How to Change the World: 10 Transformationskompetenzen für systemischen Wandel

Stella Schaller
15 min readNov 9, 2022

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Bei Reinventing Society arbeiten wir mit 10 Transformationskompetenzen, die helfen, systemischen Wandel zu befördern und eine regenerative Welt zu gestalten. In diesem Artikel wollen wir euch einen Einblick dazu geben.

Eine regenerative Kultur macht Ganzheitlichkeit und Verbundenheit mit dem Leben zur Grundlage unseres Denkens und Handelns. Sie arbeitet auf systemische, integrale Weise an der Belebung und Erneuerung von ökologischen und sozialen Systemen. Das Leitbild einer regenerativen Kultur umfasst alle Ebenen von Gesellschaft. Eine regenerative Organisation zum Beispiel leistet nicht nur einen Beitrag zum gesellschaftlichen Gemeinwohl, sondern auch zum Wohlergehen der Mitarbeitenden, welche wiederum einen positiven Einfluss auf ihr Familiensystem haben. Alles ist miteinander verbunden.

Jede:r von uns kann den großen Wandel von degenerativen Strukturen, die auf Extraktion, Trennung und Wachstum basieren, zu regenerativen Strukturen, die lebensförderlich sind, gezielt unterstützen. Ob im Privaten oder Politischen, beim Job oder beim Sport, wir alle können im eigenen Umfeld Katalysator für diese Transformation sein. Wie das geht? Transformation geschieht da, wo Bereitschaft ist, das Gewohnte zu verlassen und sich auf Neues einzulassen. Es braucht dafür neue Kompetenzen, die uns helfen, unter den komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ein neues Paradigma heranwachsen zu lassen und in unser Handeln zu übersetzen. Es braucht neue kognitive, emotionale und soziale Kernkompetenzen, die uns helfen komplexe Systeme, uns selbst und andere Menschen besser zu verstehen, Hebel der Veränderung zu identifizieren, positive Zukünfte zu imaginieren und real werden zu lassen durch effiziente Zusammenarbeit.

Bei Reinventing Society erforschen, entwickeln und vermitteln wir in Seminaren, Trainings und Kursen genau diese Transformationskompetenzen. Die folgende Liste der Top-10 Kompetenzen ist ein Resultat unserer bisherigen Beratungs- und Transformationsarbeit in den Bereichen Organisationsberatung und -entwicklung, Nachhaltigkeit und Klima sowie Persönlichkeitsentwicklung, und sie ist Grundlage unserer Bildungsarbeit.

Die Kurzzusammenfassung richtet sich an Menschen, die sich selbst als Change Maker oder Transformationsakteur:in definieren und positiv in der Welt wirken oder wirken wollen. Und an Menschen, die sich für unsere Arbeit interessieren und wissen wollen, was sie erwartet.

Als Change Maker ist es unsere Aufgabe, nicht mehr dienliche kollektive Glaubenssätze, Selbstverständnisse und Paradigmen zu dekonstruieren und das Neue, was erst im Entstehen ist, zu verkörpern. Change Maker sind diejenigen, die mit Mut und Ausdauer eine klare Vision einer lebenswerten Zukunft entwickeln, andere in sie einladen und Widerstände auf dem Weg der Transformation überwinden. Die Transformationskompetenzen sind die innere Ausstattung, um genau dies zu tun.

1. Vorstellungskraft

Vorstellungskraft oder auch Visionskraft ist die Fähigkeit, mit der wir positive Zukünfte beschreiben und sichtbar machen können. Wie könnte eine schönere Welt überhaupt funktionieren und aussehen? Wie wollen wir eigentlich leben oder in einer idealen Zukunft zusammenarbeiten? Im Krisen- und Gewohnheitsmodus stellen wir diese Fragen erst gar nicht, versanden in Zynismus oder Realismus und haben keine Orientierung oder inneren Kompass, wohin wir als Gesellschaft wollen. Die pessimistische, zum Teil dystopische Debatte um unsere gemeinsame Zukunft ist Symptom unserer mangelnden kollektiven Vorstellungskraft.

