Kernenergie in der Sackgasse

R Schleicher-Tappeser
7 min readSep 18, 2022

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Die Technikgeschichte zeigt: Kernkraft für die Energieversorgung ist eine hoffnungslos überholte Technologie / Folge 3

Kernkraftwerk Flamanville — nach 15 Jahren Bauzeit noch nicht fertig ©Wikimedia Commons

In den ersten Folgen dieser 12-teiligen Serie ging es um die Vorgeschichte der Kernspaltung, die Entwicklung der zivilen Nutzung der Atomenergie, ihre zwei grundlegenden Probleme und die aufkommenden Zweifel in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Diese Folge beleuchtet kurz die aktuelle Situation der herkömmlichen großen Leichtwasser-Kraftwerke und geht dann auf die (vergeblichen) Hoffnungen ein, dass mit kleineren Reaktoren ein Neustart der Atomenergie gelingen könnte.

Anhaltender Niedergang

Vierzig Jahre nachdem in der Folge von anhaltenden Kostensteigerungen, ungelösten Problemen und dem Reaktorunfall von Three Miles Island (1979) viele Kernkraftprojekte gestoppt wurden, sieht die Bilanz der Kernenergie nicht viel besser aus. Tatsächlich wurden nach 1990 nur noch wenige Kernkraftwerke in Betrieb genommen, die meisten davon in China. 2021 waren 415 Reaktoren (1989: 418) mit einer Gesamtleistung von 369 GWe (1989: 310 GWe) im Betrieb. Während die Kernenergie 1990 immerhin 17% der weltweiten Stromproduktion lieferte, sank ihr Anteil bis 2019 auf 10%. Ein Auslaufmodell: 2021 betrug das Durchschnittsalter der im Betrieb befindlichen Kernkraftwerke über 30 Jahre.

Interessant ist die Aufschlüsselung nach Ländern: In der Dekade 2011–2021 stieg die weltweite Produktion von Atomstrom nur um 0,5%. In der OECD sank sie um 1,2%. Die einzigen Länder, in denen die Atomstromproduktion während des letzten Jahrzehnts um mehr als ein Prozent stieg, waren: Iran (41,9%), China (16,7%), Pakistan (14,9%), Indien (3,1%), Russland (2,5%) und Mexico (1,7%).

Während die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA aufgrund von Finanzdaten vorerst keine Knappheit von Uran-Ressourcen voraussieht, rechnet eine umfangreiche österreichische Studie zu den Energiebilanzen damit, dass der Energieaufwand für die Brennstoffherstellung wegen des sinkenden Urangehalts der verbleibenden Uranerze so ansteigt, dass die Energiebilanz der Kernenergie mit heutiger Leichtwasser-Technologie je nach Wachstumsszenario zwischen 2050 und 2075 negativ wird, d.h. dass sie über den gesamten Lebenszyklus mehr Energie verbraucht als generiert.

Die nukleare Community ist kleiner geworden. An den Universitäten wurden die entsprechenden Studiengänge abgebaut. In der Branche zu arbeiten ist schon lange nicht mehr chic — außer neuerdings in einigen unten beschriebenen Start-ups. Aber für den Betrieb der laufenden und den Rückbau der stillgelegten Kernkraftwerke werden nach wie vor Spezialisten gebraucht. Und für die Entsorgung des Abfalls.

Die Forschungsprogramme für die einstigen „Zukunftsreaktoren“ wurden abgewickelt: Hochtemperaturreaktoren wurden in den USA und Deutschland schon in den Achtzigern stillgelegt, nur China entwickelt noch weiter. Die einst hochgepriesenen Schnellen Brüter wurden weitgehend unfertig aufgegeben: in Deutschland 1991 (Kalkar, Kosten bis zum Baustopp 3,1 Mrd. €), USA 1992, Japan 2016 (Monju, 7,8 Mrd.€) und Frankreich 2018 (ASTRID). Nur Russland, Indien und China arbeiten noch mit Großreaktoren an dieser Technologie — und kleine Projekte hoffen neuerdings auf eine Renaissance des Konzepts mit Minireaktoren (siehe unten).

Aber Frankreich hält die nukleare Fahne noch hoch. Mit rund 70% der Stromproduktion ist kein Land so abhängig von der Atomkraft. Im Herbst letzten Jahres hat Präsident Macron ein großes Programm für den Bau neuer großer Kernkraftwerke in Frankreich angekündigt. Jetzt stehen seit Monaten mehr als die Hälfte der 56 französischen Kernkraftwerke still, entweder weil wegen des Klimawandels in diesem Sommer Kühlwasser fehlt, oder weil ein gefährlicher Defekt in sensiblen Rohrleitungen entdeckt wurde oder befürchtet wird.

