Tag 1 nach dem Plebiszit

Stefan Barth
6 min readOct 4, 2016

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“Gastbeitrag” meiner Freundin

Vor mittlerweile zehn Tagen sind wir zu zweit schwer bepackt von Deutschland aus in Richtung Kolumbien aufgebrochen — ich mit dem Ziel in Bogotá Feldforschung zu betreiben und ein Praktikum bei einer internationalen Nichtregierungsorganisation zu machen, die seit Jahren den Friedensprozess in Kolumbien als Beratungsinstanz maßgeblich begleitet hat.

Der Auftakt hätte mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages am vergangenen Montag, die bei vielen Kolumbianern Euphorie, Erleichterung und Zuversicht auslöste, kaum besser sein können. Heute, eine Woche später und am Morgen nach der Volksabstimmung über das Friedensabkommen, treffe ich an meinem ersten Tag im Büro ausschließlich auf Betroffenheit und Ratlosigkeit. Einziges Diskussionsthema sind die Ereignisse des Vorabends und die möglichen Konsequenzen.

Bei einer allgemeinen Wahlbeteiligung von etwa 36% waren die Gegner des Friedensabkommens den Befürworten mit einer Differenz von einem knappen halben Prozent überlegen. Was besonders betreten macht: Insbesondere in den Regionen, in denen die Bevölkerung am stärksten von der Gewalt betroffen ist, überwog der Anteil der JA-Stimmen.

Die interaktive Karte ist auf http://plebiscito.registraduria.gov.co zu finden.

Für das allgemeine Wahlergebnis habe ich im Nachhinein viele Erklärungsversuche gehört und gelesen: Manche verweisen auf den Orkan, der an der Karibikküste gewütet hat, andere auf die Umfragen, die in den vergangenen Wochen die JA-Befürworter in Sicherheit gewogen haben, wieder Andere auf die fehlende politische Kultur und das Desinteresse der Bevölkerung. Wetterbedingungen und politischen Analphabetismus mal dahingestellt, ist wohl eine — offenbar nur scheinbar triviale — Lehre für künftige Volksabstimmungen (wenn man diese denn abhalten möchte), dass man einen plakativen und polarisierenden Wahlkampf besser durch die langfristige und umfassende Bemühung ersetzen sollte, durch Informationen und Bildung die Bevölkerung an die Inhalte und den Kontext des Friedensvertrages heranzuführen.

Wir haben uns die Auswertung und Verkündung des Abstimmungsergebnisses und die Berichterstattung und Reaktionen gestern abend im Fernsehen angesehen. Ich konnte es zunächst überhaupt nicht fassen und bin immer noch ziemlich entsetzt. So geht es auch allen Menschen, denen ich bisher begegnet bin und mit denen ich in der Woche, seitdem ich hier bin, über das Abkommen und die Abstimmung gesprochen habe. Sie alle haben sich für das Abkommen ausgesprochen und niemand hat mit dem Ergebnis gerechnet. Das ist natürlich vor dem Hintergrund zu sehen, dass ich hier in erster Linie mit Menschen in Kontakt bin, die selbst durch ihre verschiedenen Tätigkeiten in den Friedensprozess eingebunden sind. Aber auch die Menschen, denen ich in ganz anderen Kontexten begegnet bin, wie beispielsweise unsere Vermieter und Mitbewohner, haben diese Einstellung geteilt. Tatsächlich war die Bevölkerung allerdings bereits im Vorfeld der Abstimmung sehr polarisiert: Sogar innerhalb von Familien und Freundeskreisen gibt es große Zerwürfnisse, alternativ wird das Thema in solchen Situationen totgeschwiegen. Vor allem am Tag der Abstimmung (und noch anhaltend) gab es sehr starke emotionale Auseinandersetzungen in sozialen Netzwerken (z.B. Twitter #ColombiaDecide).

Anhänger der NEIN-Kampagne betonen, dass sie sehr wohl für einen Frieden, aber eben nicht dieses Friedensabkommen, seien. Sie kritisieren insbesondere, dass das Abkommen politische Partizipation für FARC-Anführer und vor allem unter Umständen Straffreiheit ermögliche. Lässt man womögliche andere Interessen, die sich beispielsweise auf Großgrundbesitz beziehen, außer Acht, steht also die Vereinbarkeit von Frieden und Gerechtigkeit im Mittelpunkt der Debatte. Aus juristischer Perspektive, insbesondere der von Menschenrechtsorganisationen (Human Rights Watch hat beispielsweise wiederholt Kritik an dem Abkommen geübt), ist das Friedensabkommen selbstverstandlich nicht zufriedenstellend — alleine schon, da die darin beschriebene Sondergerichtsbarkeit Amnestien für bestimmte Taten vorsieht. Aber genau diese Spannung charakterisiert typischerweise einen Friedensprozess. Ein Friedensabkommen ist ein Kompromiss und es ist nie ideal. Es stellt meist eine Priorisierung des Friedens über den Anspruch einer umfassenden Strafverfolgung dar. Einen Versuch, dieser Schwierigkeit zu begegnen, stellt in solchen Fällen meist ein stärker opferzentriertes Gerechtigkeitskonzept dar: Die Frage, ob andere Maßnahmen, wie alternative Freiheitsstrafen, Reparationen und Entschädigungen für die Opfer oder öffentliche und individuelle Schuldeingeständnisse und Entschuldigungen, dem Gerechtigkeitsempfinden der Betroffenen entsprechen, ist aber wohl nicht grundsätzlich beantwortbar.