Change Maker wagen es, gewohnte Strukturen, Paradigmen und Systemlogiken zu hinterfragen und eine regenerative Welt zu imaginieren, wünschenswerte Zukünfte zu erträumen und diese zu kommunizieren und zu verkörpern. Es sind Menschen, die in ihren Herzen eine Vision tragen und sich von vermeintlichen Sachzwängen abwenden. Eine Vision funktioniert wie ein Leitstern — sie zeigt uns den Weg und hilft uns, Entscheidungen zu treffen und unserem Handeln einen größeren Sinn zu geben. Sie muss nicht 100% realistisch sein, aber von ihr können wir ableiten, was jetzt zu tun ist.

„Imagine it and you can achieve it,“ sagte der Schriftsteller William Arthur Ward einmal. Erst wenn wir eine klare Vorstellung davon haben, welche Zukunft wir eigentlich gestalten wollen, können wir diese manifestieren. Die Methode des Backcastings aus der Zukunftsforschung ermöglicht es, mithilfe einer Zukunftsvision Strategien in einer disruptiven anstatt einer linearen Logik zu entwerfen. Besonders das Gefühl des Neuen — also eine sensorische, körperliche oder emotionale Empfindung — motiviert uns zum Handeln. Mit dem utopischen Denken, einem Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel, können wir alternative Zukunftspfade entdecken und erfühlen. Diese neue Beziehung zur Zukunft hilft uns dabei, in Krisenzeiten wieder handlungsfähig zu werden und uns auf das Positive auszurichten. Auch die Psychologie und Neurowissenschaft belegen immer wieder die gewaltige Kraft unserer Gedanken und Denkmuster.

2. Selbstanbindung & Präsenz

Selbstanbindung bedeutet, mit sich — seinem Körper, seiner Seele, seiner Intuition, seinen Werten und seinen Emotionen — im Alltag verbunden zu sein. Die Selbstanbindung ermöglicht es uns, den Zustand in unserem Inneren wahrzunehmen und zu merken, was für psychische Dynamiken ablaufen, um bewusst damit umzugehen. Oft werden wir im Alltag unbemerkt von Stress, Sorgen, verdrängten Schattenanteilen oder kritischen Stimmen beeinflusst und in destruktive Verhaltensmuster gedrängt. Präsenz und Selbstanbindung helfen uns, solche Einflüsse zu erkennen, wieder in unsere Mitte zu gelangen und in Situationen des Alltags aus einer tieferen Weisheit zu handeln. Wenn wir Bewusstsein für unsere inneren Abläufe und das komplexe Zusammenspiel von Körper, Seele, Geist, Intuition und Psyche entwickeln, wird es gelingen, in unterschiedlichsten Situationen lebensförderlich zu agieren.

Aus einer tiefen Verbundenheit mit uns selbst kann auch die Verbundenheit mit dem Rest der Welt erwachsen. Denn im Innersten fühlen wir, dass wir in größere Systeme eingebettet und schicksalshaft mit anderen, der Natur und dem Planeten verbunden sind. Leadership-Coach Otto Scharmer hat daher die Präsenz zum Kern seiner Theory U gemacht und beschreibt, wie nur durch sie Transformation gelingt und Neues entstehen kann. Präsenz ist die Fähigkeit, mit dem eigenen Bewusstsein voll und ganz hier zu sein und absichtsvoll zu handeln.

Change Maker können als positives Vorbild vorangehen, wenn sie Verantwortung für sich und ihre Innenwelt übernehmen. Gelebte Selbstanbindung ist auch ein Geschenk an andere Menschen: Wir alle kennen die heilsame Gegenwart weiser Menschen, die in sich ruhen und nach ihren innersten Werten handeln.

