Recherche-Landkarte für integrale Journalist*innen
Eine Systematik, mit der du auch bei Riesen-Recherchen den Überblick behältst — und deinen blinden Flecken auf die Schliche kommst.
Kennst du das?
Du hast wochenlang recherchiert, mit einem Dutzend Menschen gesprochen — jetzt sitzt du vor deinen Notizen, und alles dreht sich.
Oder du hast eine schon Geschichte veröffentlicht, und dann erreichen dich die ersten Mails. Menschen, die sich offenbar mit dem Thema auskennen, werfen dir Einseitigkeit vor. Und — wenn du ehrlich bist: Sie haben ein wenig recht.
Wenn du mit Leidenschaft Journalistin oder Journalist bist: Dann kennst du das vermutlich beides. Dann fragst du dich vermutlich oft: Wie werde ich der Komplexität der Welt am besten gerecht?
Für mein Journalismus-Modell habe ich einen Kurs entwickelt, der Journalist*innen, Journalismus-Studierenden und Content-Creators genau dabei helfen soll. Ein Baustein ist folgende Recherche-Landkarte, die auf die integrale Theorie nach Ken Wilber zurückgeht.
Die Welt, die wir beschreiben, lässt sich zunächst in vier Quadranten einteilen: Es gibt individuelle und kollektive Phänomene, und es gibt innere und äußere.
Jeder dieser Quadranten hat zudem nochmals eine Innen- und Außenseite, sodass sich acht Zonen ergeben.
Klingt unlogisch? Keine Sorge. Das klärt sich gleich auf, wenn wir die Zonen durchgehen.
Individuell innen
Fangen wir oben links an, im individuellen Innen. Hier geht es um alles, was in einem einzelnen Menschen vorgeht. Etwa in meiner Protagonistin oder meinem Protagonisten. Oder auch in mir selbst als Reporter*in.
- Die Innenseite davon (Zone 1) ist mein subjektives Erleben, etwa meine Gedanken und Gefühle. Oder das Erleben dieser Perspektive als Zuschauender dank VR-Brille. Reportage-Beispiel.
- Die Außenseite (Zone 2) ist meine Persönlichkeitsstruktur — also alle Eigenschaften, die mein subjektives Erleben strukturieren. Etwa ob ich eher introvertiert oder extrovertiert bin. Oder meine grundlegenden Denkmuster. Text-Beispiel.
Kollektiv innen
Im unteren linken Quadranten geht es um alles, was in einem Kollektiv vorgeht. Also zum Beispiel in einer Gruppe oder auch in einer ganzen Gesellschaft.
- Die Innenseite davon (Zone 3) ist unser kollektives Erleben, also wie wir uns miteinander fühlen oder wie wir uns als Gruppe erleben. Etwa das Wir-Gefühl, die Gruppendynamiken, die Gesprächsatmosphäre. Reportage-Beispiel.
- Die Außenseite (Zone 4) sind die Strukturen, die dieses kollektive Erleben formen. Zum Beispiel Normen, Rollenbilder oder Ideologien. Also alles, was man gemeinhin »Kultur« nennt. Video-Beispiel.
Alle dieser vier Zonen haben eine Sache gemeinsam: Sie enthalten nichts Materielles. Nichts, das man anfassen kann. Nichts, das in der physischen Welt existiert. Nicht, das man mit den biologischen Augen ansehen kann.
Also eigentlich nichts, worüber man »objektiv« berichten kann, wenn man nach dem konventionellen journalistischen Rollenbild geht.
(Was lustig ist, weil dieses Rollenbild, das das Selbstverständnis vieler Journalist*innen prägt, selbst nichts »Objektives« ist. Sondern nur ein Konstrukt aus Zone 4. Doch dazu ein anderes Mal mehr.)
Individuell außen
Im oberen rechten Quadranten geht es um alles Physische, was einen Menschen ausmacht.
- Die Innenseite davon (Zone 5) sind alle Vorgänge in meinem Körper, etwa mein Puls oder die Zusammensetzung meiner Hirnwellen. Oder auch meine neuronalen Bahnen, die bestimmte Skills und Verhaltensmuster begünstigen. Dinge also, die man zwar eben sowenig sehen kann wie etwa meine Gedanken und Gefühle — die sich aber zumindest objektiv messen lassen. Reportage-Beispiel.
