Queerness und Mental Health: Wie geht inklusive Gesundheitsförderung?

Es liegt etwas in der Luft. Oder vielleicht besser: es hängt. Vor Supermärkten, in Einkaufspassagen und in Cafés wehen den Besucher*innen Regenbogenflaggen entgegen. Es ist Juni. Und Juni ist internationaler Pride Month. Ein bedeutsamer und historisch wichtiger Monat für queere Menschen, der seine Wurzeln in den Kämpfen für queere Rechte im New York der 1969er Jahre hat (Stonewall Riots). Ein Monat, in dem auch heute noch auf den Straßen gefeiert wird, was sonst so oft unsichtbar gemacht wird.

Nicht von queerfeindlicher Diskriminierung betroffene Menschen sind in eben diesem Monat oft irritiert, fühlen sich angegriffen oder haben kein Verständnis dafür, dass queer sein auch in öffentlichen Räumen stattfindet — und u.a. während des Pride Months intensiv sichtbar und besprochen wird. Doch Diversitätsdimensionen lassen sich nicht ablegen wie ein Mantel an der Garderobe.

Und entgegen so mancher Vorstellung bedeutet queer zu sein (hier als Umbrella-Term für z.B. homosexuell, lesbisch, trans, inter, nicht-binär usw. genutzt) in vielen Teilen dieser Welt — auch in Deutschland — immer noch, um Chancen gebracht zu werden, ausgegrenzt zu werden, und schlimmstenfalls: Ums eigene Leben fürchten zu müssen. Auch in der Arbeitswelt.

Eine Person, die darüber stetig aufklärt und mit ihrer aktivistischen Arbeit für die Anliegen nicht-binärer, queerer und neurodivergenter Menschen im Arbeitskontext eintritt, ist Daniela Schubert (Pronomen: they/them). Daniela arbeitet freiberuflich als DEIB-Consultant (DEIB = Diversity, Equity, Inclusion und Belonging), begleitet Unternehmen in Team- und Transformationsprozessen und bei der inklusiven IT-Produktentwicklung. Zusätzlich engagiert sich Daniela ehrenamtlich im Queer Lexikon e.V. und bei Queermentor e.V., um queere Jugendliche und queere Berufs- und Quereinsteiger*innen zu coachen, zu beraten und zu empowern.

Wir freuen uns sehr, dass Daniela unserer Anfrage zu einem Interview anlässlich des Pride Months zugestimmt hat.

Daniela Schubert, DEIB-Consultant
Daniela Schubert (Pronomen: they/them), DEIB-Consultant

💬 Wie geht es dir während des Pride Months, Daniela?

🏳️‍🌈 Hm, das ist eine schwierige Frage, weil sie so ambivalent ist. Vielleicht erstmal aus meiner beruflichen und professionellen Rolle heraus: Es freut mich sehr, dass wenigstens in einem Monat im Jahr über queere Perspektiven in Unternehmenskontexten gesprochen wird. Die Präsenz des Themas wächst im Juni und die Auftragslage führt für viele in der DEIB-Arbeit entsprechend zur Aus- oder sogar zur Überlastung.

Was mich wiederum zu meiner ganz persönlichen Perspektive bringt, der Kehrseite der metaphorischen Medaille sozusagen: Dieser Monat ist auch sehr anstrengend, denn mit der Sichtbarkeit summiert sich auch der Hass. Vor dem Hintergrund der aktuellen queerfeindlichen Rhetorik und den politischen Rückschritten (z.B. die kontinuierliche Verzögerung, das Selbstbestimmungsgesetz zu verabschieden) ist dieser Juni auch voller Sorge und Angst. Zu Beginn des Monats haben wir uns in queeren Freund*innenkreisen privat oft nur „ein gutes Durchkommen” gewünscht.

Und das erschüttert mich sehr: Dass die berechtigte Angst vor Übergriffen, Diskriminierung und Hass die Freude über die Sichtbarkeit überschattet. Die Akzeptanz queerer Lebensmodelle geht aktuell merklich zurück, sowohl politisch als auch gesellschaftlich. Und damit wächst auch die Angst um unser (Über-)Leben.

💬 Viele Unternehmen signalisieren ja gerade während des Pride Months ihre Solidarität mit der LGBTQIA+-Community — zum Beispiel, indem sie die Regenbogenflagge aufhängen. Wie stehst du dazu?