3. Systemisches Denken

Systemisches Denken ist die Kompetenz, sowohl Dinge und Ereignisse in ihrer Verbundenheit — als Ganzes — als auch zugrundeliegende Muster von komplexen Systemen zu erkennen. Es bedeutet, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Viele vermeintliche Lösungen scheitern, weil sie nicht systemisch gedacht sind, sondern in einer linearen Logik verbleiben und Symptome bekämpfen. Ein Beispiel dafür ist Biosprit, für den Monokulturen angebaut werden, welche sowohl die Biodiversität als auch die Ernährungssicherheit anderer Nationen untergraben. Ein Positivbeispiel sind dagegen die Gestaltungsprinzipien der Permakultur, die eine systemische Weltsicht zum Ausdruck bringen. Permakulturell gestaltete Lebensräume werden als Systeme aufgefasst, in denen Synergien zwischen einzelnen Elementen so kombiniert werden, dass das System krisenfest funktioniert und möglichst die Bedürfnisse aller Elemente erfüllt. Menschen mit der Kompetenz des systemischen Denkens halten Komplexität (aus) (siehe 5. Ambiguitätstoleranz) und verändern Systemstrukturen anstatt Symptome.

Wir haben als Gesellschaft zu lange die vielen Wechselwirkungen zwischen Biodiversität, Wirtschaft, Gerechtigkeit, Armut, Klima, Politik, Kultur, unserer menschlichen Psyche und Wohlbefinden ausgeblendet. Es ist jetzt Zeit, diese Themen wieder integriert zu betrachten. Der Grundsatz des systemischen Denkens ist „alles ist mit allem verbunden“. Lösen wir uns von der Egozentrik, wird echte Kooperation und Handeln für das Gemeinwohl möglich.

Die Systemtheoretikerin Donella Meadows, die wesentlich an dem Report zu den Grenzen des Wachstums 1972 beteiligt war, hat herausgearbeitet, dass der größte Hebel für systemischen Wandel unsere Mindsets, unsere Annahmen und Narrative über uns selbst sind sowie die Fähigkeit, diese zu transzendieren. Wollen wir einen Paradigmenwechsel herbeiführen, müssen wir uns also zuallererst mit einem Wandel unseres Denkens beschäftigen und damit zur Quelle aller Handlungen reisen.

In transformativen Veränderungsprozessen von Teams und Organisationen liegen systemische Hebel oft auf einer zwischenmenschlichen Beziehungsebene. Zum Beispiel: Wo im System ist Macht auf ungesunde Weise konzentriert? Wer hat welchen Rang inne und welche (unausgesprochenen) Hierarchien gibt es? Welche Beziehungen liegen im Argen und beeinflussen das Gesamtsystem? Menschen mit dieser Kompetenz schauen darauf, wo in einem System Dinge in Dysbalance sind und welche Akupunkturpunkte systemischen Wandel auslösen können (siehe auch 4. Transformationswissen).

4. Transformationswissen

Was braucht es international, national, regional und lokal, um in ein regeneratives Zeitalter überzugehen? Diese Kompetenz umfasst ein grundlegendes Verständnis der wichtigsten thematischen Hebelpunkte für systemischen Wandel — im Innen und im Außen. Beispiele für solche Themenfelder sind die regenerative Landwirtschaft oder gemeinwohlorientierte Wirtschaft, eine nachhaltige und gerechte Finanzindustrie und regenerative Energieversorgung, soziale und institutionelle Voraussetzungen für eine ko-kreative Demokratie. Außerdem gehören z. B. dazu Ansätze zur Entpolarisierung der Gesellschaft, Grundwissen zur Heilung kollektiver Traumata und Aussöhnung der Geschlechter, sowie geopolitische, ökonomische, strukturelle Macht- und Interessenskonstellationen, die großen Wandel befördern oder blockieren. Insbesondere die vielfach belegten Wechselwirkungen zwischen der Makroebene (Wirtschaft, Finanzen, Ökologie) und der Mikroebene (Psychologie, Traumata, Mindsets) sind Change Makern bekannt.

