Ein Leben auf Spitzenschuhen

Internatsdrill, Konkurrenzkämpfe, eisernes Training. Die diplomierte Ballerina Irena Panzenböck kennt die Schattenseiten einer Bühnenkarriere. Ihr Ehrgeiz ließ sie durchhalten — und versah ihr Leben mit ganz besonderen Momenten.

Sandra Suppan
7 min readJan 20, 2015

Die Bühne ist leer, alles schweigt. Dann wird der schwarze Vorhang zur Seite geschoben. Ein selbstsicheres Tapp Tapp Tapp, das Geräusch von Spitzenschuhen auf hartem Boden, hallt durch den Raum. Endlich steht sie mitten auf der Bühne. Ein einsames Solo, denn sie ist die Einzige hier, ihr allein gehört die Aufmerksamkeit des Publikums.

Dann geht die Musik an — Tschaikowskys Schwanensee. Obwohl Irena in ihrem Odile-Kostüm den perfekten schwarzen Schwan abgeben würde, verkörpert sie im Grazer Theater im Bahnhof jemand anderes: Leo Tolstois Anna Karenina, die sich in die begehrtesten Hauptrollen und auf Russlands größte Bühnen träumt. Eine Rolle, die viel mit der Ballerina gemein hat.

Für die Reportage posiert Irena in einer Grazer Wohnung. Ihr Lieblingsbuch „Anna Karenina“ durfte dabei nicht fehlen.

Träume oder Tränen

In „Dreams and Tears of Anna Karenina in Kandalaksha“, einem alternativen Musical von Jasmin Hoffer und Oleg Soulimenko, sieht das Publikum die diplomierte Ballerina als Frau, die alles verloren hat und sich immer wieder in wünschenswertere Realitäten träumt: Sie will die wunderschöne, anmutige Ballerina sein, die Hauptbesetzung der Schwanenkönigin, nicht die verlassene Ehefrau.

Irena trägt ihr Kostüm aus „Dreams and Tears of Anna Karenina in Kandalaksha“.

Dass auch so manche bekannte Ballerina nach der Entdeckung der ersten grauen Strähne, der ersten kleinen Falte, von ihrer großen Leidenschaft verlassen wurde, könnte Irena für diese Rolle inspiriert haben. Ob das Ballett ihr selbst untreu wurde, sie verließ? Oder blieb es doch ihr lebenslanger Begleiter — von klein auf bis heute als 45-Jährige?

Sich in die begehrtesten Hauptrollen und auf Russlands größte Bühnen zu träumen, das tat Irena nämlich schon damals, als sie noch das kleine Mädchen mit der schlechten Haltung und dem Buckel war. Das war vor über vierzig Jahren in Novosibirsk. „Amerikanerinnen wollten damals alle Schauspielerinnen werden. Aber junge Russinnen schwärmten von einer Karriere als Balletttänzerin. Das war unser Traumberuf!“, erzählt sie beim Interview in einem Grazer Café, dem Freiblick.

Den Tisch wählte sie Auge in Auge mit dem Schlossberg. Das Grazer Wahrzeichen scheint ihr zu sagen, hier bist du angekommen. Die harten Konkurrenzkämpfe, eisernen Exercices und schweren Entscheidungen liegen hinter dir.

Irena weiß, wie sie ihre Füße inszeniert — nicht nur in Spitzenschuhen.

Eine davon traf sie mit neun Jahren. Um ihre Haltung zu verbessern, turnte sie seit einiger Zeit in einem Club für rhythmische Sportgymnastik. Ihr Können bewies sie nach unzähligen Trainingsstunden immer wieder bei Wettkämpfen. Irena hatte keine Scheu, sich mit anderen zu messen: Ihr ehrgeiziges Streben danach, die Beste zu sein, ließ sie die sowjetische Meisterschaft der Junioren gewinnen. Ab da hörte sie auf. „Mein Karrierehöhepunkt lag bei voraussichtlich 19 Jahren, Ballett war da ein wenig toleranter. Also bewarb ich mich an einer Ballettschule.“

Zuerst gab es ein Vortanzen. „Lauter kleine Mädchen, die alle denselben Traum träumten, während sie versuchten, die anderen auszustechen.“ Danach die Untersuchung. Irenas Rist war hoch, der Fuß schmal, sie hatte die perfekte Fußform für eine Ballerina. Und alles, was an ihrem Körper noch nicht perfekt war, das würde sie mit hartem Training korrigieren.