🏳️‍🌈 Wenn Unternehmen einmal im Jahr in ihrem Logo — vor ihren Unternehmensstandorten oder in anderen Kontexten — die Regenbogenfahne zeigen, frage ich mich als betroffene Person: Was wird in besagten Unternehmen denn ganzjährig für queere Menschen getan?

Ein paar Beispiele: Sind die Bewerbungsprozesse in besagten Unternehmen inklusiv? Können nicht-binäre Menschen ohne Probleme Formulare ausfüllen, ohne eine falsche Anrede für sich nutzen zu müssen? Können trans Personen nach einer Vornamensänderung problemlos in allen Kanälen (E-Mail-Adresse, Slack usw.) auf ihren richtigen Vornamen umstellen (lassen)? Und: Haben sich die Unternehmen mit allen queeren Labels beschäftigt — und zwar mit den Konsequenzen, die das mit sich bringt (z.B. Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Partnerpersonen bei der Erwähnung im Small-Talk und in Check-in-Fragen oder die Verwendung der richtigen Pronomen aller Kolleg*innen usw.)?

Auch ein Aspekt, der häufig vernachlässigt wird: Wie mit queeren Menschen in der Außenkommunikation umgegangen wird. Warum werden queere Menschen lieber 🔗 von Organisationen verklagt, statt nicht-inklusive Anredeformulare einfach zu verändern? Die Botschaft, die da hängen bleibt, ist doch: „Das war die Firma, die eine nicht-binäre Person verklagt hat”. Viel schöner wäre doch die Erinnerung: „Das war die Firma, die auf die Bitte einer nicht-binären Person das Anredeformular richtig angepasst hat.”

Und dann wären da noch die verkauften Produkte besagter Unternehmen: Ein Supermarkt mit einer Regenbogenflagge vor dem Geschäft und 🔗 einem rechtskonservativen Magazin in der Zeitschriftenauslage ist nicht besonders glaubwürdig, sondern vermittelt die Botschaft „Alle Meinungen sind willkommen“. Queerfeindlichkeit ist allerdings keine Meinung, sondern eine reale Diskriminierung, die Menschenrechte einschränkt und Leben kostet.

💬 Maßnahmen, die auf diese Art — also oberflächlich und symbolisch — Awareness für LGBTQAI+-Themen schaffen sollen, werden auch performativer Aktivismus genannt. Was sollten Unternehmen tun, wenn sie sich wirklich um Inklusion bemühen wollen?

🏳️‍🌈 Definitiv hilfreich wäre ein intersektionaler DEIB-Ansatz, das heißt, nicht nach Privilegien oder eigenem Interesse zu priorisieren. Gleichgeschlechtliche Beziehungen am Arbeitsplatz sind nicht mehr wert als trans Personen (und das eine schließt das andere auch nicht aus). Oft ist aber genau das in der Strategiearbeit das Problem: Es wird priorisiert und nicht gemeinsam gedacht.

Ich würde mir eine ganzjährige Unternehmenskommunikation über DEIB-Strategien und -Maßnahmen in Organisationen wünschen. Dann kann die Regenbogenfahne im Juni auch glaubwürdig aufgehängt werden.

Und eins noch: Insbesondere (digitale) Logos in Regenbogenfarben einzufärben, ist oft nicht accessible, also gut lesbar. Solidarität sollte ebenfalls immer intersektional sein und hier nicht queere Menschen über be_hinderte Personen gestellt werden, auch nicht temporär.

💬 Warum ist es deiner Meinung nach wichtig, mentale Gesundheit als ein Bestandteil des DEIB-Spektrums (Diversity, Equity, Inclusion und Belonging) zu betrachten? Wo siehst du Berührungspunkte zwischen beiden Themen- und Handlungsfeldern?

🏳️‍🌈 Marginalisierte Menschen, dazu zählen auch queere Personen, sind überdurchschnittlich von Gewalt, Diskriminierungserfahrungen und Mikroaggressionen betroffen — auch am Arbeitsplatz. Das geht nicht spurlos an den meisten Betroffenen vorbei und es kostet enorm viel Kraft, es täglich auszuhalten, sich dagegen zu stellen, Schritte einzuleiten etc. In der Regel braucht es bei übergriffigem Verhalten mindestens sieben Gespräche mit sieben verschiedenen Menschen, bis eine Person sagt: „Ich glaube dir” — und diese Person dann auch in der Position ist, zu helfen.

