltag
Nach mehreren Auf- und Abstiegen zur Akklimatisierung standen wir vor dem Gipfeltag, einer unglaublich anspruchsvollen Herausforderung, bei der man sich mit der Höhe, der Erschöpfung und den schwierigen Wetterbedingungen auseinandersetzen muss. Der Aufstieg zum Gipfelgrat beginnt sehr früh. Wir brachen kurz nach 01:00 Uhr morgens auf, was die Herausforderung von eiskalten Temperaturen und Schlafmangel noch verschärfte. Auf dem Grat standen wir vor zwei besonders steilen und ausgesetzten Abschnitten, von denen einer (‚The Knife‘) mit Fixseilen gesichert war. Der Grat selbst ist im Allgemeinen breit mit unterschiedlichen Höhenlagen, was eine zusätzliche Ausdauerprobe darstellte. Etwa zehn Mal dachte ich, den Gipfel erreicht zu haben, nur um festzustellen, dass dem nicht so war. Endlich, nach 7 Stunden und 40 Minuten — gemäss meinem Bergführer die schnellste Zeit in dieser Saison — erreichten wir den Gipfel. So aufregend es auch war, auf dem Gipfel zu stehen, wusste ich, dass die Reise erst zur Hälfte vorbei war. Wir stiegen den langen Weg zum Camp III hinab, schliefen eine Stunde und setzten dann unseren Abstieg zum Camp II fort, um dort etwas besser ausruhen zu können.
Begegnung mit den schmelzenden Giganten
Die Auswirkungen der globalen Erwärmung und dem Rückgang der Gletscher wurde mir durch eine schaurige Geschichte eines schottischen Professors an der Bar verdeutlicht. Er erzählte, wie die zurückweichenden Gletscher nun die Überreste von Bergsteigern freilegen, die lange als verloren galten. In einem Fall entdeckte man die Überreste eines deutschen Bergsteigers, identifiziert durch persönliche Gegenstände, einschliesslich einer Kamera mit Film, der zur Analyse an eine Universität geschickt wurde. Diese unheimliche Erinnerung an die Vergangenheit unterstrich, wie sehr sich die Umwelt verändert.
Wir erlebten diese Veränderungen am letzten Tag hautnah. Als wir mit dem Abstieg vom Camp II begannen, beschlich uns ein ungutes Gefühl. Die Temperaturen waren um mehr als 10 Grad gestiegen und verwandelten den einst stabilen Pfad in einen tückischen Hindernisparcours. Der vorangegangene Nachmittag und die Nacht hatten zwei Lawinen auf unserer Route ausgelöst, die das Gelände zerklüftet und instabil hinterliessen. Auf unserem Weg nach unten mussten wir über klaffende Gletscherspalten springen, von denen einige zuvor mit Leitern überquert wurden, die nun zerbrochen und in der eisigen Leere verschwunden waren.
Die Fixseile waren kaum gesichert, einige waren höchstbedenklich mit Säcken mit (dem nun warmen) Schnee im Boden verankert. Jeder Schritt war angespannt, jede Bewegung sorgfältig kalkuliert. Unsere Augen suchten ständig nach der nächsten versteckten Gletscherspalte. Dieser Abstieg hatte sich in ein verzweifeltes Rennen gegen den unberechenbaren Zorn des Berges verwandelt.
Während ich weiter abstieg, mit den Erinnerungen an diese gefährlichen Sprünge über Gletscherspalten und die zerbrochenen Leitern, konnte ich den Gedanken nicht abschütteln, dass der Lenin Peak ein Mikrokosmos der Veränderungen ist, die überall auf unserem Planeten geschehen.
Mein Bergführer, ein Mann weniger Worte und mit nur grundlegenden Englischkenntnissen, brach sein übliches Schweigen, als wir schliesslich den Boden des ‚Ice Falls‘ zwischen Camp II und Camp I erreichten. Er sah mich an, sein Gesicht ernst, und sagte: „OK, das war gefährlich. Lass uns das nicht noch einmal machen!“ Ich stimmte zu.
Reflexionen
Wenn ich über meine Reise zum Lenin Peak nachdenke, stelle ich fest, dass ich durch diese Erfahrung sowohl körperlich als auch geistig tiefgreifend verändert wurde. Das Abenteuer stellte meine Grenzen auf eine Weise auf die Probe, die ich nicht erwartet hatte — jeder Schritt auf den Berg war nicht nur eine Auseinandersetzung mit der harten Umgebung, sondern auch mit meiner eigenen Widerstandskraft und Entschlossenheit. Die Realität der globalen Erwärmung, die durch die zurückweichenden Gletscher und die düsteren Entdeckungen, die sie offenbaren, deutlich wurde, fügte dem Aufstieg eine ernüchternde Dimension hinzu. Es ist eine Sache, über diese Veränderungen zu lesen, aber eine ganz andere, sie aus erster Hand in einer so abgelegenen und unerbittlichen Landschaft zu erleben. Diese Reise war nicht nur ein Aufstieg zum Gipfel; es ging darum, sich der Vergänglichkeit des Lebens zu stellen, der Dringlichkeit des Umweltschutzes und den tiefgreifenden Auswirkungen, die solche Herausforderungen auf den menschlichen Geist haben können. Während ich in mein tägliches Leben zurückkehre, trage ich ein erhöhtes Bewusstsein und eine tiefere Wertschätzung sowohl für die wunderbare Natur als auch für die Widerstandskraft, die erforderlich ist, um ihre extremsten Ecken auf der Welt zu bewältigen, mit mir.
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