Die endgültige Entscheidung brachte einige Mädchen ihrem großen Traum, einmal Dornröschen, Schwanenkönigin, Clara, Julia oder Giselle zu sein, näher. Andere gingen enttäuscht nach Hause, mit tränennassen Gesichtern — die frisch für die Aufnahmeprüfung gekauften Ballettschuhe waren nur mehr ein trauriges Souvenir von einem Ausflug in eine unmögliche Zukunft. Irena gehörte nicht dazu. Sie wurde aufgenommen.

Im Internat

„Weil meine Familie zu weit weg von der Schule und der Oper wohnte, kam ich ins Internat. Gott, wie ich die externen Mädchen beneidet habe!“ Während Irena das sagt, hält sie ihren Tee fest mit beiden Händen umklammert, sieht ein wenig nachdenklich aus, fast traurig.

Kontrollierend fasst die Ballerina sich an ihren perfekten Haarknoten, tastet nach, ob er noch sitzt. Erinnerungen werden wach, an ihren allerersten Tag an der Ballettschule.

Es war früh, alle beeilten sich, pünktlich zur ersten Lektion im Klassischen Ballett zu kommen. Die Internatszimmer versanken im Chaos: Ballettschuhe, Haarnadeln, Kämme, Strumpfhosen, und mittendrin die kleine Irena vor einem riesigen Spiegel. Geplagt versuchte sie ihre langen Haare mit einem ordentlichen Knoten zu bändigen.

Zum ersten Mal drehte sie ihn selbst, fixierte ihn mit etwas Spray, und trippelte mit den anderen Mädchen in den Ballettsaal, vor dem sich einige Mütter von den externen Mädchen verabschiedeten. „Eines dieser Mädchen höre ich heute noch, wenn ich vorm Spiegel stehe und mich frisiere. Sie sagte: ‘Dein Knoten schaut aber scheiße aus!’“ Eine bittere Erinnerung daran, wie sehr ihr damals die Mutter fehlte.

Von Beruf aus achtet die Ballerina penibel auf Frisur, Make-up und Kleidung.

In den unteren Klassen begann jeder Tag kurz vor Acht mit eineinhalb Stunden Klassischem Ballett. Der Stundenplan listete Exercices mit hunderten Wiederholungen derselben Positionen, unzähligen Tendus an der Stange, Pliés, Demi-Pliés und Sprüngen auf. Dann wurden die Eleven der Oberstufe endlich mit den Schuhen belohnt, auf die sie so lange gewartet hatten: Spitzenschuhen.

Ihre Spitzenschuhe begleiten Irena nun fast ein ganzes Leben lang.

Nach dem ersten Tanzunterricht des Tages tauschte Irena ihre Ballettschuhe gegen die passenden Schuhe zur Schuluniform. Statt des strengen Ballettknotens wurden die Haare zum Zopf gebunden und es folgten Fächer wie Mathematik oder Physik — aber auch Schauspiel- und Klavierunterricht.

Wenn eine der Schülerinnen währenddessen die Haltung verlor, wurde ihr Zopf mit einer spitzen Haarklammer am Fleisch links und rechts vom Rückgrat festgemacht. Beugte sie sich, verlor sie mit dem drückenden Schmerz am Rücken auch die Haarklammer. „Dann wurde sie wieder neu angemacht — keine von uns wollte das. Lieber wollte jede zu den Abendproben der Compagnie und damit auf die Bühne!“ So wie Irena, die bereits vor ihrem Diplom die meisten Hauptrollen schon einmal besetzt hatte. Doch die hatten ihren Preis.

Scherben, Schnitte und Eifersucht

Es war ein großer Auftritt, und Irena spielte die Hauptrolle. Zum wiederholten Mal. „Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es Nussknacker oder Giselle war, aber ich weiß noch, wie stolz ich war, als Solistin tanzen zu dürfen!“ Solistin, das bedeutete einen eigenen Auftritt, ein eigenes Kostüm, noch funkelnder, noch aufwändiger, noch extravaganter als das der anderen, und noch mehr Aufmerksamkeit, Bewunderung, Anerkennung vom Publikum — aber auch Neid, jede Menge Neid.