- Die Außenseite (Zone 6) ist das, was man sehen kann. Etwa die Physiognomie eines Menschen. Oder auch sein Verhalten. Beispiel-Glosse.
Kollektiv außen
Im unteren rechten Quadranten schließlich geht es um unsere Umgebung. Um die Landschaft, die eigene Wohnung oder das Wetter. Aber auch alle Systeme, die uns umgeben — wie das Gesundheits-, Transport- oder Wirtschaftssystem. Ob wir in einer Demokratie leben oder in einer Diktatur.
- Die Innenseite davon (Zone 7) sind die Auswirkungen all dieser Systeme auf die Menschen in ihnen: Wie viel Gesundheit, Mobilität und persönliche Freiheit ermöglichen sie uns? Aber auch: Wie gerecht sind die Systeme? Machen sie alle gleich gesund, mobil und frei? Beispiel-Text.
- Die Außenseite (Zone 8) sind die Systeme selbst. Wie sieht die Landschaft aus, in der ich wohne? Welche Geräte stehen in meiner Wohnung? Wie genau ist das mich umgebende Gesundheitssystem strukturiert? Beispiel-Text.
Ebenen, Systeme, Klassen
Die acht Zonen sind nur das Grundgerüst für systematisches Recherchieren. Die beiden kollektiven Quadranten etwa — die Zonen 3,4, 7 und 8 — lassen sich nochmals nach der Größe des zu beschreibenden Kollektivs gliedern:
- Berichte ich über eine Gruppe oder eine Familie? (Mesoebene)
- Über ein Gesetz, das ein ganzes nationales System verändert? (Makroebene)
- Oder gar über ein globales Phänomen wie die Klimakrise und die Pandemie? (Mundoebene)
Meist kommen mehrere dieser Ebenen in einer Recherche vor. Und die Wechselwirkungen zwischen ihnen. Und oft kann es helfen, einmal zu prüfen, ob ich alle relevanten Ebenen berücksichtigt habe.
Die Systeme, die die Zonen 7 und 8 betreffen, lassen sich konkret benennen und gemäß ihrer zentralen Handlungslogik betrachten.
Und in allen 8 Zonen lassen sich zudem verschiedene Klassen bestimmen, die sich gezielt beschreiben lassen. In Zone 6 etwa kann ich mir die Physiognomie, die Mimik oder die Körpersprache meiner Protagonisten genauer ansehen. Oder ihr Verhalten, ihre Wortwahl, ihre Kleidung. Ihren Emotionsausdruck, ihren Umgang mit Menschen, ihre Prosodie. Und noch vieles mehr.
Hinzu kommen, ganz genau genommen, noch der Reifegrad eines Phänomens (was aus vielen Klassen Entwicklungslinien macht). Und die Frage, ob man etwas als Momentaufnahme betrachtet oder als Prozess — und, wenn letzteres der Fall ist, wie lang die Zeithorizonte sind, die ich berücksichtige.
Die integrale Recherche-Landkarte
All das zusammen ergibt die integrale Recherche-Landkarte, die ich in meinem Kurs lehre. Inklusive spezieller Techniken, wie sich all diese Aspekte der Welt gezielt ergründen und beschreiben lassen.
Und ich zeige, wie sich das, was man recherchiert, mithilfe dieser Landkarte sortieren lässt. Das hilft mir dabei, auch bei sehr viel Material die Übersicht zu behalten.
Und es hilft mir zu erkennen, welche Aspekte der Welt ich mir bei meiner Recherche noch gar nicht angeschaut habe, es aber vielleicht tun sollte, weil sie meine Geschichte facettenreicher, ausgewogener oder berührender machen.
Die Recherche-Landkarte kann außerdem helfen, grundsätzliche blinde Flecken zu erkennen. Gern werte ich eine Stichprobe deiner Texte aus und prüfe, ob du manche Quadranten, Zonen, Ebenen, Systeme und/oder Klassen eher selten auf dem Schirm hast. Und welche Techniken du lernen kannst, um sie mehr in deine Artikel zu integrieren.
Wenn du deine journalistische Arbeit besser kennenlernen, erweitern und vertiefen möchtest, dann schreib mir. Ich helfe dir gern dabei weiter.