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Das Wagnis der Verletzlichkeit

3 min readJun 14, 2025

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Perfekt und unverwundbar zu sein — das klingt verlockend. Aber Hand aufs Herz: Ist das wirklich realistisch?
Wenn wir ehrlich sind, gehört es zum Menschsein dazu, uns unserer eigenen Verletzlichkeit zu stellen.

Das wunderbare Buch „Verletzlichkeit macht stark“ von Brené Brown hat mich zu diesem Beitrag inspiriert. Es berührt zentrale Aspekte der Emotionsfokussierten Paartherapie (EFT), wie ich sie in meiner Praxis anwende. Vieles von dem, was Brown beschreibt, erlebe ich regelmäßig in der Arbeit mit Paaren und Familien.

„Verletzlichkeit ist der Kern, das Herzstück und das Zentrum bedeutsamer menschlicher Erfahrungen.“
– Brené Brown, S. 24

Verletzlichkeit ist nicht gleichbedeutend mit Schwäche — sie bedeutet Mut. Mut, sich zu zeigen, mutig zu lieben, mutig um Hilfe zu bitten. Sie ist da, wenn wir etwas Neues wagen, obwohl wir scheitern könnten, oder wenn wir einen guten Freund im Krankenhaus besuchen und den Schmerz nicht kontrollieren können, der uns begegnet. Verletzlichkeit konfrontiert uns mit Gefühlen wie Scham, Traurigkeit oder Angst — und genau das macht sie so herausfordernd.

Gleichzeitig finden wir Verletzlichkeit bei anderen oft berührend und bewundernswert. Wir sehen den Mut — während wir bei uns selbst nur die vermeintliche Schwäche sehen.
Wer kennt nicht diesen inneren Widerspruch? Wir möchten anderen gegenüber offen sein, aber selbst nicht angreifbar erscheinen. Und doch erleben wir echte Verbindung immer dann, wenn Menschen sich ehrlich und verletzlich zeigen.

Mir begegnet das immer wieder in meiner Praxis. Wenn sich ein Mensch öffnet, ehrlich ist und seine Verletzlichkeit zeigt, dann geschieht etwas Besonderes: Ich sehe ihn oder sie in seiner ganzen Schönheit. Echtheit macht uns sichtbar — nicht Perfektion.

Verletzlichkeit in der Paarberatung

Paare, die zu mir kommen, sind häufig in destruktiven Mustern gefangen. Sie streiten — oft um austauschbare Themen –, aber in immer derselben verletzenden Weise. Angriff und Rückzug. Vorwurf und Schweigen.

Hinter dem Angriff steckt meist ein verzweifelter Versuch, den anderen zu erreichen. Rückzug hingegen ist oft ein Schutzmechanismus: ein Versuch, Eskalation zu vermeiden oder sich vor Zurückweisung zu bewahren.
Meine Aufgabe ist es, diesen Teufelskreis sichtbar zu machen. Wenn wir dann gemeinsam tiefer schauen, zeigen sich zunächst sekundäre Emotionen wie Ärger, Hilflosigkeit oder Überforderung. Dahinter liegen oft die wahren, verletzlichen Gefühle: Angst, Trauer, Scham, Einsamkeit.

Wenn Paare es schaffen, diese primären Emotionen auszudrücken, geschieht oft etwas Wunderbares. Der Partner, die Partnerin, kann plötzlich mit offenem Herzen sehen, was wirklich hinter dem Verhalten steckt. Es entsteht Verbundenheit. Sicherheit. Akzeptanz. Genau diese Qualitäten sind Ausdruck erfüllter Bindungsbedürfnisse.

Verletzlichkeit ist der Schlüssel zu echter Verbindung — in Partnerschaften wie im gesamten menschlichen Miteinander.

Der Perfektionismus als Schutzschild

Natürlich versuchen wir oft, uns vor Verletzlichkeit zu schützen. Ein weit verbreiteter Versuch ist Perfektionismus. Dabei handelt es sich, wie Brené Brown es nennt, um ein suchtartiges Glaubenssystem:
„Wenn ich nur alles perfekt mache und perfekt aussehe, dann kann ich schmerzhafte Gefühle wie Scham und Beurteilung vermeiden.“

Doch das funktioniert nicht. Im Gegenteil: Wenn wir scheitern, verstärkt sich der Druck nur noch mehr — bis wir irgendwann glauben, nicht gut genug zu sein. Perfektionismus hält uns gefangen und entfernt uns von unserem echten Selbst.

Was wir stattdessen brauchen, ist Selbstmitgefühl.

Freundlich mit uns selbst sein — Mindful Self-Compassion

Die Psychologin Kristin Neff hat drei zentrale Komponenten des Selbstmitgefühls beschrieben:

1. Achtsamkeit — das Erleben im Moment anerkennen: „So ist es jetzt.“

2. Geteilte Menschlichkeit — erkennen, dass wir nicht allein sind: „Anderen geht es auch so.“

3. Selbstfreundlichkeit — liebevoll mit uns sprechen, wie mit einem guten Freund: „Möge ich lernen, mich selbst anzunehmen, wie ich bin.“

Das Üben von Mindful Self-Compassion (MSC) hilft uns, unsere Unzulänglichkeiten zu akzeptieren und unsere Verletzlichkeit nicht länger zu verleugnen. Es eröffnet einen Weg zu mehr innerem Frieden, Verbindung und Lebendigkeit.

Wenn du diesen Weg gehen möchtest:
👉 Hier findest du geführte MSC-Meditationen und Übungen

„Lass das Perfekte nicht der Feind des Guten sein.“
– Voltaire

Verletzlichkeit ist kein Fehler. Sie ist der Weg zu echtem Menschsein, zu Liebe, Verbindung und Heilung.
Den Mut aufzubringen, sich verletzlich zu zeigen — das ist eines der stärksten Dinge, die wir tun können.

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Silke Turek
Silke Turek

Written by Silke Turek

ichundduberatung Praxis für Familien-, Paar- und Einzelberatung in Innsbruck

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