Der LSVD (Lesben- und Schwulenverband) hat 🔗 einige Studien zur Gesundheit von queeren Menschen veröffentlicht: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine queere Person unter psychischen Belastungen leidet, liegt 2,5-fach höher als bei nicht-queeren Menschen. Die Gefahr eines Burnout ist sogar um ein 3-faches erhöht.

Ein Teil der DEIB-Arbeit ist es, inklusive Arbeitsumfelder zu schaffen. Und zwar nicht nur für Menschen mit körperlichen Be_Hinderungen, sondern auch für Menschen, die mit psychischen Belastungen und Erkrankungen leben. In einigen amerikanischen Studien werden Depressionen bspw. als Neurodivergenz (ebenfalls eine Form von Be_Hinderung) gewertet.

Ein Beispiel, das meiner Meinung nach sehr gut die Verflechtung zwischen Inklusions- und Gesundheitsfragen unterstreicht, ist das hier: Wenn es in einem Unternehmen keine genderneutralen WCs für nicht-binäre Menschen gibt, verzichten jene Mitarbeitenden häufig aufs Trinken, um Toilettengänge zu vermeiden. In 🔗 Studien konnte nachgewiesen werden, dass das gesundheitliche Konsequenzen nach sich zieht — die betroffenen Personen sind häufiger dehydriert. Gibt es nur genderspezifische WCs, sehen sich nicht-binäre Menschen dort außerdem Diskriminierungen und Gefahren ausgesetzt, was wiederum Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit hat.

Der gesundheitliche Schutz der Mitarbeiter*innen ist kein Goodwill, sondern hat eine gesetzliche Grundlage. Hier muss mentale Gesundheit mitgedacht werden — und zwar von allen, für alle.

💬 Psychische Gesundheit auf der Arbeit zu fördern, bedeutet für viele Unternehmen nach wie vor, Benefits einzuführen (Stressmanagement-Kurse, Meditations-Apps usw.). 8 von 10 Menschen, die von psychischen Belastungen betroffen sind, nehmen eben diese Benefits aber gar nicht wahr, da sie Angst haben, sich als betroffen zu ‚outen‘. Die Kultur eines Unternehmens ist also ein Schlüsselfaktor für Gesundheit. Wie müsste eine Unternehmenskultur geartet sein, in der sich auch queere und nicht-binäre Menschen willkommen fühlen — und gesund bleiben?

🏳️‍🌈 Hm, ich kann das natürlich nicht für alle queeren Menschen pauschalisieren. Was mir aber auffällt: Ich kenne viele queere Menschen, die stealth (also unbemerkt) am Arbeitsplatz arbeiten, also bspw. trans sind, aber niemand weiß davon. Sie werden als Frau oder Mann wahrgenommen und haben sich nie an ihrem Arbeitsplatz als „trans Frau” oder „trans Mann” geoutet.

Warum das so ist? Weil die meisten Angst haben, sich zu outen. Weil damit viel kostenlose Aufklärungsarbeit einhergeht, und die Vulnerabilität für Angriffe steigt. Dieses ständige Versteckspiel kostet Kraft und verursacht Stress — und der wiederum kann körperliche sowie mentale Probleme verursachen. Grundsätzlich braucht es also eine Firmenkultur, die Vertrauen schafft, die psychologische Sicherheit gewährleistet.

Und es braucht Vorbilder im Management in Führungsrollen. Denn wenn ich als betroffene Person wahrnehme, dass es eine gläserne Decke gibt und Diversität nur bis zu einer gewissen Ebene und Gehaltsspanne gelebt wird, dann entstehen Zweifel: „So weit komme ich hier gar nicht, egal wie sehr ich mich auch engagiere.” Wenn ich mich anstrenge und im Regelfall immer noch bis zu 18% weniger Gehalt bekomme, kostet das Kraft. Und in der Konsequenz auch meine Gesundheit. Menschen bleiben gesund, wenn sie ihre Einstellungen und Perspektiven in der Unternehmenskultur wiederfinden und sie sich willkommen fühlen. Das ist ganz eng verbunden mit gelebter Akzeptanz und Gleichbehandlung. Die Erwartungshaltung, dass Benefits Probleme lösen, greift eindeutig zu kurz.

