Volkssport

Stefan Barth
5 min readOct 10, 2016

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Wir haben eine weitere ereignisreiche Woche hinter uns gebracht und es ist schön zu merken, dass sich Kolumbien und aktuell Bogotá stetig weiter für uns öffnen.

Dazu gehören natürlich auch die politischen Entwicklungen, zu denen Thea Gutschke hier mehr schreibt. Ich konzentriere mich aber geflissentlich auf die lebensweltlichen Dinge, mit denen wir es hier zu tun haben und die trotz der geschichtsträchtigen Entwicklungen nicht ganz aus unserer Wahrnehmung rücken (sollen).

Es ist schön aber auch beängstigend, wie schnell man in einen “normalen” Alltagsrhythmus kommt, obwohl die Situation, die wir gerade (er)leben dürfen, sich von der vieler Leute unterscheidet, also eigentlich gar nicht normal ist. Trotzdem gehen wir unseren Routinen nach, haben geregelte Schlaf- und Arbeitszeiten und so weiter. Wir haben jetzt sogar eine Hündin. Also unser neuer AirBnB-Host hat eine und ich nutze die Gelegenheit um mich auf mein späteres Hundebesitzerleben vorzubereiten. Thea und ich teilen nun also nicht nur zum ersten mal einen Kleiderschrank, sondern auch unseren “Testhund” Lula. Aufregende Zeiten.

Lula in einer aktiveren Minute

Das Gassigehen bringt hier einige Vorteile mit sich, an die ich in Deutschland nicht denken würde. Gerade heute habe ich es genutzt um etwas aus der netten Wohngegend heraus zu kommen. Denn dass es auch in Laufweite wesentlich ärmere Wohnviertel gibt ist uns klar, aber während uns jeder zur Vorsicht rät und ich auch im Dunkeln diesen Weg wohl nicht gehen würde, hat man mit Hund an der Leine zum Einen einen ersichtlichen Grund, einfach irgendwo herum zu laufen und zum Zweiten kann man getrost seine Wertsachen daheim lassen, da man ja nur kurz draußen unterwegs ist. Zu guter Letzt hat man den Hund dabei. Ich habe zwar so meine Zweifel, wie sehr sich Lula zwischen mich und eventuelle Räuber stellen würde, aber wie lieb und kuschelbedürftig sie ist, wissen diese ja nicht.

In den kommenden Monaten werden wir sicher noch zu verschiedenen Zeitpunkten mehr Einblicke in die ungleichen Einkommens- und Lebensverhältnisse der Kolumbianer bekommen, was neben den teils katastrophalen baulichen Zuständen der Straßen natürlich der deutlichste Hinweis darauf ist, dass wir uns hier eben in einem Entwicklungsland befinden. Denn wie angedeutet kann man das in den Gegenden, in denen wir momentan wohnen, arbeiten und bisher ausgegangen sind, leicht vergessen. Daher ist es mir eine willkommene Abwechslung mit Lula meine Runden zu drehen und zu schauen, ab welchen Straßenecken man ein hohes Aufkommen von Militärpolizisten beobachten kann, die einflussreiche Leute schützen und wie weit das von den Ecken entfernt ist, wo ich bis auf weiteres nur tagsüber (und mit Hundegeleit) entlang laufe.

Stichwort Laufen. Den Samstagmorgen haben wir mit einer wunderschönen Wanderung verbracht. Nicht weit von unserer Wohnung kann man sich auf einen Pfad begeben, der einen direkt auf die Bergkämme um Bogotá bringt und dabei -im Vergleich zu anderen, ähnlichen Ausflugsmöglichkeiten, von denen wir gehört haben- sehr sicher ist. An mehreren Punkten über die Strecke der “Quebrada la vieja” verteilt stehen hier zwischen 5:00 morgens und 10:00 unter der Woche beziehungsweise 16:00 am Wochenende Polizisten und der Zutritt ist auch nur in dieser Zeit erlaubt. Hunde dürfen leider nicht rein, ein Mitarbeiter der zuständigen Organisation meinte auf Nachfrage, dass der Weg ja ohnehin schon sehr stark frequentiert ist.

Und das deckt sich mit unseren Eindrücken und Schilderungen von anderen, die uns zu einem frühen Aufbruch geraten hatten. Einige Verrückte joggen den gesamten Weg mit etwa 900 Höhenmetern schon vor dem Frühstück und auch wir hatten uns einen frühen Start vorgenommen. Wir sind noch vor 7:30 losgegangen, da kommen einem dann schon die ersten Leute wieder entgegen. Für meinen Geschmack etwas überambitioniert an einem Samstagmorgen, aber naja. Immerhin haben wir am Ende nur etwa 2 Stunden für die gesamte Tour benötigt und da es unsere erste sportliche Betätigung hier auf 2600m war sind wir zufrieden.

Noch zufriedener haben uns aber die tolle Natur, einige besondere Ausblicke und auch die frische Luft gemacht. Während man an den Hauptstraßen in der Stadt immer mit einer schwarzen Abgaswolke rechnen muss und ich daher schon das Luftanhalten in Lauerstellung praktiziere, merkt man leider die chronisch schlechte Luft gar nicht so sehr. Nach dem Abstieg und dem Wiedereindringen in den Abgasdunst und die vielen anderen, unangenehmen Gerüche, die Autos, Menschen und Tiere so zu bieten haben, fällt es aber deutlich auf und allein das ist für mich Grund genug, diesen Ausflug sicher noch einige Male zu wiederholen.

Neben der Vielfalt an Pflanzen war auch ein abwechslungsreiches Publikum unterwegs. Die Alterspanne derjenigen, die zumindest große Teile selbstständig gelaufen sind, war etwa 4–80 Jahre, denn darauf würde ich das kleinste Mädchen an der Hand ihres Vaters und einen alten Herren, den wir auf dem Weg nach oben überholt haben und der auf unserem Rückweg fast oben angekommen war, schätzen. Für ihn ist das dann also schon ein ganzer Tagesausflug und auch er sah, wenngleich angestrengt, doch sehr glücklich aus. Es grüßen nahezu alle Menschen, egal ob joggend oder spazierend, jung, alt, deutsch usw. sehr höflich; ein Zustand der einem ansonsten in so einer anonymen Großstadt auf offener Straße nicht begegnet. Der Ausflug hatte definitiv einen gewissen Volkssport-Charme, im absolut positiven Sinne.

Für uns sehr erheiternd war ein Moment, bei dem man aus dem saftigen Grün des urigen Waldes in einen Abschnitt kommt, der nur aus Nadelbäumen besteht. Das scheint für die Einheimischen etwas Besonderes zu sein, denn hier entstanden gefühlt die meisten Selfies und es wurde gepicknickt und Yoga bzw. autogenes Training gemacht. Leicht skurril für nadelholzverwöhnte Mitteleuropäer.

Nach dieser sehr erfrischenden Tour haben wir noch mehr Lust die abwechslungsreiche Natur Kolumbiens zu erkunden. Von den Stränden der Karibikküste über verschiedene Nationalparks bis zum Amazonasgebiet bietet das Land eine der höchsten Biodiversitäten der Welt, was wir unbedingt nutzen wollen. Für den Moment bin ich aber schon sehr froh diesen Quell frischer Luft gefunden zu haben.

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Stefan Barth

software developer (ABAP, SAPUI5); adventurer while sleeping; love games and philosophy