Wenige Minuten bis zum Auftritt. Ein bisschen Haarspray, ein bisschen Make-Up — das übliche Prozedere wie vor jeder Vorstellung. Vorm Spiegel zupfte Irena nochmal ihren Haarknoten zurecht, puderte sich das Gesicht und band ihre Spitzenschuhe. Die Scherben darin bemerkte sie nicht.

„Ich hatte nur meine Choreografie im Kopf, blendete alles um mich herum aus.“ Dies war ihr Moment. Es war, als ob die Musiker, das Publikum, die Tänzer, alles und jeder nur für sie gekommen wäre — und Irena genoss dieses Gefühl in vollen Zügen. Jede Bewegung saß, alles war bis zur Perfektion eingeübt, jeder Schritt folgte als automatische Schlussfolgerung auf den nächsten. Die Glassplitter, die mit jedem Schritt, jedem Sprung, jeder Bewegung weiter in ihre Fußsohlen eindrangen, ignorierte sie.

Dann das entsetzte Einatmen des Publikums. Wirre Blicke starrten auf ihre Spitzenschuhe, die sich langsam rot färbten. Bei einem Schritt besagte Irenas Choreografie, nach unten zu sehen. Und sie sah die Blutflecken auf ihren Schuhen, spürte den stechenden Schmerz, der von ihren Füßen ausging — aber es war ihr egal. „Niemals hätte ich deswegen früher aufgehört! Den Gefallen wollte ich den anderen Tänzerinnen nicht tun!“, bemerkt sie trotzig.

Bald darauf gab es eine große Prüfung vor einer eigenen Kommission: „Jede wollte ihr Lob natürlich nur für sich!“ Auch Irena. Als die Musik anging, fing sie an vorzutanzen, und hörte plötzlich ein leises Ratsch — die Art von Ratsch, die eine Ballerina definitiv nicht hören will, schon gar nicht während einer Prüfung.

Die Bänder ihrer Spitzenschuhe waren angeschnitten worden. Und mit jeder weiteren ausladenden Bewegung trennte sich der Spitzenschuh von seinem Bändchen. „Ich tanzte weiter — wenn es sein muss, dann eben barfuß!“ Die Schuhe hielten bis nach der Prüfung. Und wenig später hielt Irena ihr Diplom in der Hand.

Opernhäuser voller Gold und Marmor

Der besondere Ruf eines Opernhauses lockte Irena und eine Freundin nach Odessa. Sie träumten von einem riesigen Zuschauerraum mit roten Samtbezügen, weißem Stuck, goldenen Ornamenten und Marmortreppen. Zumindest Irena sollte nicht lange davon träumen. Dank dem verletzten Bein der Prima Ballerina des Opernhauses bekam sie ihre große Chance.

Die Choreografie kannte sie bereits auswendig, das Kostüm saß und nirgendwo sonst wollte sie an diesem Abend lieber sein als auf dieser einen Bühne. Als der Vorhang aufging, zitterte sie vor Aufregung. Alle Scheinwerfer waren auf sie gerichtet. „Es war einfach wunderschön, mein erster großer Erfolg“, schwärmt Irena von einem Auftritt, den sie niemals vergessen wird, auch wenn auf ihn hunderte andere in den verschiedensten Ländern folgen sollten. Für manche davon wurde sie in einem ähnlich barocken Opernhaus engagiert — der Grazer Oper, in der sie bald nicht nur tanzen, sondern auch lehren sollte.

Trotz Neider, Scherben, Schnitten, Alter, oder Zeiten ohne Engagements — Irena kann der gebrochenen Anna Karenina, der von ihrer großen Liebe Verlassenen, mit ihren Tanzschritten Leben einhauchen, ihre Rolle spielen, aber sie ist es nicht.

Sie ist eine Frau, die nichts davon abhalten könnte, ihre Leidenschaft zu leben: „Solange ich tanzen kann, tanze ich. Egal wo, egal wann, egal für wen — Hauptsache, ich tanze!“

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