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Polaritäten-Management im Journalismus

Stefan Schultz
4 min readJan 2, 2023

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Stabilität und Wandel, Nationalismus und Globalismus, Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum: Hinter vielen journalistischen Themen stecken ewige Polaritäten. Wie man sie aufspürt — und tiefgründiger berichtet.

Journalimus befasst sich oft mit konkreten Problemen. Im Golf von Mexiko strömen Millionen Liter Öl ins Meer. Wie lässt sich das stoppen? In Berlin tritt eine Ministerin zurück, weil sie Fehler bei der Flut im Ahrtal vertuscht hat. Wie arbeitet man so etwas auf? An der Wall Street geht die Investmentbank Lehman Brothers pleite und löst eine globale Finanzkrise aus. Wie rettet man jetzt die Weltwirtschaft?

Krisen wie diese gehen irgendwann vorbei. Doch die fundamentalen Strukturen, die sie ausgelöst haben, existieren weiter. Sie sind ewig, unauslöschlich, ein Quell für immer neue Konflikte. Sehr oft geht es eigentlich darum. Um Polaritäten.

Bei der Havarie der Plattform »Deepwater Horizon« im Jahr 2010 spielte die Polarität »Umweltschutz« und »Wirtschaftswachstum« eine große Rolle. Hinter dem Rücktritt von Bundesfamilienministerin Anne Spiegel im Jahr 2022 steckte die Polarität »Eigenverantwortung« und »menschliche Arbeitskultur«. Und bei der Finanzkrise 2008 ging es viel um die Polarität »regulierender Staat« und »freier Markt«.

»Und« wohlgemerkt, nicht »oder«. Denn Polaritäten funktionieren anderes als Probleme. Man kann sie nicht lösen, indem man sich für die eine oder die andere Seite entscheidet. Es ist eher wie beim Atmen. Wer nicht einatmet, stirbt. Wer nicht ausatmet ebenso. Will man leben, braucht man beides.

Bei den oben erwähnten Beispielen ist das auch so. Kapitalismus ganz ohne Umweltschutz würde die ökologische Katastrophe beschleunigen, Umweltschutz ganz ohne Wertschöpfung die soziale Krise vertiefen. Wer nur auf Eigenverantwortung setzt, fördert eine ausbeuterische Arbeitskultur. Und wer immer nur das System beschuldigt, verharmlost die eigene Verantwortungslosigkeit. Ein Staat, der alles reguliert, dürfte ebenso zugrunde gehen wie ein Staat, der alles dem Markt überlässt.

Polaritäten im Journalismus

Der aktuelle Journalismus bildet Polaritäten selten vollständig ab. Es gibt die Überzeugung, dass Berichte eine Haltung haben müssen. Und dass man sich dazu zwangsläufig auf eine Seite stellen muss. Die Debatte, die sich im April 2022 über den Rücktritt von Anne Spiegel entspann, veranschaulicht das.

Team Eigenverantwortung

Es gab damals einerseits Beiträge, die Leistung, Erfolg und Verantwortung betonten. Oft hieß es darin: Wer ein hohes Amt bekleide, dürfe nicht so viel Schwäche zeigen wie Anne Spiegel bei ihrem letzten großen Auftritt. Systemkritik, auch berechtigte, ließ man oft nicht gelten. Oder man tat sie als Ausrede ab.

Team Menschlichkeit

In anderen Berichten wurde Anne Spiegel zum Opfer einer toxisch-männlich geprägten Leistungsgesellschaft erklärt. Man forderte mehr Schutz vor Selbstausbeutung und einen menschlicheren Umgang mit Schwächen. Der öffentliche Zusammenbruch der Ex-Ministerin wurde gelobt. Manche sagten, sie habe die beste Rede ihres Lebens gehalten.

Blinde Flecken

Jedes Lager betonte die positiven Aspekte der eigenen Sichtweise — und verteufelte die negativen Aspekte des anderen. Für die negativen Aspekte der eigenen Sicht war man oft ebenso blind wie für die positiven Aspekte des anderen Lagers.

Es ist das typische Muster von Diskursen, hinter denen Polaritäten stecken. Man hockt auf dem eigenen Pol und schaut auf die Schattenseiten des anderen Pols herab. Man zeigt Haltung. Doch die Debatte, die so entsteht, ist wenig hilfreich. Sie kreist nur endlos in einer Schleife, bei der jeder das eigene Weltbild bestätigt.

Eine neue journalistische Haltung

Weiter kommt man, wenn man alle vier Seiten einer Polarität betrachtet. Wenn die journalistische Haltung kein Entweder-Oder mehr ist, sondern ein Sowohl-als-Auch. Man sieht dann zum Beispiel, dass beide Pole auf ihre Art zu hoher Motivation führen können — oder zu sinkender Produktivität.

Laut dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun braucht jede Tugend einen Gegenpol, um nicht zur Untugend zu verkommen. Sparsamkeit ohne Großzügigkeit wird zu Geiz, Großzügigkeit ohne Sparsamkeit zu Verschwendung. Der Unternehmensberater Barry Johnson hat eine Technik entwickelt, um solche Spannungsfelder zu managen.

Die Stärken beider Seiten lassen sich demnach verbinden und die Schattenaspekte beider Seiten minimieren. Der Lohn sind Erfindungen wie Windräder, soziale Marktwirtschaft oder eine ausgewogenere Arbeitskultur.

Johnsons Technik lässt sich auch gut im Journalismus nutzen. Und das ist gleich doppelt lohnend. Berichte werden ausgewogener. Und sie zeigen Wege auf, die die Gesellschaft nachhaltig voranbringen.

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