Das große Problem angesichts des Abstimmungsergebnisses ist, dass es keinen “Plan B” gibt: Weder die Befürworter und Hauptverantwortlichen für die JA- noch für die NEIN-Kampagne haben mit diesem Ergebnis gerechnet. Eine Nein-Kampagne durchzuführen, wenn man sich nicht für den Fall vorbereitet, dass man damit Erfolg haben könnte, halte ich für unfassbar verantwortungslos — insbesondere wenn die Konsequenzen eines solchen Ausgangs so weitreichend und gefährlich sein können. Die Fahrlässigkeit, überhaupt erst eine Volksabstimmung in solch einer Situation zu veranlassen, steht dem allerdings wohl in Nichts nach. Was also nun? Niemand, ganz gleich aus welchem Lager, hat eine konkrete inhaltliche Antwort darauf. Präsident Santos und Timoschenko haben sich als weiterhin verhandlungsbereit erklärt. Die Verhandlungen in Havana sollen wieder aufgenommen werden und vor allem sollen weitere politische Kräfte in den Prozess eingeschlossen werden, insbesondere die Gegner des Abkommens. Dass nun alle politischen Kräfte ins Boot geholt werden, wird von so manchen enttäuschten Befürwortern des Abkommens zumindest als ein positives Ergebnis des gestrigen Abends gesehen — zusätzlich zu der Leistung, dass zumindest ein demokratischer Abstimmungsprozess stattgefunden hat, dessen Ergebnis von allen politischen Akteuren akzeptiert worden ist. Ex-Präsident Uribe, der die NEIN-Kampagne geleitet hat, ist dem ersten gemeinsamen Treffen, zu dem der Präsident heute morgen eingeladen hat, allerdings fern geblieben. Nun kursieren verschiedene Alternativvorschläge, wie beispielsweise die Schaffung einer Verfassungsgebenden Versammlung (Ursprünglich sollte das 297-Seiten lange Friedensabkommen in die Verfassung aufgenommen werden). Auf jeden Fall werden wohl viele der zentralen Punkte des Abkommens (Landverteilung, politische Partizipation, Sondergerichtsbarkeit etc.) wieder neu diskutiert. Das wohl größte Problem ist dabei, dass die FARC seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens begonnen hat, sich in sog. Konzentrationszonen zu sammeln. Die Kämpfer werden kaum Willens und in der Lage sein, dort zu verharren und die Neuverhandlungen, die Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern können, abzuwarten. Die große Erleichterung, dass sowohl die Regierung als auch die Guerilla sich weiterhin gesprächsbereit zeigen, sollte nicht über die gefährliche Situation hinwegtäuschen, die durch eine kleine (Fehl)Entscheidung einer der verschiedenen Akteure eskalieren kann.

Jetzt heißt es also erst einmal Abwarten. Die nächsten Wochen werden entscheidend sein. Mit Glück wird es einen Elitenpakt 2.0 geben. Während 24 Stunden nach dem unvorhergesehenen Ereignis nur Spekulationen möglich sind, wird aber vermutlich in den nächsten Wochen schon deutlich werden, in welche Richtung dieser Weg führen wird.

Abgesehen von tiefer Betroffenheit und Bedauern über das Abstimmungsergebnis, bedeutet dies für meine persönliche Arbeit nun einerseits, dass ich in den nächsten Tagen oder Wochen wohl etwas in der Luft hängen werde. Bis wir wissen, wie es weitergeht. Oder es zumindest ein bisschen mehr wissen. Andererseits bedeutet es natürlich auch, einen sehr interessanten politischen und sozialen Prozess in diesem Land mitzuerleben. Natürlich wünschte ich, es wäre ein anderer Prozess, den ich hier erlebe: Der Umsetzungsprozess eines erfolgreich angenommenen Friedensabkommens. Dieser Prozess allein wäre schon schwierig genug gewesen. So viele Faktoren erschweren ohnehin die Umsetzung des Abkommens: Ehemalige Kämpfer müssten integriert werden und eine tatsächliche Einkommensalternative erhalten; das entstehende Machtvakuum würde sich auf kriminelle Banden und andere Guerillagruppen wie die ELN auswirken; und nicht zuletzt stellt die weitreichende Armut in einem der Länder mit der weltweit größten gesellschaftlichen Spaltung ein zentrales Problem dar. Nun wird das Land ganz anderen Herausforderungen gegenüberstehen. Wie genau diese sich gestalten, welches Ausmaß sie haben werden und vor allem, wie sie sich überwinden lassen, werden die nächsten Wochen zeigen. Sie werden zeigen, wie sehr der gestrige Abend das Land in diesem Prozess zurückgeworfen hat. Nach vier Jahren intensiver Verhandlungen und Mühen und angesichts der schmerzhaft enttäuschten Erwartung so vieler Betroffener auf ein Ende der Gewalt, verlangt dies nun eine hohe Frustrationstoleranz. Das ist wohl die eindrücklichste Erfahrung, die ich bisher in diesem Land gemacht habe: Wie Menschen, die vollkommen enttäuscht, traurig, wütend und frustriert sind und voller Skepsis und Bedenken auf die Zukunft blicken, sich nicht entmutigen lassen, den Optimismus und die Kraft wahren, um weiterzumachen, und niemals aufgeben.

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Stefan Barth

software developer (ABAP, SAPUI5); adventurer while sleeping; love games and philosophy