💬 Durch die Corona-Pandemie ist einmal mehr deutlich geworden, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse in Bezug auf ihre Arbeitssituation und Arbeitsmodi haben. Remote Work ist zu einem festen Bestandteil unserer neuen Arbeitswelt geworden — hier und da liest man aber auch von Unternehmen, die die Remote Work-Möglichkeiten wieder einschränken möchten. Wie beurteilst du diese Entwicklung?

🏳️‍🌈 Ähnlich wie bei anderen Diversitätsdimensionen ist auch bei dem Thema Remote-, Hybrid- und Präsenzarbeit eine grundlegend neue Haltung notwendig, um Arbeitsorganisation inklusiv zu gestalten. Die Veränderungen, die durch die Covid-Pandemie angestoßen wurden, lagen für viele Firmen ja nicht in ihrer Kultur begründet, sondern waren eine ‘erzwungener’ Transformation — entsprechend haben viele Unternehmen diesen Zustand als temporär betrachtet.

Die Erfahrung, die wir alle während der Covid-Pandemie gemacht haben, wirken aber nach, und Menschen haben ein besseres Gefühl für ihre unterschiedlichen Bedürfnisse und Voraussetzungen. Manche haben sich im Homeoffice einsam gefühlt, hatten vielleicht auch gar keinen eigenen Arbeitsplatz in ihrer Wohnung oder haben sich schwer getan mit virtueller Führung. Dem gegenüber stehen jedoch Menschen, die zuhause reizarmer arbeiten können als in einer Umgebung wie z.B. einem Großraumbüro. Die dort beispielsweise jederzeit das Be_hinderten-gerechte Badezimmer verwenden können — ganz ohne Nachfrage und Mehraufwand. Menschen, die ihre Arbeitsplätze zuhause für sie bedürfnisorientiert einrichten können und für die dadurch, das zeigen auch Studien, die psychologische Sicherheit steigt.

Remote Arbeit ist also bei Weitem nicht nur für diejenigen da, die wir, wenn wir darüber sprechen, als Klischéebilder im Kopf haben: Die digitalen Nomad*innen etwa, die vom Strand in Bali aus an Zoom-Calls teilnehmen. Für neurodivergente Personen, die bspw. nur in absoluter Ruhe arbeiten können — ohne Hintergrundgeräusche, bei nicht zu hellem Licht und ohne Unterbrechungen (im Hyperfokus) –ist und war Remote Work schon immer existenziell. Teil von gelebter Intersektionalität ist es, alle mitzudenken — sowohl die blinde Person, die im Büro vielleicht besser arbeitet, weil sie dort auf der gesprochenen Ebene alles mitbekommt, als auch die neurodivergente Person, für die der Smalltalk im Büro ein echter Energiefresser ist (für besseres Verständnis empfehle ich die 🔗 Spoon-Theorie von Christine Miserandino).

Gelebte Inklusion und Barrierefreiheit am Arbeitsplatz bedeutet: für alle Personen 🔗 eine entsprechend passende Arbeitsumgebung zu schaffen — und nicht eine, die für zum Beispiel nur die Führungskraft, ideal wäre.

💬 Zum Abschluss: Was würdest du dir für die Zukunft wünschen?

🏳️‍🌈 Ich würde mir wünschen, dass Unternehmen DEIB in allen Facetten wirklich umsetzen und leben. Und zwar auch dann, wenn es manchmal unbequem wird — gesellschaftlich, politisch oder finanziell. Mir ist es wichtig, mit meiner Arbeit darauf aufmerksam zu machen und Organisationen auf ihrem Weg dahin zu unterstützen.

Damit irgendwann wirklich gelebt wird, was im Grundgesetz Artikel 3 festgehalten ist: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (…) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung (…), seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.”

Danke, Daniela, dass du deine Perspektive mit uns geteilt hast!

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Daniela Schubert (Pronomen: they/them) arbeitet freiberuflich als DEIB-Consultant (DEIB = Diversity, Equity, Inclusion und Belonging), begleitet Unternehmen in Team- und Transformationsprozessen und bei der inklusiven IT-Produktentwicklung. Zusätzlich engagiert sich Daniela ehrenamtlich im Queer Lexikon e.V. und bei Queermentor e.V., um queere Jugendliche und queere Berufs- und Quereinsteiger*innen zu coachen, zu beraten und zu empowern. Hier erreicht ihr Daniela.

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