Transformationswissen ist essenziell, jedoch ohne andere Kompetenzen wirkungslos. Es dient uns als Landkarte, aber im Alltag zählen andere Fähigkeiten als das mentale Wissen in unserem Kopf. Transformationsbemühungen müssen auf tieferen Ebenen ansetzen, z. B. unserer Emotionen, Mindsets, Beziehungen und unserer Identität. Daher braucht es positive Erfahrungen und Experimentierräume, wo wir als gesamtes Wesen und mit Kopf, Herz und Hand erfahren, wie sich Transformation anfühlt und wie wir sie befördern können (siehe auch 6. Prozesskompetenz).

5. Ambiguitätstoleranz

In einer Welt, in der alles im Wandel ist und wo Unsicherheit und Komplexität alles durchdringen, braucht es eine innere Flexibilität und Offenheit für Mehrdeutigkeiten. Die Ambiguitätstoleranz ist die Kompetenz, zwei oder mehr Wahrheiten und Perspektiven in sich zu halten und auszuhalten. Wir erkennen an, dass Dinge nicht einfach in gut oder böse, schwarz oder weiß, richtig oder falsch zu unterteilen sind. In Transformationsprozessen geht es mal rauf und mal runter, das Alte ist noch nicht weg und das Neue noch nicht geboren, und verschiedene Realitäten verflechten sich. Manchmal dauert es länger, bis eine Lösung an die Oberfläche tritt und bis dahin müssen wir im Nebel navigieren und Unsicherheit oder Spannung aushalten (siehe auch 6. Prozesskompetenz). Klammern wir uns an die „eine“ Wahrheit, werden wir starr, unflexibel und rechthaberisch. Gesellschaftliche Polarisierung entsteht da, wo Menschen meinen, die Wahrheit für sich beanspruchen zu können und andere für ihre Standpunkte verurteilen. Die Folge: Populist:innen erhalten Zulauf, weil sie vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme haben. Gleichzeitig werden diese Populist:innen wiederum gebrandmarkt und von dem Diskurs ausgeschlossen, weil sie strittige Positionen vertreten. Eine Teufelsspirale.

Zur Ambiguitätstoleranz (wie auch zur Kompetenz 7. Herzoffenheit und 8. Kommunikationsfähigkeit) gehört das Eingeständnis, dass unsere Wahrnehmung von Realität verzerrt und unsere Perspektive enorm subjektiv ist. Change Maker wissen, dass sie auch nur einen kleinen Ausschnitt der Realität wahrnehmen und handeln mit Neugierde und Demut. In dem Wissen, dass tausende Filter unsere Wahrnehmung trüben und unser Standpunkt das Ergebnis von unserer sehr individuellen Lebensreise ist, können wir auch anderen Perspektiven offen gegenübertreten und unsere eigenen Schlüsse kritisch hinterfragen. Manchmal fallen auch Change Maker in alte Weltbilder zurück — auch das ist normal und Teil der kollektiven Evolution.

Ambiguitätstoleranz hilft, den in uns angelegten Drang nach Ordnung, zu drosseln, Widersprüchlichkeiten unseres Seins auszuhalten, mit eigenen Urteilen und vorschnellen Entscheidungen achtsam zu sein und in Spannungssituationen ein Sowohl-als-Auch zu finden: sowohl bottom-up als auch top-down, sowohl links als auch rechts, sowohl Konkurrenz als auch Kooperation, sowohl Wissenschaft als auch Intuition, sowohl Effizienz als auch Großzügigkeit. Diese Integration von Gegensätzen macht uns zu echten Game Changern.

Wenn Menschen in der Lage sind, eine integrierende Perspektive einzunehmen und sich vom Zwang einer einzigrichtigen Lösung freizumachen, wird ihr Urteil zu einer wundervollen, transformativen Kraft.