In der Ukraine, die auch zu über 50% vom Atomstrom abhing, werden jetzt im Krieg die besonderen Gefahren der Atomtechnik sichtbar. Ganz anders als bei anderen Kraftwerken kann ein Angreifer mit einer Katastrophe drohen, die niemand hinnehmen kann. Nur die Zerstörung eines großen Stausees ist entfernt damit vergleichbar. Dabei muss der Angriff auf ein Atomkraftwerk nicht einmal physisch erfolgen: auch ein Cyberangriff aus der Ferne könnte verheerende Folgen haben.

Kleinere Reaktoren können Probleme nicht lösen

Die Kostenentwicklung großer Atomkraftwerke in den USA, Frankreich, Finnland, England und Japan war so abschreckend, dass die kleiner werdende „nuclear community“ schon vor zwanzig Jahren angefangen hat, das Streben nach physikalischen Effizienzvorteilen in Großkraftwerken in Frage zu stellen und auf wesentlich kleinere Einheiten zu setzen, die in Serie produziert werden können. Die standardisierte Serienproduktion war in vielen anderen Technikbereichen zum Schlüssel für Kostensenkungen geworden. Und die in der letzten Folge dieser Serie kurz angesprochene zunehmende gesellschaftliche Skepsis gegenüber zentralisierter Großtechnik schien es nahezulegen, auch bei der Atomenergie mit in Serie produzierten kleinen Einheiten die Kosten zu senken. Erfahrungen mit kleinen Reaktoren gab es in der Rüstungsindustrie beim Bau von Atom-U-Booten und atomgetriebenen Flugzeugträgern. Das ließ sich aber nicht ohne Weiteres auf den zivilen Bereich übertragen. Doch viele Projekte für sogenannte SMRs (small modular reactors) sind direkt oder indirekt militärischen Ursprungs. Meist mit vorwiegend staatlicher Unterstützung versucht sich eine Reihe von Start-ups an neuen Konzepten, die durch ihre Konstruktion auch mehr inhärente Sicherheit und weitere Vorteile versprechen. Über Machbarkeitsstudien ist man bisher allerdings nicht hinausgekommen, bisher gibt es noch keinen Prototypen, der läuft — außer zwei russischen SMRs, deren Bauzeit mit zwölf Jahren viermal so lang dauerte, wie ursprünglich geplant.

Am weitesten ist heute wohl die Firma NuScale Power, die im Jahr 2000 gegründet wurde. Die 77 MW leistenden Module verwenden eine herkömmliche Leichtwassertechnik mit modifizierter Geometrie, die keine Notkühlung braucht. Nach vielfältigen Änderungen hofft NuScale, 2030 das erste Kraftwerk mit 6 Modulen zum Laufen zu bringen. Allerdings sind die geplanten Kosten schon vor dem Baubeginn massiv gestiegen, so dass die Finanzierung in Frage steht. Für die Leichtwassertechnologie liegt nach sieben Jahrzehnten ein großer Erfahrungsschatz vor. Deshalb lässt sich NuScale sicherheitstechnisch mit weitgehend etablierten Methoden beurteilen und bekam kürzlich nach vielen Änderungen von der US-Aufsichtsbehörde NRC das ersehnte „design approval“.

Viel schwieriger wird das bei neuartigen oder schon früher aufgegebenen Konzepten, für deren Beurteilung ganz neue Methoden entwickelt werden müssen. Da gibt es jetzt Vorschläge, die andere Kühlmittel, wie flüssiges Natrium, geschmolzenes Salz oder flüssiges Blei verwenden, oder bei denen der Brennstoff mitunter gar nicht als separates, festes Brennelement vorliegt, sondern flüssig direkt im Kühlmittel enthalten ist. Dafür versprechen nicht-wassergekühlte Konzepte weitaus größere Vorteile, wie z.B. eine bessere Brennstoffausnutzung, die die abnehmende Reichweite der Uranressourcen lindern könnte, oder höhere Betriebstemperaturen, die eine Nutzung für Prozesswärme erlauben würden.

Eine umfassende Studie für das deutsche Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung listete letztes Jahr 136 verschiedene Konzepte auf, und untersuchte 36 davon näher. Wie andere Untersuchungen auch, kam sie zum Schluss, dass nicht-wassergekühlte Konzepte interessante Vorteile bieten, aber lange Entwicklungszeiten und neue Risiken mit sich bringen, insbesondere bei der Brennstoffentwicklung und den oft erforderlichen Wiederaufbereitungsprozessen. Allein um die heute ca. 400 Reaktoren zu ersetzen, müssten bis zu 10‘000 SMRs gebaut werden, was ganz neue Fragen zu Standortsicherheit, Transport, Rückbau, Zwischen- und Endlagerung aufwerfe. Skaleneffekte, die den erhöhten Aufwand bei kleineren Einheiten kompensieren, seien erst ab Stückzahlen von ca. 3000 in Serie gefertigten Einheiten zu erwarten. Genauso wie bei herkömmlichen Reaktoren sei eine komplexe Produktionskette unter Beteiligung mehrerer auf ganz unterschiedliche Problemstellungen spezialisierter Unternehmen erforderlich, wobei neue Koordinationsprobleme und Engpässe zu erwarten seien. Um die neuen Konzepte zu beurteilen, seien ganz neue Methoden der Risikobeurteilung zu entwickeln. Denn auch wenn einzelne Risiken der Leichtwasser-Reaktoren deutlich gemindert werden könnten, müsse der Gesamtzusammenhang mit neuen Risiken beurteilt werden — wie Wiederaufbereitung, externer Einwirkungen bei einer Vielfalt von Transporten und Standorten, geringerer Anzahl der Sicherheitsebenen, oder Missbrauchsrisiken durch höhere Urananreicherung und hohen Plutonium-Gehalt. Insgesamt könne man nach heutigem Wissensstand nicht davon ausgehen, dass SMRs grundsätzlich sicherer seien.

