Schöne neue Welt? Chancen und Risiken der Digitalisierung und Industrie 4.0

Sebastian Schwengers
4 min readJun 24, 2015

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Sechs Uhr. Der Wecker klingelt. Noch etwas schlaftrunken strecke ich mich, blinzle. Vertreibe den Schlaf. Es ist Montag, Beginn der Woche. Schnell unter die Dusche, etwas frühstücken. Dann geht es los. Um 8 Uhr bin ich bei der Arbeit, fahre meinen Rechner hoch. Zeit, mit dem Erstellen von Texten und Konzepten zu beginnen.

So sieht er aus: Mein Arbeitstag. So wie der Arbeitstag zahlreicher anderer Menschen. Ob im Marketing, in der Fabrik oder als Kassierer — morgens aufstehen, dem Beruf nachgehen. Für sein Auskommen sorgen.

Doch in letzter Zeit schwirrt immer wieder eine Frage durch meinen Kopf: Wird es so bleiben?

Es ist die schwelende Debatte um Digitalisierung und Industrie 4.0 , die mich nachdenken lässt. Eine Debatte, gleichermaßen mit Hoffnungen und Ängsten verbunden: Während weite Teile der Wirtschaft auf nachhaltige Produktivitätsfortschritte und ganz neue Möglichkeiten hofft, fürchten andere um ihren Job.

Auch das Medienecho ist so verschieden, wie es nur sein kann: Titelte der Spiegel kürzlich noch, die Industrie 4.0 schaffe hundertausende neue Jobs, warnt der Gewerkschafter Bsirske in der FAZ etwa zeitgleich vor drohenden Arbeitsplatzverlusten.

Wer wird am Ende Recht behalten? Auf wenn soll ich mich verlassen?

Die Entwicklung aus Sicht der Neoklassik

Wie so oft ist das Ganze eine Frage des Blickwinkels, den man teilt.
Die Antwort der Neoklassik hierauf ist eindeutig: Nach ihrer Lesart werden künftige technischen Fortschritte nicht zu nachhaltiger Arbeitslosigkeit führen. Zwar könnten — so das Zugeständnis — einige ältere Arbeitsplätze im Zuge weiterer Digital- und Automatisierungen verloren gehen . Diese würden durch die Ausweitung und Schaffung neuer Märkte und Jobs aber mehr als aufgefangen.

Basis für diese Argumentation ist das nach dem französischem Ökonomen John Baptiste Say bennante Saysche Therorem, nachdem sich — vereinfacht ausgedrückt — jedes neue Angebot zwangsläufig die nötige Nachfrage durch die mit der “Produktion” verbundenen Löhne und Gewinne schafft. Zu bewältigen sei hier lediglich der damit verbundene Strukturwandel — etwa durch (Weiter-)Bildung der Arbeitnehmer.

Ein Blick aus heterodoxer Sicht: Keynes und die Nachfragelücke

Nun steht die herrschende Volkswirtschaftslehre, mithin die Neoklassik, seit der Finanzkrise von 2008 anhaltend in der Kritik. Debattiert wird intensiv darüber, ob die dort formulierten Grundsätze der Wirklichkeit standhalten. Zweifel scheinen berechtigt. Die Kontroversen über Pluralismus in der ökonomischen Bildung geben Zeugnis davon.

So ist es nicht verwunderlich, dass gerade (Post-)Keynesianer die Digitalisierung der Produktion vor allem mit dem Verlust von Arbeitsplätzen assoziieren, bestreitet diese doch die Gültigkeit des Saychen Theorems.

Gerade in Krisen würde — so ein Einwand gegen John Baptiste Say— sinkende Nachfrage nicht zwangsläufig durch höhere Investitionen aufgefangen. Selbst niedrige Zinsen führten nicht zu höherer Investitionsbereitschaft, wenn Gewinnerwartungen mittelfristig ungünstig seien. Letztlich ließen sich die empirisch feststellbare Produktionslücken nur auf dieser Grundlage erklären.

Dass dieser Einwand nicht ganz unberechtigt ist, zeigen jüngere Zahlen aus den USA. Dort wurde von einer Produktionslücke von etwa drei bis sechs Prozent für das Jahr 2014 ausgegangen.

Totgesagte leben länger: Die Wiederkehr von Marx

Durch die Erfahrungen der Krisenjahre sind zuletzt auch die Schriften von Marx wieder salonfähig geworden. Im Mai 2008 wurden so dreimal mehr Exemplare des „Kapitals“ verkauft als im Mai des Vorjahres.
Wertkritische Gruppen wie „Exit“ sprechen heute gar dezidiert von „Krise und Kritik der Warengesellschaft“ als solcher.

Sehr vereinfachend erläutert zielen die Wertkritiker auf innere Schranken des kapitalistischen Wachstumsparadigmas ab: Nach deren Auffassung bestünden Unternehmen im Wettbewerb nur durch die permanente Steigerung der Produktivität. Konkurrenten müssten folgerichtig nachziehen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Durch die mit dem Produktivitätszuwachs verbundenen Angebotsausweitungen fielen Preise und Profite. Als Ausgleich bliebe lediglich die Marktausweitung. Ab einem bestimmten Punkt könne die Marktexpansion allerdings die automatisierungsbedingten Arbeitsplatzverluste nicht mehr auffangen. Folge sind Arbeitslosigkeit und eine sinkende Nachfrage. Die Ausgrenzung der menschlichen Arbeitskraft führe das System letztlich selbst ad absurdum.

Ein Blick in die Zukunft: Wer wird Recht behalten?

„Prognosen sind unsicher, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen“, weiß schon der Volksmund.

Aber auch, wenn Zukunftsverläufe nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden können, sind Trends nicht willkürlich. Ein Blick auf die statistischen Daten bei „statista“ zeigt, dass die Entwicklung der Arbeitsproduktivität bereits seit Anfang 1960 deutlich höher war als das jährliche Wachstum des Bruttoinlandproduktes. Gleichzeitig ist seit 1970 eine steigende Arbeitslosigkeit zu erkennen.
Zwar ist einzuwenden, dass Arbeitslosigkeit auf viele Faktoren rückführbar sein kann — beispielsweise auf zu geringe Lohnflexibilität. Dennoch stellt sich die Frage, wie stabil und wünschenswert eine Gesellschaft ist, deren Löhne beliebig flexibel sind.

Die Gefahr, dass Produktionspotenziale deutlich stärker wachsen als Kaufkraft und Nachfrage, ist somit zumindest denkbar. Ergänzend kommt hinzu, dass beliebige Lohnflexibilität auch zu ungleichen Verteilungen führt. Damit wird ausreichende Nachfrage stark abhängig von zunehmender staatlicher und privater Verschuldung. In den oft als Vorbild angeführten USA liegt allein die private Schuldenquote derzeit bei etwa 260 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP). Gleichzeitig stellt der Anteil des Privatkonsums fast 70 Prozent des BIP.

Möglicherweise führt die Industrie 4.0 damit zu der paradoxen Situation, dass immer mehr Güter in immer weniger Zeit produziert werden könnten, aber gerade dieser Fortschritt zu gesellschaftlichen Verwerfungen führt.
Die Debatte über Vor- und Nachteile der Industrie 4.0 sollte daher durch eine Kontroverse ergänzt werden, wie wir künftig leben und arbeiten wollen.

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Sebastian Schwengers

Was soll ich groß sagen? Ich bin halt ein Mensch unter vielen — mit dem gelegentlichen Bedürfnis, sich um Kopf und Kragen zu reden. Oder besser: schreiben.