6. Prozesskompetenz

Was sind die Katalysatoren von und Widerstände in Transformationsprozessen? Welche Analyseraster können wir nutzen, um solche Prozesse zu verstehen und aktiv zu gestalten? Welche Qualitäten sind zu welchem Zeitpunkt im Veränderungsprozess nötig? Diese Fragen beantworten sich mit Prozesskompetenz. Es ist die Fähigkeit, Veränderungsvorgänge zu verstehen und zu unterstützen. Das heißt auch, den „Raum zu halten“, in dem sich etwas transformiert und mögliche Tiefpunkte während der Transformation zu moderieren. Und es bedeutet, die richtigen Fragen zu stellen, denn meist passiert Transformation nicht durch bereits vorhandene Antworten, sondern dank tiefer Fragen und Zuhören.

Praktische Modelle und Frameworks der Transformation können helfen, die Logik von Transformationsprozessen von Individuen, Teams, Organisationen und größeren Systemen besser zu begreifen und analysieren. Am Ende zählt jedoch die Fähigkeit, in der Situation selbst zu spüren, wo ein Prozess steht und welche Qualitäten und Methoden es braucht, um Schwellen der Transformation zu übertreten und eine neue Stufe zu erklimmen. Oft passieren Dinge auch unter der Oberfläche, die im Prozess gar nicht sofort sichtbar sind. Hier braucht es Vertrauen und Geduld in das noch ungeborene Neue.

Häufig stellen sich uns auch Widerstände und Konflikte in den Weg und wir bekommen das Gefühl, uns im Kreis zu drehen, um den heißen Brei zu reden, festzustecken oder keine Lösung zu finden. In diesen Momenten denken wir meist — bewusst und unbewusst: “Zurück zum Alten!” — das uns vermeintlich Sicherheit und Stabilität verspricht. Hilfreich ist es dann, Bewusstheit in die Spannung zu bringen, geduldig zu sein, die Situation zu erforschen und den Prozess zu Ende zu führen. Change Maker mit Prozesskompetenz können auch größere Spannungen aushalten. Sie wissen, dass Transformation oft erst durch einen Konflikt passiert und jede Krise eine gewaltige Chance ist. Die folgenden Kompetenzen der Herzoffenheit und Kommunikationsfähigkeit sind auch hier weitere wichtige Unterstützer.

7. Herzoffenheit

Eine der wichtigsten Transformationskompetenzen ist die Herzoffenheit. Sie ist die Fähigkeit, Geschehnisse im Außen an sich heranzulassen, sich in andere hineinzufühlen und sich mit der Welt auf einer Herzensebene zu verbinden.

Sind wir im Herzen offen, lassen wir uns von den Katastrophenbildern und dem Leid unserer Mitwesen wirklich berühren, gehen in Beziehung damit, erlauben unsere Gefühle und finden auf einer tieferen Ebene authentische Antworten. Es ist ein in-Kontakt-sein mit der Wirklichkeit, ohne von Wahrnehmungsfiltern und Interpretationen von ihr distanziert zu werden. Nichts wirkt besser gegen Zynismus und Fatalismus als ein entwickeltes Herz, das seine eigenen Verletzungen spürt und den Schatten des Menschseins mit Mitgefühl begegnet, ohne sich zu verschließen.

Gerald Hüther und Marcell Heinrich schrieben kürzlich: „Zu fest hat sich in unseren Gehirnen die Vorstellung eingegraben, alle Probleme dieser Welt ließen sich mit dem Verstand lösen […] Anstatt uns immer stärker mit allem Lebendigen zu verbinden, hat uns der Einsatz unserer kognitiven Fähigkeiten immer stärker von allem Lebendigen getrennt.“ Bei der Herzoffenheit geht es darum, die Verbundenheit mit dem Leben und anderen Wesen wiederherzustellen. Ohne sie kann die gesellschaftliche Zerrissenheit nicht geheilt werden, werden Krisen weiterhin in Konflikten und Konflikte in Kriegen enden, und Vertrauen, Potenzialentfaltung oder psychische Sicherheit am Arbeitsplatz utopische Ideen bleiben.

