Nichts als die Wahrheit. Nichts ist die Wahrheit.

Simone Ines Wtz
6 min readDec 30, 2016

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Ich habe beruflich fast täglich mit Hasskommentaren, Fake-News, Propaganda, Meinungsmache, reißerischen Headlines zu tun. Auch wissenschaftlich gesehen interessiert mich der soziale Kontext, in dem und für den Medienerzeugnisse produziert werden. Im privaten Bereich vermeide ich es allerdings, soweit möglich, mich auch noch auf einer persönlichen Ebene mit diesen Themen zu beschäftigen.

Denn solange niemand den heiligen Gral findet…

  1. wie die Medienberichterstattung wieder weitestgehend nüchtern-neutral anstatt provokant-polemisch-populistisch (je nach Kanal und politischer Ausrichtung) und erfolgen kann,
  2. wie das System verändert werden kann, so dass Reichweitengeilheit nicht mehr die Penisgröße der Onlinemedien ist,
  3. wie die Autor_innen von Hetzkommentaren bzw. Anhänger_innen fragwürdiger Medienkanäle und/oder pseudo-politischer und politischer… nennen wir sie mal „Organisationen“ wieder eingefangen werden können bzw. von ihrem überwiegend rechtsdrehenden Irrweg abkommen,
  4. wie ebendiese Menschen mal wieder ihren gesunden Menschenverstand einschalten und sich selbst darum bemühen, ihre Informationen aus mehreren Quellen zu beziehen und miteinander abzugleichen, anstatt hirnlos dem Medium ihrer Wahl alles zu glauben und
  5. wie als letzte Instanz für Hoffnungslose eine wirksame (rationale, leicht verständliche) Argumentationskette entwickelt werden kann, um auch die nicht eigenständig Denkenden davon zu überzeugen, dass AfD, Pegida, Kopp und Konsorten der falsche Weg sind (und diese vor allem nicht belehrend oder überheblich kommuniziert wird),

… solange ist es müßig und macht es müde, in mühevoller Kleinarbeit in welchem Forum (forum hier im lateinischen Sinne als öffentlicher Raum jedweden Grades an Öffentlichkeit) auch immer wen auch immer mit welchen Mitteln auch immer von etwas überzeugen zu wollen, gegen das er sich vehement sträubt.

Insbesondere die ständigen Aufforderungen, Belege zu erbringen und Quellen nachzuweisen machen mich müde, wenn die Gegenseite dann doch immer nur auf Medien zurückgreift, die von etablierten Medien als rechtslastig, populistisch, propagandistisch etc. entlarvt wurden (oder alternativ sagt: nene, DU musst MICH überzeugen). Eine kleine Auswahl an Artikeln dazu für die Informierten, die mit solchen Fällen zu kämpfen haben und für die Nichtinformierten, die sich mal informieren sollten:

Quelle: Krautreporter

Weitere Leseempfehlungen werden dieser Liste auf Anfrage gerne angefügt.

Insgesamt meide ich Diskussionen dieser Natur auch deshalb, weil ich mich darüber zu schnell aufrege, zumal ich in Debatten durchaus hart und fies bin. Ein paar Sätze möchte ich dazu trotzdem noch schreiben — um auch den Bogen zurück zur Überschrift zu spannen.

Ich habe kein Interesse daran, im Kleinen irgendjemanden von irgendetwas zu überzeugen. Ich habe keine Zeit dafür, die Quellen herauszusuchen, die irgendetwas belegen oder widerlegen, eine Nachricht als Fake oder Propaganda enttarnen. Wenn ich eine Stunde investieren muss, um einer Person eine Meinung zu vermitteln, dann ist das — vielleicht ein wenig im Sinne des Effective Altruism (Video Peter Singer / TED, Video William MacAskill / Tim Ferriss Show) — verschwendete Zeit. Wenn ich diese eine Stunde aber in einen Medienbeitrag investiere, der eine größere Anzahl Menschen erreichen kann, dann habe ich meine Fähigkeit (Bloggen) effektiver genutzt, um damit — subjektiv aus meiner Warte betrachtet — „etwas Gutes“ zu tun.

Im Umkehrschluss heißt das auch: Wer wirklich an einer offenen Debatte mit kritischen Positionen interessiert ist, der sucht selbst nach den Quellen, die mehrere Perspektiven auf eine Geschichte zeigen. Am gefährlichsten sind Berichte, die Details aus dem Kontext reißen und als eigenständige Nachrichten präsentieren. Da wird ein Satz aus einem Video als Botschaft verbreitet, ohne das Vorher und ohne das Nachher zu beleuchten. Der Moment wird seiner Zeitlichkeit beraubt, er existiert nur noch im Hier und Jetzt, nicht mehr als Perle auf einer Kette aus aufeinanderfolgenden Momenten. Wenn ich auf jemanden treffe, der auf einer Information aus einer Quelle beharrt und von anderen verlangt, dass sie die Beweise heranschaffen um die Information zu widerlegen, dann breche ich das Gespräch ab. Es ist mir egal, ob jemand konservativ oder liberal, rechts oder links orientiert ist, woher die jeweilige Person stammt, wo sie lebt, wo sie schon war, welche Ausbildung sie hat, welcher Tätigkeit sie nachgeht, woran sie glaubt, wen sie liebt und in wessen Auftrag sie schreibt oder denkt. Den Aufstieg vom gläubig lesenden Fußvolk hin zur mündigen und reflektiert denkenden Leserschaft muss definitiv jeder für sich schaffen. Für mich zählt bei einem Menschen einzig die Fähigkeit zur Reflexion, Selbstreflexion eingeschlossen.