Wie schon die Erfahrungen mit den ersten Minireaktoren in Russland und mit den nur als Konzepte vorliegenden Reaktoren von NuScale gezeigt haben, könne all diese Unsicherheiten zusätzliche, bis anhin nicht vorgesehene Maßnahmen erfordern, die die Kosten in die Höhe treiben. Deshalb bestehen erhebliche Zweifel, ob die neuen kleinen Reaktoren — wenn sie überhaupt realisiert werden — von den Kosten her interessant sind.

Ganz abgesehen von der Betriebssicherheit lösen SMRs das Problem der nuklearen Abfälle nicht. Die zwei oben identifizierten, grundlegend neuen Probleme der Kernenergie bleiben auch mit den neuen Konzepten bestehen — der massenhafte, für Jahrhunderte zu gewährleistende Umgang mit künstlich erzeugten radioaktiven Materialien und die Einhegung des unvergleichlichen Zerstörungspotentials nuklearer Kettenreaktionen.

Es ist nicht absehbar, dass private Unternehmen und Versicherungen bereit sein werden, alle damit einhergehenden Risiken zu übernehmen, wie das bei anderen Energiequellen erwartet wird. Daher ist zu erwarten, dass öffentliche Geldgeber nicht nur während der Entwicklungsphase die propagierte neue Generation von Kernkraftwerken finanzieren müssten. Bislang finden sich dazu vor allem die Kernwaffenstaaten bereit.

Selbst wenn neue, kleine, in Serie produzierte Reaktoren einige der Probleme der heutigen Generation von Atomkraftwerken reduzieren könnten, und die Gesellschaft bereit wäre, die verbleibenden Risiken bis zum nächsten Großunfall zu akzeptieren — selbst dann kommen die SMRs für den Ersatz von fossilen Brennstoffen und die Einhaltung der Klima-Vereinbarungen viel zu spät. Sogar die ehemalige Vorsitzende der amerikanischen Atom-Aufsichtsbehörde NRC (Nuclear Regulatory Commission), Allison Macfarlane, sagte kürzlich:

„Angesichts der vielen wirtschaftlichen, technischen und logistischen Hürden, die dem Bau von sichereren, effizienteren und wettbewerbsfähigen Reaktoren im Wege stehen, wird die Kernenergie andere Formen der Stromerzeugung nicht schnell genug ersetzen können, um das Maß an Emissionsreduzierung zu erreichen, das notwendig ist, um die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels zu verhindern.“

Anders als in den Siebzigern gibt es heute Alternativen

Siebzig Jahre sind seit der ersten Stromerzeugung mit einem Kernreaktor vergangen. Der Höhepunkt der Kernenergienutzung ist mehr als dreißig Jahre her. Die grundlegenden Konzepte und Probleme sind die gleichen geblieben, Verbesserungen der Sicherheit haben zu steigenden Kosten geführt. Wesentlich neue Perspektiven sind auch bei neuen Ansätzen nicht zu erkennen.

Wer in den Siebzigerjahren noch behauptete, die Kernspaltung sei eine Zukunftsenergie, weil sie alternativlos sei — wie mein Vater, der Europas Atomanlagen für den Atomsperrvertrag überwachte, oder der Pionier der Klimamodelle Hans Oeschger, bei dem ich damals mein Physik-Diplom machte –, den konnte man noch wohlwollend als phantasielos bezeichnen. Wer das heute noch behauptet, der hat handfeste Interessen oder sollte sich dringend mit der Entwicklung von Wissenschaft und Technik seit der Entdeckung der Kernspaltung befassen.

Nach den ersten Schritten in die Nano-Welt der Moleküle, Atome und Atomkerne, die unser Verständnis von Energie und Materie grundlegend verändert haben, taten sich mit neuen Methoden ganz neue Dimensionen, unendliche Landschaften neuer Möglichkeiten auf. Und damit viel vorteilhaftere Ansätze als die Kernspaltung, um eine Menschheit von inzwischen acht Milliarden mit ausreichend Energiedienstleistungen für ein komfortables Leben zu versorgen. Das ist das Thema der nächsten Folgen dieser Serie.

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R Schleicher-Tappeser

SUSTAINABLE STRATEGIES. Writes about Technology and Society: Based in Berlin. Five decades of experience in energy, transport, climate, innovation policies.