Viel transformatives Potenzial könnte freigesetzt werden, wenn wir kollektiv Strukturen schaffen, in denen Herzoffenheit gefördert und als wichtige Ressource für Innovation und Fortschritt betrachtet wird. Begegnen wir anderen mit einem offenen Herzen und einer wertfreien Haltung, machen wir ein unbezahlbares Geschenk, denn jeder Mensch will gesehen, gespürt und gehört werden.

8. Kommunikationsfähigkeit

Kommunikation ist Grundbedingung menschlichen Zusammenlebens und ein zentraler Ansatzpunkt für Transformation. Kommunikation ist ausschlaggebend für die Qualität unserer Entscheidungen, das Glück oder Unglück, das wir tagtäglich empfinden, und für die Anzahl von Konflikten, Verletzungen oder guten Ideen, die im gemeinsamen Raum entstehen. Nirgends können wir jeden Tag so viel Transformation geschehen lassen, wie in der Kommunikation mit anderen und mit uns selbst.

Grundvoraussetzung für effektive Kommunikation sind die Selbstanbindung und Herzoffenheit (s.o.) sowie aktives Zuhören. Das bedeutet, seine eigenen Gedanken und Perspektiven für einen Moment zurückzustellen, konzentriert zu bleiben und sensibel dafür zu sein, was gerade wirklich im Gegenüber präsent ist. Es ist die Fähigkeit, andere Standpunkte wertschätzend zu hören und die Bedürfnisse dahinter zu erkennen, ohne zu kommentieren und zu bewerten. Wir wissen aus Studien, dass Führungskräfte Menschen motivieren können, wenn sie einfach nur richtig zuhören. Der konstruktive Ausdruck der eigenen Perspektive mithilfe von gewaltfreier Kommunikation oder einer angemessenen Sprache ist außerdem wichtiger Bestandteil der Kommunikationsfähigkeit. Hierfür braucht es auch Selbstregulation — die Fähigkeit, in Konflikten, Stress- oder Trigger-Situationen bei sich zu bleiben und Botschaften so zu formulieren, dass sie die Gesprächspartnerin gut verstehen kann. Konflikte können nur dann wirklich gelöst werden, wenn ich in der Lage bin, meine eigenen Anliegen zu fühlen (siehe 2. Selbstanbindung & Präsenz) und gleichzeitig höre und wirklich verstehe, was dem Gesprächspartner wichtig ist. Mit der Haltung, dass meine Gegenüber ebenfalls Bedürfnisse, Verletzungen und Sorgen mit sich tragen, kann ich auch in schwierigen Situationen, oder wenn ich auf Widerstände treffe, liebevoll mit dem gemeinsamen Ziel im Auge kommunizieren, ohne andere abzuwerten.

Je mehr psychologische Sicherheit in der Kommunikation hergestellt wird, beispielsweise durch aktives Zuhören, desto erfolgreicher ist die Zusammenarbeit zwischen Menschen. Dies hat unter anderem die viel zitierte Google Studie “Aristoteles” zu Teamperformance in den letzten Jahren gezeigt. Auch wurde gemessen, dass die Fähigkeit zur Empathie zwischen Mitarbeitenden zu einer verbesserten Konfliktlösung, höherer Performance, Innovation und erhöhtem Engagement führt. Empathie in Teams ist der entscheidende Faktor, der Zusammenarbeit erfolgreich macht und kollektive Intelligenz erhöht. Selbstverständlich ist manchmal eine Abwägung nötig, bis wohin Empathie und Zuhören sinnvoll sind und ab wann sie Überforderung oder andere Formen der emotionalen Abspaltung verursachen.

9. Agile Führung

Führung zu übernehmen bedeutet, Verantwortung für sich und das große Ganze zu tragen und einen neuen Weg zu ebnen. Um die große Transformation zu bewältigen, braucht es mehr Menschen, die in eine regenerative Zukunft führen und in der Lage sind, andere mitzunehmen.