Ebenfalls äußerst gefährlich sind Medienkanäle mit einer Agenda. Das ist eine harte These, da alle Kanäle in unserer Aufmerksamkeitsökonomie eine Agenda haben: Öffentlich-rechtliche, private, staatliche, wirtschaftliche, gemeinnützige Kanäle buhlen primär um Reichweite, Klicks, Likes, Käufe, Shares, Mundpropaganda… Aber die so genannten „etablierten“ Medien und die so genannten „unabhängigen“ Medien (z.B. Journalistenkollektive) haben zumindest nur eine wirtschaftliche Agenda und einzig eine politische Agenda, die im Sinne der demokratischen Meinungsvielfalt wirkt. Mit der politischen Agenda anderer Länder infizierte und von ihnen finanzierte Medien, speziell auf Fake-News ausgelegte Klickgeneratoren (man kann sie nicht Medien nennen) oder parteipolitisch ausgerichtete Kommunikationskanäle hingegen sind echte Gefahren. Denn sie erheben einen Anspruch auf die Wahrheit, der jegliche faktische Grundlage entbehrt:

Niemand hat die Wahrheit gepachtet, niemand kennt die Wahrheit, denn es gibt keine einzige Wahrheit, sondern nur eine Vielzahl Versionen von Geschichten aus unterschiedlichen Perspektiven, die allesamt nur je eine mögliche Variante einer Wahrheit einer Geschichte erzählen. Nicht einmal das, was wir mit unseren eigenen Augen sehen, ist wahr, weil wir es aus unserer Sicht auf die Welt heraus wahrnehmen und mit unserem Erfahrungs- und Wissensschatz erkennen und in ihn aufnehmen. Diesen Ansatz nennt man Phänomenologie — das Erleben der objektiven Welt aus der subjektiven Weltsicht heraus.

Einzig das Ereignis an sich ist Erfahrung erster Hand; bereits das Beobachten und Erfassen des Ereignisses ist eine Erzählung desselben aus zweiter Hand.

Das beste Beispiel dafür ist der Augenzeugenbericht — der Augenzeuge erzählt das Ereignis, aber aus seiner Sicht, nicht als Wahrheit. Denn in dem Moment, in dem ein Ereignis in die Welt eintritt, bekommt es eine zeitliche und eine räumliche Gestalt, es wird verortet, verarbeitet; es vergeht. Zudem wird jedes Ereignis, das es überhaupt als berichtenswert auf die Agenda der Medien schafft, heute aus so vielen Perspektiven und in so vielen Versionen erzählt, dass man ehrlich gesagt ziemlich dumm wäre, nähme man an, dass eine davon tatsächlich wahr wäre.

Das einzig Wahre ist, dass es keine objektive Wahrheit gibt, sondern nur subjektive Narrative von für wahr befundenen Narrativen. Das gilt für Vergangenes wie für Gegenwärtiges wie für Zukünftiges. Einzig bei Zukünftigem ist man sich einig, dass keine Vorhersage wirklich wahr sein kann — bei Gegenwärtigem und Vergangenem erliegt man immer noch der Fiktion, dass es tatsächlich Wahres geben kann.

Historiker haben für Vergangenes so schöne Begriffe wie Geschichtspolitik, Geschichtsklitterung oder Geschichtsrevisionismus.

Politiker haben für Gegenwärtiges so hässliche Begriffe wie Postfaktizismus (auch als Substantiv nicht weniger hässlich als unser „Wort des Jahres“ postfaktisch). Mir dreht sich der Magen um, wenn nun Hasskommentatoren ihre Beiträge mit Phrasen einleiten wie: „Ich sage es jetzt mal postfaktisch…“. Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, postfaktisch zum Wort des Jahres zu ernenne, der hat damit wieder den pöbelnden Wutbürgern in die Hand gespielt, vielen Dank dafür. Sollte die Wahl 2017 in Deutschland ein katastrophales Ergebnis für die etablierten Parteien hervorbringen, dann werden meiner Meinung nach die Medien eine große Mitschuld daran getragen haben. Das war übrigens nicht postfaktisch.

Nichts als die Wahrheit? Nein, nichts ist die Wahrheit.

Was also tun, wenn man trotzdem einen klaren Kopf bewahren will? Nichts glauben, alles infrage stellen. Nie aufhören zu reflektieren, immer nachfragen und Quellen überprüfen. Und Posts wie diesen hier schreiben, teilen, verbreiten, kritisieren, zitieren. Macht euch Gedanken und überlasst nicht anderen das Denken.

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Simone Ines Wtz

Avid artist, creative cyberculturist, digitanalogue dreamer, inked imaginer, suspicious sociolgist, trilingual triathlete, utter utopianist, wicked wordsmith