Zur agilen Führungskompetenz gehört die Fähigkeit, je nach Situation entweder selbst zu führen oder sich führen zu lassen, also eine dem Kontext angemessene Rolle einzunehmen. Nicht die Position oder der Rang sollten entscheiden, wer temporär in Führung geht, sondern die jeweilige situative Kompetenz. Dazu braucht es eine starke Wahrnehmungsfähigkeit, Sensibilität und ein gutes Gespür für Gruppen und Gesamtsysteme. Was ist jetzt gerade stimmig? Wo fließt die Energie hin und welchen und wessen Impulsen ist jetzt zu folgen? Wer hat gerade die meiste Kompetenz? Wollen wir effektive Selbstorganisation ermöglichen und die kollektive Intelligenz heben, sollten wir uns nicht von Führung verabschieden. Allerdings sind dezentrale und dynamische Formen der Führung nötig, die Eigenverantwortung stärken und schnell auf neue Herausforderungen reagieren können. Pferdeherden werden oft als Vorbilder für agile Führung betrachtet. Nur Pferde, die ihre Emotionen regulieren können, Verantwortung übernehmen oder abgeben, wenn jemand anderes stärker scheint, und den Überblick behalten, gewinnen das Vertrauen der anderen.

Agile Führung erfordert auch, dass wir in uns selbst Polaritäten integrieren können, zum Beispiel die maskulin und feminin konnotierten Anteile und Qualitäten. Als agile Führungskräfte balancieren wir zwischen Yin und Yang, sind sowohl mitfühlend als auch mutig, proaktiv als auch in der Lage Macht abzugeben, sowohl zielstrebig als auch vertrauensvoll, sowohl rational-analytisch als auch intuitiv-spürend.

Ein modernes Führungsverständnis hebt sich zudem vom klassischen „Management“ ab und priorisiert „Leadership“ — eine Haltung mit Vorbildcharakter. Leadership ist eine Qualität, die eine Gruppe durch Vision, Inspiration, Motivation und einem Mindset der gegenseitigen Stärkung und Befähigung in eine gemeinsame Richtung lenkt. Agile Führungskompetenz setzt daher eine besonders starke Kenntnis der eigenen inneren Dynamiken und verantwortungsvollen Umgang mit Rang und Macht voraus.

10. Manifestationskompetenz

Manifestation kommt aus dem Lateinischen und heißt etwas vorher Unsichtbares und Nicht-existentes ‚handgreiflich machen‘. Alles Wissen und alle guten Vorsätze helfen nicht, wenn wir nicht ins Handeln kommen aufbringen. Change Maker geben Visionen eine Form und lassen aus Utopien Realutopien werden. Sie haben gelernt, den ersten Schritt zu gehen, auch wenn der Weg weit scheint und die Strecke noch unbekannt ist. Sie gehen los und stehen wieder auf, wenn sie gestolpert sind. Sie holen sich links und rechts Rat und Feedback, probieren Neues aus. Sie wissen, dass auch ein langer Weg ans Ziel führt. Mut, Ausdauer, Beharrlichkeit und die Fähigkeit, Widerständen offen zu begegnen sind Teil dieser Transformationskompetenz.

Oft haben wir gute Ideen, Träume oder Hoffnungen und wagen es nicht, über sie zu sprechen. „Zu unausgereift, nicht realistisch…“, warnt unser innerer Kritiker. Change Maker wissen, dass diese inneren Widerstände in jedem Transformationsprozess auftreten und sind in der Lage, konstruktiv mit ihnen zu arbeiten.

Ist die Richtung klar und die Entscheidung gefällt, sind Klarheit und Entschlossenheit weitere wichtige Aspekte der Manifestation. Manchmal braucht es dafür einiges an kraftvoller Yang-Energie, zum Beispiel wenn es nötig ist, bewusst in eine Konfrontation zu gehen oder für etwas einzustehen.

Wichtig ist, hier die eigene Form der Manifestation zu finden. Nicht jede:r muss ein eigenes Unternehmen gründen, ein Produkt erfinden oder eine Kathedrale bauen. Die Manifestation drückt sich in unterschiedlichsten Erscheinungen aus — manchmal vielleicht als helfende Hand oder Inspiration für andere oder manchmal als künstlerische Interpretation. Manifestationskompetenz bedeutet ausprobieren, lernen, wachsen, sich zeigen und Wandel in die Welt zu bringen.

Mit 10 Kompetenzen durchstarten

Die letzten Jahrhunderte waren vor allem auf das äußere Wachstum ausgerichtet. Wir haben in einigen Teilen der Welt eine Wohlstandsgesellschaft geschaffen, sind auf dem Mond gelandet, haben internationale Institutionen errichtet und ultraintelligente Robotik und Blockchain-Technologien entwickelt. Nun ist es Zeit für inneres Wachstum, also die Entwicklung unseres Bewusstseins, unserer Herzen und unserer Beziehungen. Viele neue Technologien sind zwar innovativ, aber nicht transformativ. Sie unterstützen die Weiterführung des bisherigen degenerativen Systems und tragen weder zur Veränderung unserer Paradigmen unseres Handelns noch zur ökologischen und sozialen Reparatur bei, die jetzt so dringend nötig sind.

Transformationsarbeit im Sinne der Nachhaltigkeit ist auch eine Form von Heilungsarbeit. Die Regeneration von Ökosystemen, die Wiederherstellung sozialen Zusammenhalts und demokratischer Strukturen, die Heilung kollektiver Traumata und die Aussöhnung mit unserer Seele und unserem eigenen Körper sind keine optionalen Luxusgüter. Es sind die Grundlagen einer gesunden, florierenden Gesellschaft. Um diese Regeneration(en) stattfinden zu lassen, ist jedoch ein anderes Mindset nötig als das, welches wir seit langem gewöhnt sind. Denn Innen und Außen bedingen sich gegenseitig.

In unseren Seminaren zu regenerativer Führung und Transformation, zum Beispiel dem Transformation Bootcamp, lernen unsere Teilnehmer:innen, die 10 Kompetenzen auszubilden und sich theoretische und praktische Fertigkeiten anzueignen. Wir öffnen gemeinsam einen vertrauensvollen Raum, in dem transformativ gearbeitet wird — in Form von Partnerübungen, Rollenspielen, Imaginations- und Kreativitätstechniken, Aufstellungen, gemeinsamen Diskussionen, Inputs, Journalling-Übungen und vielen anderen Formaten und Methoden. Wichtig ist uns dabei, dass das theoretische Wissen wirklich tiefer sinkt, in Gewohnheiten übergeht und zu verkörpertem, gelebten Wissen wird. Denn das Motto der Stunde lautet: Walk the Talk.

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Von Stella Schaller. Mitwirkung: Anna Reisch, Lisa Trogisch, Lino Zeddies und Simon Mohn

Referenzen und weiterführende Literatur

  • Ursel Biester et al. 2020: A Transformative Edge. Knowledge, Inspiration and Experiences for Educators of Adults.
  • Bettina Rollow und Joana Breidenbach 2019: New work needs inner work
  • Daniel Christian Wahl 2016: Designing Regenerative Cultures
  • Don Edward Beck und Christopher C. Cowan 2007: Spiral Dynamics Leadership, Werte und Wandel
  • Donella Meadows 1997: Leverage Points: Places to Intervene in a System
  • Giles Hutchins & Laura Storm 2019: Regenerative Leadership
  • Hanzi Freinacht 2017: The Listening Society
  • Karl Hosang: https://karlhosang.de/
  • Ken Wilber 1977: The spectrum of consciousness
  • Otto Scharmer 2016: Theory U: Leading from the Future as It Emerges
  • Otto Scharmer und Katrin Käufer, 2017: Von der Zukunft her führen: Von der Egosystem- zur Ökosystem-Wirtschaft. Theorie U in der Praxis
  • Peter Spiegel et al. 2021: Future Skills: 30 Zukunftsentscheidende Kompetenzen und wie wir sie lernen können
  • Rob Hopkins 2019: From What Is to What If: Unleashing the Power of Imagination to Create the Future We Want

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